«Feinde wie wir»
Von Felix Stephan
Geschichte einer Versöhnung: Die Belgier Simon Gronowski und Koenraad Tinel waren Kinder im Zweiten Weltkrieg: der eine Jude, dessen Familie umgebracht wurde, der andere der Sohn eines überzeugten Nazis. Jahrzehnte später entdecken sie, wie nah sich ihre Lebenswege kamen, und richten eine emphatische Botschaft an Europa.
Im September sitzen die beiden Belgier Koenraad Tinel und Simon Gronowski in einem West-Berliner Restaurant und lassen das Dessert aus. Sie haben ihren Auftritt beim Internationalen Literaturfestival Berlin hinter sich, jetzt sind sie müde und glücklich und nicken sich schläfrig zu. Um sie herum reden alle dieses französisch-englisch-deutsche EU-Kauderwelsch. Europa habe nur eine gemeinsame Sprache, hat Umberto Eco einmal geschrieben: die Übersetzung.
Diese Geschichte beginnt in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts: Koenraad Tinel kommt als jüngster von drei Brüdern im flämischen Teil Belgiens in Gent zu Welt. Der Vater, ein Bildhauer, ist hochdekoriert aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt und verehrt Adolf Hitler. Als deutsche Panzer in Belgien einrollen, schwebt die Familie im siebten Himmel. Die Söhne kleben Propaganda-Plakate an die Häuserwände ihrer Stadt, der Vater lädt deutsche Soldaten zu Klavierabenden ins eigene Haus und zeigt ihnen die selbstgeschnitzte Hitler-Büste.
Der älteste Sohn tritt in die Waffen-SS ein und kämpft fortan in Russland, der mittlere bewacht als Mitglied der Sicherheitspolizei die belgischen Deportationslager in Breendonk und Mechelen. Koenraad selbst spielt Soldat, indem er draußen im Regen Wache hält und auch dann nicht weicht, wenn die Mutter zum Essen ruft. Als die Amerikaner in der Normandie landen und in Gent wieder Leute ungeschoren die Farben der Trikolore am Revers tragen, flüchtet die Familie in ein Dorf im Thüringer Wald.
Koenraad ist jetzt zehn Jahre alt und ein glückliches Kind: Er sammelt Tannenzapfen, geht mit seinem Vater auf Hasenjagd und rodelt mit den Kindern des Dorfes die Thüringer Abhänge herunter. Nebenbei verdient er sich etwas Brot, indem er den Hof eines örtlichen Bauern zeichnet. Er hat das künstlerische Talent des Vaters geerbt. Sein ältester Bruder verteidigt währenddessen als Mitglied der «Division Nordland» in Berlin den Führerbunker und verliert dabei ein Bein.
Siebzig Jahre später blickt Koenraad Tinel auf ein Leben als erfolgreicher Künstler zurück. Am heimischen Küchentisch erzählt er so häufig von seiner Kindheit im Thüringer Wald, dass ihm seine Familie vorschlägt, die Geschichten doch lieber in einem Buch zu erzählen. Im Jahr 2009 erscheint es tatsächlich. Auch im flämischen Original trägt es den deutschen Titel «Scheisseimer» – nach der improvisierten Toilette, die er in Deutschland so oft benutzt hat, als alles knapp war.
Als Tinel das Buch auf dem «Vrijheidsfestival» in Brüssel vorstellt, sitzt der 16-jährige frankophone belgische Schüler Sacha Rangoni im Publikum und erinnert sich an ein ähnliches Buch, das er kurz zuvor gelesen hatte: «L’enfant du 20ème convoi» von Simon Gronowski – die Autobiografie eines belgischen Juden, der als Junge aus einem Deportationszug geflohen ist. Nach der Lesung ruft der Schüler bei Gronowski an, stellt sich höflich vor und fragt, ob er Interesse habe, den Sohn eines Nazis zu treffen. Gronowski kennt weder Koenraad Tinel noch den Jungen am Telefon, sagt aber zu.
