«IMMERSION im Bereich der Künste, Technologie, Ökologie und Gesellschaft»

Gespräch mit Nancy Pettinicchio.

Diese Folge von «The big Ponder» stammt von der Filmemacherin und Podcasterin Nancy Pettinicchio aus Montreal. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit feministischen und queeren Perspektiven. Weitere Informationen dazu sind auf ihrer Website zu finden. Für diese Folge spricht Nancy mit François GriséZeesy Powers und Thomas Oberender über ihre Arbeit. Die Musik für diese Folge stammt von Blue Dot Sessions. Immersive Kunstwerke überwinden die Grenzen zwischen Künstler und Betrachter. Durch ihre besondere Dynamik lassen sie ihre Betrachter vollständig in die Kunst eintauchen. Nancy Pettinicchio möchte herausfinden, wie man immersive Kunst erschafft. (goethe.de/bigponder)

«Immersion»

Nancy Pettinicchio: Willkommen, mein Name ist Nancy Pettinicchio, und ich bin Ihr Gastgeber für diese Folge. Ich hatte die Gelegenheit, mit Dr. Thomas Oberender zu sprechen. Thomas kommt aus dem Theater. Er hat als Dramaturg und Autor gearbeitet und sich mit den Überschneidungen zwischen Theater, anderen Kunstpraktiken und der Gesellschaft beschäftigt. Seit Jahren stellt er Fragen zum Thema «Immersion». Wie hat sich Ihre gleichnamige Programmreihe von ihren Anfängen 2016 bis heute entwickelt?

Thomas Oberender: In der deutschen Sprache gibt es keinen gleichwertigen Begriff für Immersion, wie er im englischen Sprachraum existiert. Vor fünf, sechs Jahren wurde hierzulande der Begriff ‘Immersion’ nur von einigen Medientheoretikern verwendet und in der Alltagssprache kam er nicht vor. Wenn man im Englischen sagt, dass etwas ‘immersiv’ ist, heißt das nicht, dass es etwas mit Kunst zu tun haben muss, sondern das Wort beschreibt vor allem das Gefühl, mit etwas intensiv verbunden zu sein oder in etwas einzutauchen. Im Deutschen haben wir diese Art von Wort nicht. Vielleicht verwenden wir in solchen Fällen das Wort ‘eindringlich’, aber der Bedeutungshof ist im Englischen viel weiter. Immersion als Begriff wurde in Deutschland erst in den 90er Jahren bekannt - vor allem dank der zunehmenden Aufmerksamkeit für die neuen Medien. Aber es blieb doch eher ein akademischer Begriff.

Nancy Pettinicchio: Können Sie mir sagen, wie Sie feststellen, ob ein Kunstwerk immersiv ist? Wie können Sie feststellen, ob es in das Immersionsprogramm passt?

Thomas Oberender: Die traditionelle Struktur des Westens, etwas auszustellen, ist, etwas zu extrahieren. Man löst eine Sache aus ihrer Umgebung, heraus, beispielsweise aus einer Kirche, einer archäologischen Fundstelle, einem Gebäude oder  einem Verwendungszusammenhang, und präsentiert sie im Museum als Sache für sich. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden dafür diese laborartigen Räume mit weißen Wänden und opakem LIcht, wo wir diese Artefakte an einer Wand hängen sehen oder hinter Glas liegend in einer Vitrine. Die Besucher*innen stehen in diesen Ausstellungen schweigend und studierend dem Objekt gegenüber, und haben gerade durch diese Ruhe und Distanz das Gefühl, in dieser Begegnung ein souveränes Subjekt zu sein, denn man ist frei, seine Perspektive selbst zu wählen und die Sache frei zu kontextualisieren, usw. Wir halten diese Situation für liberal und erkenntnisfördernd und organisieren sie seit gut 150 Jahren in den dafür geschaffenen Häusern nahezu überall auf die gleiche Weise. Als Betrachter*in von Ausstellungen begeben wir uns also in eine Situation, die uns kaum etwas vorschreibt, sondern uns als freies Individuum inszeniert, das seine eigenen Ansichten von der Welt entwickelt. Im Museum geht es vor allem um einen freien Raum - in ihm kann ich mich als ein Individuum frei bewegen, meist alleine, und meinen eigenen Weg nehmen, in meinem eigenen Tempo. In der Welt des Theaters ist das ganz anders - hier gibt das Geschehen auf der Bühne die Zeit vor, ich bin Teil eines Kollektivkörpers, meine Aufmerksamheit wird auf die Bühne fokusiert, es gibt kein Entkommen. Die Erfahrung des Publikums ist im Theater ist also zeitbasiert, durch das Stück und Dispositiv Theater vorgegeben. Vor einigen Jahren haben wir nun damit begonnen, Ausstellungen zu konzipieren, die wie Theaterproduktionen zeitbasiert sind. Es gibt nach wie vor Öffnungszeiten, aber innerhalb der Ausstellung gibt es auch Anfangszeiten - ich muss zu bestimmten Zeiten da sein und werde plötzlich nicht nur gesehen, nicht nur als Gast wahrgenommen und vielleicht sogar begrüßt, sondern ich werde auch Teil einer Gruppe. Das kennt man in Ausstellungen sonst eigentlich nur in den Momenten einer Gruppenführung. In einer solchen Ausstellung werde ich sporadisch also immer mal wieder Teil von etwas, ich nehme an Situationen teil, die mich einschließen. Das Kunstwerk ist nicht das Objekt an der Wand. Das Kunstwerk ist die Ausstellung, die dich einschließt. Ein solches Ausstellungskonzept ist logistisch und technisch sehr kompliziert, aber es ist gleichzeitig magisch, weil man das Gefühl hat, wow, das ist ein Organismus. Es lebt, und ich bin ein Teil dieses Lebens.

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Mehr zu einer anderen Konzeption und Praxis des Formats ‘Ausstellung’ in: Thomas Oberender / Paul Rabe (Hg.): «Die lebendige Ausstellung», Spector Verlag, Leipzig 2022