«Das Lächeln der Sphinx»
Ein Managergespräch zwischen Dirk Baecker, Thomas Oberender und Bernhard Krusche
Bernhard Krusche: Meine Herren, lassen Sie mich zu Beginn unseres Gesprächs kurz in Erinnerung rufen, was die ursprüngliche Idee dieser Gesprächsreihe war. Am Anfang stand die Einsicht, dass die Frage der Steuerung komplexer Organisationen zu den zentralen Herausforderungen einer Next Society zählt. Mit der Erosion heroischer Steuerungsmodelle ging und geht eine gewisse Sprachlosigkeit einher: Auf der einen Seite suchen Manager händeringend nach praktischen Lösungen für den Umgang mit komplexen Fragestellungen, die sich einem instruktiven Zugriff konsequent entziehen. Und auf der anderen Seite gibt es eine kluge Forschung, die sich genau diesen Fragen widmet, ohne jedoch Gehör zu finden bei jenen, die am meisten von den Antworten profitieren könnten. Dieses Gap lädt geradezu ein, neugierig nachzufragen und kluge Menschen von hüben wie drüben miteinander ins Gespräch zu bringen.
Dirk Baecker: Für diese Fragestellung bist du, Thomas, allerdings ein eher untypischer Kandidat. Wir haben uns vorgenommen, mit Managern ins Gespräch zu kommen, von denen wir annehmen, dass sie für die Intelligenz ihres Handelns nicht die passende Sprache haben. Sie reden von der Einheit und den Zielen der Organisation, agieren jedoch hochgradig differentiell und variabel in ihren Mitteln und Zielen. Wir versuchen mit systemtheoretischen Ansätzen, eine wissenschaftliche Sprache zu entwickeln, die dieser Intelligenz auf die Spur kommt. Wir haben ein Nachholbedürfnis der Theorie gegenüber der Intelligenz der Praxis. Du jedoch bist als Intendant der Berliner Festspiele nicht nur ein Macher in diesem Sinne, sondern zugleich ein Intellektueller in einer Managementposition.
Thomas Oberender: Ich fühle mich geschmeichelt. Das hört sich für mich nach einem typischen Fußball-Problem an: alles geniale Spieler, aber vor der Kamera spricht keiner klug.
Dirk Baecker: Trotzdem werden sie immer wieder vor die Kamera geholt. Man kann sich fragen, was damit erreicht werden soll.
Bernhard Krusche: Gentlemen, darf ich zur Sache bitten? Ich würde unser Gespräch gern auf das Thema Management lenken. Herr Oberender, darf ich fragen, was Sie von einem Herrn Mehdorn unterscheidet?
Thomas Oberender: Die Mittel.
Bernhard Krusche: Sonst nichts?
Thomas Oberender: Nun, um im Baecker’schen Jargon zu sprechen: Ich habe das Gefühl, Herr Mehdorn ist ein heroischer Manager. Mit Blick auf seine aktuelle Aufgabe beim Neubau des Berliner Flughafens ein Held fast schon tragischen Formats. Die Aufgabe, die ich habe, ist keine Management-Aufgabe im prioritären Sinne. Ich habe das Privileg, nicht in erster Hinsicht auf Rentabilität hin wirtschaften zu müssen. Mein Produkt ist Bedeutung, um das mal so zu sagen. Ich bin – was kein Manager von sich sagen kann – auf eine bestimmte Weise dem Markt entzogen, jedenfalls dem reinen Markt der Abendkasse.