Simon Gronowski wurde 1931 als Sohn eines polnischen Juden in Brüssel geboren, wo er bis heute lebt. 1943 wird die Familie denunziert. Von wem, findet Simon Gronowski nie heraus. Der Vater ist gerade zufällig im Krankenhaus, als die Gestapo in der Tür steht. Die Mutter erklärt den Deutschen, er sei tot, und rettet ihm so das Leben. Der kleine Simon wird mit seiner Mutter und seiner Schwester in das Deportationslager Mechelen gebracht, in dem Koenraad Tinels Bruder zu der Zeit als Wärter arbeitet. Nicht unwahrscheinlich, dass auch er die Gronowskis zu dem Zug begleitet, der sie wenige Wochen später nach Auschwitz bringen soll. In dieser späten Kriegsphase setzen die Nationalsozialisten bereits Viehwagen für den Abtransport der Juden ein.
Wenige Kilometer weiter östlich kommt es zu einem Zwischenfall: Drei belgische Widerstandskämpfer zwingen den Zug zwischen den Dörfern Boortmeerbeek und Haacht zum Anhalten, reißen die Türen der Waggons auf und befreien auf diese Weise 17 Juden. Der Waggon der Gronowskis bleibt zwar unberührt, aber weil die Soldaten für einen Moment abgelenkt sind, gelingt es auch ihnen, die Tür ihres Waggons öffnen. Der Zug ist bereits wieder unterwegs, als Simons Mutter ihren Sohn zur Tür schiebt und ihn auffordert zu springen. Sie sieht, dass er Angst hat, und sagt auf Jiddisch die letzten Worte, die Simon von seiner Mutter hören wird: «Der tsug geit tsu schnel.» Als der Zug fast steht, springt Simon raus. Bevor ihm die Mutter folgen kann, schießen die deutschen Soldaten in ihre Richtung. Simon Gronowskis Mutter und seine Schwester werden in Auschwitz vergast.
Der Überfall war der einzige seiner Art im Zweiten Weltkrieg, der «20. Konvoi» wurde in Belgien zu einem Symbol des Widerstandes. Heute erinnert ein Denkmal am Originalschauplatz an den Partisanenangriff. Die Angreifer konnten entkommen. Jahrzehnte später trifft Gronowski einen von ihnen und erlebt ihn als schüchternen, eindrucksvollen Mann.
Simon Gronowski ist jetzt elf Jahre alt und befindet sich orientierungslos und ohne Begleitung irgendwo auf dem Land. Doch an diesem Tag hat er Glück: Er wird von Dorfbewohnern aufgelesen, die ihn zwar als einen der geflohenen Juden erkennen, aber nicht denunzieren. Stattdessen sorgen sie dafür, dass er zurück zu seinem Vater nach Brüssel kommt. Als der kurz nach dem Krieg vor Kummer stirbt, hat Simon im Alter von vierzehn Jahren keine lebenden Verwandten mehr. Um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, vermietet er das Haus der Familie. Er studiert Jura, heiratet, bekommt Kinder und arbeitet erfolgreich als Anwalt. Im Jahr 2001 veröffentlicht er seine Memoiren.
Und ein weiteres Jahrzehnt später, als auch Koenraad Tinels Lebenserinnerungen erschienen sind, klingelt plötzlich sein Telefon, und ein gewisser Sacha Rangoni ist dran. Dass erst ein 16-Jähriger auf die Idee gekommen ist, die beiden miteinander bekannt zu machen, erzählt viel über dieses tief gespaltene Land, in dem Flamen und Wallonen kaum Notiz voneinander nehmen und einzig in ihren Vorbehalten gegenüber der kosmopolitischen Hauptstadt Brüssel verbunden sind.
Als sich der Bildhauer Koenraad Tinel und der Anwalt Simon Gronowski im Februar 2012 zum ersten Mal treffen, hat es sofort Klick gemacht. So erzählen sie es heute. Und so wird es wohl gewesen sein. Sofort seien sie beste Freunde gewesen. Simon gesteht Koenraad zu, dass er keine Verantwortung für die Verbrechen seiner Brüder trage, obwohl er dieselben Verbrechen wohl auch begangen hätte, wenn er ein paar Jahre älter gewesen wäre, und fortan sprechen sie einander mit «frère» an, Bruder. Sie entwickeln die Idee, gemeinsam ein Buch über ihre unwahrscheinliche Freundschaft zu schreiben.