Es gibt ja, so habe ich das von meinem ersten Intendanten gelernt, in der Kunstwelt immer zwei Märkte. Das eine ist der Verkaufsmarkt, also die reale Quote im Auslastungs- und Einnahmebereich. Und das zweite ist der Bedeutungsmarkt. Ich bin davon überzeugt, dass ein erfolgreiches Management beide Märkte verbinden muss. Es reicht nicht, wenn man an der Abendkasse erfolgreich arbeitet, die Leute aber das Gefühl haben, sie wären um die Bedeutung betrogen worden. Etwa in dem sie unsere Arbeit im Kontext unseres Ortes als zu leichtgewichtig wahrnehmen, zu oberflächlich, Qualität ist da auch nur ein relativer Maßstab, den die finden Sie im Zirkus oder Varieté auch. Und umgekehrt reicht es leider auch nicht, wenn man vom Feuilleton gefeiert wird, aber der Saal bleibt leer. Das gilt übrigens innerhalb des Hauses: Die eigenen Mitarbeiter laufen davon, wenn sie gute Kritiken in der Zeitung lesen, aber kein Publikum da ist, und sie suchen genauso das Weite, wenn der Sall zwar immer ausverkauft ist, aber ihre Arbeit keine Form von Vergrößerung über den Ort hinaus erfährt.
Dirk Baecker: Du hast es offenbar mit drei Unruheherden zu tun, mit dem Feuilleton, das die Besprechungen liefert, mit der Abendkasse, die entweder stimmt oder nicht stimmt, und mit den Mitarbeitern, die das, was sie in diesem Haus tun, entweder verstehen oder nicht verstehen. Diese drei Unruheherde versuchst du jeweils auf ihre möglichen Signale und die Brauchbarkeit dieser Signale hin zu beobachten?
Thomas Oberender: Wenn man das so nimmt, dann habe ich vier Unruheherde. Der vierte ist die Politik. Das ist eine indirekte ökonomische Kraft, die letztlich für die größte Veränderung im Markt sorgt, wenn man über unsere kulturpolitische Landschaft überhaupt in diesen Begriffen sprechen möchte. Aber interessanter Weise hat ja die Politik diese Denkweise in den Schröder-Jahren selbst eingeführt. Die großen Deregulierungen dieser Jahre haben den Sozialstaat und die Kulturpolitik entsichert und der ökonomischen Logik unterstellt. Die gewohnheitsmäßige Förderung von Institutionen wurde abgelöst vom Leitbild der Projektförderung. Die Finanzierung der künstlerischen Arbeit orientiert sich seither an messbaren Kriterien. An die Stelle einer pauschalen Grundversorgung tritt die Bewährungsprobe – jeder einzelne Schritt der künstlerischen Arbeit muss sich den geldgebenden Gremien gegenüber verantworten. Der Charakter unserer Kulturinstitutionen hat sich in den letzten 25 Jahren vollkommen verändert, obwohl sie von außen aussehen wie immer.
Dirk Baecker: Kannst du die Anteile der Projektförderung und des grundständigen Budgets beziffern?
Thomas Oberender: Das Gesamtbudget besteht über der Hälfte aus Projektmitteln.
Dirk Baecker: Und das war früher anders?
Thomas Oberender: Ja, das war früher anders. Vor einiger Zeit wurde eine seit fünfzig Jahren renommierte Institution wie das Berliner Theatertreffen der Berliner Festspiele outgesourct und der Projektförderung durch die Kulturstiftung des Bundes unterstellt. Ein Ausstellungshaus wie unser Martin Gropius Bau erhält eine Projektförderung, die jährlich verlängert wird und in der Zuwendungshöhe unter den Betriebskosten liegt. Das nenne ich die Prekarisierung von Institutionen. Auf individueller Ebene hat man sich fast schon daran gewöhnt, jetzt erreicht sie die Institutionen. Und ich glaube, das ist in einer ganz traurigen Weise das Modell der Zukunft.
Dirk Baecker: Auch die Ensembles und die Mitarbeiter im Hause sind von dieser Neoliberalisierung deines Arbeitsumfelds betroffen?
Thomas Oberender: Natürlich – Verträge werden fast nur noch befristet geschlossen, die Mitarbeiter haben dementsprechend Probleme, wenn sie eine Wohnung anmieten oder einen Kredit aufnehmen wollen, ihr Arbeitsvertrag jedoch nur für ein Jahr gilt. Gleichzeitig versuchen die über Jahrzehnte in den Notstand gesparten Institutionen sich Entlastung über zusätzliche Einnahmen zu verschaffen, also Gelder, die sie für Projekte aquirieren können. Die gesamte Idee der Projektförderung läuft allerdings darauf hinaus, dass die Gelder nahezu rückstandslos nicht in Institutionen, sondern zu den Produzenten fließen sollen. Das heißt, dass institutionelle Kosten, also z.B. Verwaltungskosten, eigentlich von diesen Geldern nicht zu bestreiten sind. Wir kommen dadurch in eine paradoxe Situation – wie soll ich sagen, eine rechtliche Grauzone. Je mehr die traditionellen Institutionen prekarisiert werden – und dazu zähle ich mittlerweile auch einige große Staats- und Stadttheater, Opern- und Konzerthäuser – desto mehr sind sie auf projektbezogene Drittmittel angewiesen. Das Deutsche Theater etwa könnte keine Autorentheatertage veranstalten ohne Drittmittel. Es gäbe kein F.I.N.D-Festival an der Schaubühne ohne Drittmittel. Es gäbe kein Gob Squad an der Komischen Oper, es gäbe kein Robert Wilson am Berliner Ensemble. Das alles sind inzwischen, wie soll ich sagen, besondere Erfreulichkeiten, die im regulären Fördermodus nicht mehr finanzierbar wären. Die werden von Fall zu Fall gewährt oder finden eben nicht statt. Das renommierte Haus der Kulturen der Welt ist inzwischen eine reine Projektmitteleinrichtung, so wie auch das HAU. Es gibt dort eine Basisfinanzierung für die Infrastruktur und minimale künstlerische Budgets, die aber in der Regel dem Eigenkapitalanteil bei Antragskunstprojekten entsprechen. Der Spielplan der präsentierten Produktionen wird aus anderen Quellen finanziert – den Mitteln der Fonds und Stiftungen, die international und national ein dynamisches Produktionsnetzwerk bilden. Was hier entsteht, entsteht auf Antrag und durch den Beschluss einer Jury. Nie in den letzten dreißig Jahren hatte Politik mehr Macht.
Dirk Baecker: Und weniger zugleich. Man ist auf diese Anträge angewiesen, man ist auf die Abstimmung zwischen den Häusern und den Gruppen angewiesen, man kann nur kurzfristig von Monat zu Monat entscheiden.
Thomas Oberender: Ja, aber wie beim Autobau funktioniert Kulturpolitik im Grunde inzwischen auch just in time. Aus dem Blickwinkel der Institutionen werden die Programme immer anlassbezogener, immer kurzfristiger, immer auf eine Eventbegründung hin angelegt. Gesamtgesellschaftlich entspricht dies dem Übergang von einer Kultur der Feier in eine des Fests: Die traditionellen Institutionen der Feierlichkeit, der Feierstunden, Feiertage, der Feierabende in Philharmoniekonzerten und dem Ritus der Eucharestie werden abgelöst durch eine Kultur des Events, der rauschenden Feste, Raves und Partys, der Festivals und Ralleys. Unsere Gesellschaft hat sich entsichert, verflüssigt und erlebt sich heutzutage stärker in temporären Zusammenschlüssen oder Gemeinschaften, die sich um Events herum konstituieren. Institutionen wie das HAU sind dann die Zustandserhitzer dieser Milieus; sie sind Anlaßgeber für das Selbsterlebnis eines Kollektivs auf Zeit. Es ist wie bei der Frage, ob die Henne oder das Ei zuerst da war. Ich könnte nicht entscheiden, ob dieser Umbau sowohl der Förderinstitutionen wie auch der geförderten Einrichtungen den wirtschaftlichen und psychomentalen Prozessen folgt oder sie hervorbringt. Aber dieser dramatische Umbau wird sich fortsetzen und das Gesetz der Schuldenbremse wird die Kulturrevolution Bundes- und Länderebene radikalisieren. Wenn die Schuldenbremse greift, wird die Lokalpolitk auf die Hilfe des Bundes angewiesen sein. Nach welchen Kriterien treten die Länder dann ihre Landeshoheit ab? Die Schuldenbremse wird eine neue Föderalismusdebatte lostreten. Wer übernimmt welche Aufgaben der Kulturproduktion? Und für die Aufgaben, für die der Bund dann zuständig sein wird, wird es Mittel brauchen, die im Wesentlichen Mittel aus Umverlagerungen sind und also die Systemfrage stellen. Ich denke, dass der Etatanteil für Kultur im Bundeshaushalt von 0.4 Prozent auf 4 Prozent wachsen muss. Und das ist unsere Aufgabe: diesen schleichenden gesellschaftlichen Prozess bewusst und damit planbar und diskutabel zu machen. Denn die wirkliche Kulturpolitik machen die Haushälter, und zwar hinter 1000 Schleiern. Kulturpolitik hat ihren planerischen Anspruch parteienübergreifend aufgegeben, bzw. agiert selber nur noch im Sinne eines Projektmanagements, also mit temporären Schwerpunktsetzungen für die neuen Stiftungen und Fonds.