Sie sind jetzt beide über achtzig, und sie haben eine Botschaft. An ihre Landsleute, an die Mächtigen, an die jungen Europäer. Diese Botschaft lautet: Sobald man Menschen in Gruppen einteilt und diesen Gruppen bestimmte Eigenschaften zuschreibt, legt man den Nährboden für die Konflikte der Zukunft. Wenn die europäischen Juden also auf ihrer Opferrolle bestehen, so Simon Gronowski, machen sie sich gegenüber den kommenden Generationen selbst schuldig. Um einen möglichst substanziellen Frieden zu stiften, gelte es, den Opfer-Täter-Dualismus hinter sich zu lassen und sich als freie Individuen zu umarmen.
Im Frühling 2013 erscheint ihr gemeinsames Buch, es trägt den Titel «Ni victime ni coupable enfin libérés» («Weder Opfer, noch schuldig, endlich frei»). Die Illustrationen stammen von Koenraad Tinel, der Text von Simon Gronowski. David Van Reybrouck, Belgiens bekanntester Historiker, schreibt das Nachwort. Seitdem hagelt es Einladungen: Die beiden halten Vorträge an Universitäten, lesen auf den größten Literaturfestivals des Kontinents und schreiben Gastbeiträge für führende europäische Zeitungen. Und sie nehmen jede Einladung an: Koenraad Tinel diskutiert in Brüssel mit dem buddhistischen Mönch Matthieu Ricard über die Kraft der Vergebung, Simon Gronowski verteidigt sich in der französischen Tageszeitung «Le Monde» gegen orthodoxe Organisationen, die ihm vorwerfen, die eigenen Leute zu verraten.
Ähnlich wie der ehemalige französische Resistance-Kämpfer Stéphane Hessel, der sich vor drei Jahren mit seinem Essay «Empört euch!» an die Jugend Europas gewandt und sie zu Partizipation und Selbstbestimmung aufgerufen hat, treten jetzt wieder zwei Weltkriegsüberlebende als Mahner an die Öffentlichkeit, und auch sie treffen einen Nerv. In Belgien ist ihre Geschichte längst zu einer nationalen Angelegenheit herangewachsen, eine Art Therapie für das nationale Bewusstsein.
Vielleicht muss man dieses Brüderlichkeitspathos vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Entwicklung betrachten, welche die Philosophin Juliane Rebentisch in ihrem 2011 erschienenen Band «Die Kunst der Freiheit» formuliert hat: Weil der ökonomische Druck zur permanenten Selbstveränderung in allen Bereichen des Lebens zunehme, heißt es dort, gebe es eine starke Sehnsucht nach Ordnung und Stabilität. Je unübersichtlicher die Welt erscheint, desto stärker wird die Wunsch nach Verlässlichkeit.
Eine gewisse Instabilität wohnt der Demokratie jedoch stets inne, weshalb derzeit überall in Europa Bewegungen erstarken, die außerparlamentarisch Halt versprechen: die faschistische Partei Goldene Morgenröte in Griechenland, der europäisch-konservative Regionalismus von Wales bis Katalonien, die religiöse Partikularisierung. Das «Erstarken islamischer wie christlicher Fundamentalismen in den Zentren der westlichen Demokratien», so Rebentisch, sei «nicht zuletzt als ein Symptom postdemokratischer Tendenzen zu deuten».
Diesen Fundamentalismen stellen Simon Gronowski und Koenraad Tinel nun ihren Versöhnungsgospel entgegen. Ihre persönliche Geschichte macht sie einer politischen Programmatik unverdächtig, ihre Botschaft ist universal: Wer Frieden will, muss in seinem Gegenüber sich selbst erkennen – eine Geste, für die traditionell geistliche Autoritäten zuständig wären. Weil die aber merkwürdig still bleiben, schreiben derzeit ein frankophoner jüdischer Anwalt und ein flämischer Künstler aus einem katholisch-faschistischem Elternhaus, die das vordemokratische Europa noch erlebt haben, ein neues Kapitel der kollektiven Holocaust-Aufarbeitung. Die Wahrscheinlichkeit ist recht groß, dass es das Letzte sein könnte, das die Generation der Zeitzeugen selbst formuliert.
Simon Gronowski, Koenraad Tinel und David Van Reybrouck: Ni victime ni coupable, enfin libérés. Renaissance du Livre, Waterloo. 144 S., 17,14 €.