Dirk Baecker: Du bist ein Mann des Theaters. Du hast deine politische Sensibilität und vermutlich auch einen Sinn für nicht nur für die Dramatik, sondern auch die Dramaturgie der Prozesse, die du beschreibst. Und als Intendant hast du in diesem Drama selber eine Rolle und gleichzeitig nur bestimmte Freiräume, die du nutzen kannst, um das Drama auch zu thematisieren. Ich kann mir vorstellen, dass dir diese Flexibilisierung der Projektsteuerungs- und Projektentwurfsmöglichkeiten an der einen oder anderen Stelle durchaus auch entgegen kommt.
Thomas Oberender: Nein, das sehe ich vollkommen anders. Erstens: an der Stelle, an der ich jetzt arbeite, bin ich so etwas wie ein Rundfunkintendant. Meine Aufgabe besteht also darin, verschiedene Sender auf der Höhe der Zeit zu halten – dafür muss ich eine Idee von unseren Programminhalten formulieren und die notwendigen strukturellen Schlüsse daraus ziehen. Die Berliner Festspiele betreiben zwei Häuser in dieser Stadt: eine Ausstellungshalle und eine Festspielhaus. Meine Aufgabe als Chef ist es, diese Pluralität in ein gemeinsames Wir-Gefühl zu bringen und es nach außen zu transportieren. Zu 60 Prozent ist das eine Frage von Personalentscheidungen: Ich suche die Leute, von denen ich glaube, dass sie die Idee, die mir vorschwebt, zu Programmen werden lassen. Und will natürlich von ihren Ideen lernen. Ich sehe jedoch meine Aufgabe nicht darin, ein Gesellschaftsmodell so zu dramatisieren, wie das etwa Claus Peymann macht.
Dirk Baecker: Was ja durchaus auch seinen Charme hat…
Thomas Oberender: Natürlich erzeugt das Polemik. Aber hat dieses Krawallschlagen noch echte Erkenntniswerte? Ich will doch die Gegenwart, das Wunder ihrer Konflikte und Erfindungen, begreifen und nicht gegen sie anzetern. Das Abenteuer ist doch viel größer, wenn wir experimentieren und auf das Überraschende und Flüchtige achten, die Funktionsverweigerung. Wir stehen den Verhältnissen doch nicht mehr in voller Einsichtsgröße gegenüber, sondern in ihnen und also spielerisch, selbstreflexiv, der eigenen Lüge bewusst. Ich suche nach anderen gesellschaftlichen Beschreibungs-, aber auch Widerstandsmodellen. Die Existenzweise wirklicher Künstler ist da immer ein gutes Beispiel. In vielerlei Hinsicht – sie ist kompromisslos und solidarisch, exzessiv und sparsam, reich und zugleich oft arm, eben eigengesetzlich. Diesen schwer beschreibbaren Wert der Kunst, auch als Lebensweise, versuche ich zur Aura der Institution zu machen.
Dirk Baecker: Das klingt nach einem im Ansatz verlorenen Spiel. Du arbeitest an der Aura der Institution in Zeiten, in denen die Institutionen abgebaut werden?
Thomas Oberender: Nein, eben nicht. Institutionen werden nicht abgebaut. Sie verwandeln ihr Gesicht, sie pluralisieren ihre Erscheinungsformen. Es entsteht wie gesagt gerade ein neuer Typ von Institution, der noch keine wirkliche Lobby hat ,der eher ein Abfallprodukt der Kulturpolitik ist, ihr Sparprodukt, das nur noch basisgefördert ist und alles, was hier gezeigt wird, durch Drittmittel und Kartenverkäufe finanziert. Aber eben nicht mehr selbst hervorbringt wie das noch unsere Repertoirebetriebe täglich machen. Nimm den Martin-Gropius-Bau – die staatliche Zuwendung deckt noch nicht mal seine Betriebskosten. Der Rest wird eingeworben oder an der Abendkasse verdient. Das ist die Institution neuen Typs, die neben die klassischen Modelle tritt. Die Spielregeln des Produzierens haben sich komplett geändert. Und meine Geschicklichkeit muss darin liegen, diese neuen Spielregeln zu erkennen und meine Struktur daraufhin zu optimieren. Das heißt die Berliner Festspiele sowohl durch Personalentscheidungen wie auch in der politischen und öffentlichen Wahrnehmung so zu positionieren, dass dadurch ein für unser Haus gemeinsamer Traum von Kunst, von Kunstempfinden erlebbar wird. Ich möchte also - wie ein Rundfunkintendant – über diverse Sender einen bestimmten Geist vervielfältigen.
Dirk Baecker: Das Rollenmodell dafür wäre jemand wie Matthias Lilienthal, der ehemalige Leiter des HAU, des Hebbel Theaters am Ufer, oder? Es geht also nicht darum, tolle Sprüche für das Mikrofon zu finden, sondern darum, auf der Straße unterwegs zu sein, nach diesen Verdichtungszusammenhängen zu suchen und die Sprache zu finden, dies antragsfähig zu machen?
Thomas Oberender: Genau. Matthias Lilienthals Arbeit besteht aus 30 Prozent kuratorischer Intelligenz, 60 Prozent lobbyistischer Ruhlosigkeit und 10 Prozent wirklich autonomem und autorenhaftem Erfindergeist – letzteres ist zweifelsohne der kostbarste Prozentsatz. Nur wenigen Kuratoren gelingt es, große Formate zu entwickeln. Und davon hat er doch ein paar auf die Beine gestellt. Aber ich bin anders. Für Matthias ist Kunst ein Vehikel, um soziale Prozesse zu steuern und zu beschleunigen und damit letztlich andere gesellschaftliche Verhältnisse anzustreben. Für mich ist Kunst selbst der andere Weltzustand. Ich habe das Gefühl, dass ich sonst, als Scout des Neuen, nur der Agent des Systems bleibe, das letztlich radikaler ist als ich selbst. Kunst ist das Seltene, nicht das Neue.
Dirk Baecker: Dann sind die Berliner Festspiele dir ja wie auf den Leib geschneidert.
Thomas Oberender: Wenn man so darüber redet, steht Kunst schnell in Anführungszeichen.
Dirk Baecker: Für mich sind die Festspiele noch immer die Institution des Berlins vor dem Mauerfall; die Institution, die die Autonomie der Kunst und ihre Spitzenwerke für ein intellektuell neugieriges, aber mit seinen Lebenszuständen zufriedenes Berliner Publikum aufbereitet hat. Nimm Bob Wilson als Beispiel. Diese Festspiele sind der Ort, an dem man sicher sein konnte, virtuose Kunst in nahezu vollkommener Perfektion präsentiert zu bekommen. Man konnte Adornos Empfehlung folgen, die Partitur mit in die Aufführung zu bringen und zu verfolgen, wie sie umgesetzt wird. Man hatte zumindest vorher gelesen, mit welchem Stück man es zu tun haben würde. Man musste nicht mit unruhigen, experimentellen, frechen Produktionen wie im HAU rechnen, in denen sich das Publikum, ich übertreibe, nie sicher sein konnte, ob das Geschehen sich noch auf der Bühne oder bereits in der Bar abspielt. Ich habe im HAU noch nie eine Aufführung erlebt, auf die ich mich vorher durch irgendeine Lektüre hätte vorbereiten können.
Thomas Oberender: Das sehe ich etwas anders. Für mich gibt es das Bürgertum der alten Berliner Festwochen inzwischen nur noch neben und inmitten eines neuen Publikums, das aus sozialen Mischklässlern besteht, die weniger die Feier als das Fest suchen – also das Festival, den Diskurs und die also daran mitarbeiten, den Werkbegriff und die Institutionen zu entheiligen und zu demokratisieren. Das ist mir grundsätzlich sympathisch. Auf Kategorien des Repräsentativen und der Gala kann ich gut verzichten. Aber ich will auch nicht zwanghaft den neuesten, hippesten Mist auf die Bühne bringen, um, auf einer anderen Ebene, doch nur den üblichen Gehorsam gegenüber Kategorien wie Nützlichkeit und Innovation zu üben, oder was es an Wirtschaftskriterien noch gibt. Diese Logik ist mir maximal unangenehm. Eigentlich versuche ich lediglich, jenen Kräften Schutz oder Verstärkung zu geben, die nicht mittun an der großen Vernützlichung und Verbrennung.
Bernhard Krusche: Kann es sein, dass in der Stimme Klage und Wehmut mitklingen?
Thomas Oberender: Die Festspiele haben sich von der alten Interpretenkultur ein ganzes Stück gelöst. Die Besucher, die ein Drama zuvor gelesen haben oder das Werk kennen, die also wissen, wie Beethoven klingt und hören wollen, wie es diesmal ist, dieser Typ von Besucher ist im Rückgang begriffen. Er lebt und genießt in der Vertikalen. Er vergleicht das Gleiche mit dem Gleichen früher. Die Besucher der Festkultur hingegen suchen den Rausch, das einmalige Ereignis, das Unvergleichliche und können es in der Horizontalen sehr gut differenzieren. Das ist für mich der große Übergang, der unter anderem auch mit der Idee der Projektförderung verbunden ist. Projektförderung fördert keine Interpretation, sondern Kreation. Sie fördert das, was Gerard Mortier im deutschsprachigen Raum als Création salonfähig machte. Das sind Werke, die nicht mehr Literatur interpretieren, sondern einmalige Aufführungsformen erschaffen, die nicht mehr nachspielbar sind, die vielmehr originalen Charakter haben. Dieses Format prägt inzwischen sowohl das Theater als auch das Musikprogramm.
Bernhard Krusche: Aber wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Thomas Oberender: Das ist weder gut noch schlecht. Es ist einfach eine andere Form von Kultur. Diese Demokratisierung des Kunstbegriffs und der Institution war so erfolgreich, dass ich heute glaube, dass es unsere Aufgabe ist, um neue Formen von Kollektivbildung zu kümmern, also tatsächlich neue Selbstschutz-Allianzen zu erfinden, denn der Projektkapitalismus macht uns auch auf kulturellem Feld zu Einzelkämpfern. Da hat jeder Bühnenhandwerker oder Verwaltungsangestellte mehr Lobby, weil sie eine Gewerkschaft haben. Wir brauchen andere Dachverbände, wir brauchen neue Assoziationsformen innerhalb der Kreativwirtschaft, Mindestlöhne und Ausstellungsgagen. Und dazu gehört für mich auch die Institution. Ehret die Institutionen! Das sind Dispositive – wenn wir sie verspielen, sind sie weg.
Bernhard Krusche: Dirk, ich kann mir vorstellen, dass Du möglicherweise die Zeitdiagnose teilst, nicht aber die Konsequenzen?
Dirk Baecker: Mir geht es zunächst um etwas anderes. Ich reproduziere ja dieses alte Bild der Berliner Festspiele nicht, weil ich glauben würde, dass es immer noch gilt. Worauf ich hinaus will, ist deinen Begriff der Aura nachzuvollziehen und zu schauen, wie ein so gut eingeführtes, berühmtes Haus wie die Berliner Festspiele mit diesen alten Bildern zurechtkommt. Du musst ja mit diesen und in diesen Bildern, mit dieser Geschichte arbeiten. Das HAU konnte nach Nele Härtling und mit Matthias Lilienthal mit einem radikalen Schnitt neu anfangen. Das könntest du ja auch tun. Aber das käme dir, so wie ich dich verstanden habe – und wie auch mein Rat wäre – nicht ansatzweise in den Sinn. Du respektierst die Tradition der Berliner Festspiele, während du sie veränderst. Du arbeitest mit einer Kontinuitätsidee. Worin besteht diese Idee?
Thomas Oberender: Die Kontinuitätsidee ist ein Qualitätsversprechen. Ich darf hier nicht, wie soll ich sagen, allzu unbeholfene Produktionen als Weltkunst verkaufen. Dafür veranstalten wir einfach zu wenig. Es geht ums große Format, um Künstler, deren Arbeit eine bestimmte Form von Analyse leisten und noch in der Entwicklung sind, also von einem Problem bewegt, das sich keiner routinierten Form bedient.
Bernhard Krusche: Und wie lässt sich dieses Qualitätsversprechen aus einer Management-Perspektive beschreiben?
Thomas Oberender: Orchester haben ab einem bestimmten Niveau einen Planungsvorlauf von zwei Jahren. Starcompagnien im Theater auch. Als ich hier angefangen habe, musste ich innerhalb von drei Monaten Verträge verlängern, die mich auf mindestens drei Jahre festlegen. Niemand sagt einem dabei die Wahrheit. Ich habe ein paar Entscheidungen instinktiv richtig gefällt, ein paar nicht – und mit denen lebt man dann sehr lange. Und ich hatte noch keine Erfahrungen mit den harten betrieblichen Realitäten, die andersartiger sind als alles, was ich bislang kannte. Nehmen wir zum Beispiel den Tarifvertrag im öffentlichen Dienst. Hier beginnen ab 16.30 Uhr die Überstunden – und das im kunstproduzierenden Bereich. Die Konsequenzen daraus waren für mich zunächst einmal überhaupt nicht zu überblicken. Das sagt einem so auch keiner. Und eh man dann kapiert, was das für Auswirkungen auf Stellenpläne, Budgets und die Belastbarkeit von Strukturen hat, vergeht viel Zeit. Man muss sich eine Idee erarbeiten und eine Lobby. Erst dann kann man daran gehen, größere Hebel anzugehen. Mit jeder anderen Strategie verhält sich so wie mit der Titanic: man sieht den Eisberg und und dass man bremst, verursacht die Kollision, so war das in diesem Fall tatsächlich, denn damit wurde das Schiff nicht mehr steuerbar und hat im wahrsten Sinne die Kurve nicht mehr bekommen.
Bernhard Krusche: Der normale Kunstgriff in solchen Fällen wäre ja, jemanden anzustellen, der für volle Abendkassen sorgt.
Thomas Oberender: Wir haben kein Auslastungsproblem. Die Sachen, die wir hier machen, sind alle gut besucht. Das große Problem ist, dass Berlin so arm ist. Ich habe in Salzburg keinen Cent Budget gehabt, außer dem, was wir mit dem Programm selber verdient haben. Also habe ich mit den rund 1.2 Millionen Euro aus dem Jedermann und den Einnahmen an den Theaterkassen der anderen Stücke das gesamte Programm finanzieren können. Das Geld wurde wirklich verdient und der erwirtschaftete Überschuss floss dann in die Oper. Das ging vor 80 Jahren auch in einer Stadt wie Stuttgart oder München. Aber in Berlin geht es heute gar nicht. Wir haben bei «Foreign Affairs» den Kartenpreis von 60 Euro auf 25 Euro Einheitspreis gesenkt – und hatten über Nacht ein komplett neues Publikum. Das war eine politische Entscheidung. Wir wollten dieses andere Publikum, aber das bezahlt man handfest mit Einnahmeverlusten. Und das heißt letztendlich, dass man weniger produzieren kann, man macht weniger Eigenproduktionen. Das ist ein schwieriger Balanceakt.
Dirk Baecker: Ich bin immer noch auf der Suche nach der Idee, aus der heraus du dieses Haus managst, leitest, kontrollierst und führst. Ich sehe dich jetzt auf der Brücke der Titanic stehen und habe das Bild, dass du mit mehreren Bällen zugleich jonglierst, nach außen und nach innen. Wobei es sich für mich vor allem zwei Bälle handelt: Der eine Ball ist der Begriff des politischen Kollektivs und der andere ist das Format der Kreation. Das Kollektiv scheint mir eine Semantik zu sein, die du nach innen wie nach außen, und auch wahrscheinlich in den Programmheften der Arbeiten bedienen kannst, um zu betonen: Auch eine Institution wie die Berliner Festspiele ist ein politischer Raum, in dem es auf Solidaritätseffekte, auf das gemeinsame Tragen von Ideen, auf ein «Sich-verlassen-auf» ankommt. Sowohl von deinen Künstlern wie von deinem Publikum erwartest du dabei das Mitdenken eines größeren Ganzen, das die Bindung an das Haus als solches erzeugt. Künstler, Publikum, Technik und Leitung machen, genießen und administrieren nicht nur Kunst, sondern nehmen zugleich an einem politischen Projekt teil, das darin besteht, die Möglichkeit einer autonomen Produktion, Rezeption und Administration von Kunst zu behaupten, zu belegen und zu verteidigen. Und gleichzeitig bedienst du in Richtung Kunst und Ästhetik die Idee der Kreation im Sinne Gérard Mortiers, der einmaligen Zusammenführung verschiedener Künste zu einem Ereignis an einem spezifischen, nicht unbedingt künstlerischen Ort, in einer aufgelassenen Fabrik, in einem Sportstadion, in einer Kirche, einer Universität oder einem Rathaus. Das erinnert mich an die Idee der Interdisziplinarität in der Wissenschaft, die zuweilen dazu neigt, sich zu verselbständigen, also von thematischen Problemen der Forschung eher abzulenken. Aber im Ernst, worauf es wohl ankommt, ist die Schaffung, eben Kreation, nicht nur einer Aufführung, sondern einer Begegnung, eines Ortes und eines Ereignisses. Das wäre der zweite Pol deiner strategischen Orientierung, mit dem Ergebnis, dass man an dem politischen Projekt nur teilnehmen kann, wenn man die zugehörigen Ereignisse nicht versäumt. In der Industrie würde man das ein Programm der Markenbildung und Kundenbindung nennen, was ich durchaus nicht abfällig meine.
Thomas Oberender: Ja, so könnte man das zusammenfassen. Die Kreation ist tatsächlich das Gegenteil der Interpretation. Die Interpretation ist eine wiederherbeiholende Aneignung und Darstellung eines präexistenten Werkes, ob das nun eine schriftstellerische oder musikalische Literatur ist. Die Kreation hingegen ist das Werk selber, die eigentliche Erfindung. Es ist ein Unterschied, ob Du Tannhäuser aufführst oder ob Du ein Wagner-Projekt machst. Dieses Wagner-Projekt würde es in dem Sinne nur einmal geben – es ist keine Interpretation einer präfigurierten Vorlage, die durch die Zeit gehen kann, die unabhängig auch von den Interpreten als Text existiert. Die Kreation aber ist das Ergebnis eines temporären Zusammenschlusses von Produzenten, die sich zum Beispiel auf eine Recherche begeben haben und das Material in einer einmaligen und originalen Weise zusammenfügen und verkörpern.
Dirk Baecker: André Malraux hat in seinem Essay über das imaginäre Museum (1947) den wichtigen Gedanken formuliert, dass die Kunst vom Vergleich der Werke neben- und untereinander lebt. Fällt dieser Gedanke bei der Kreation weg? Man vergleicht nicht, sondern man wird entweder gepackt oder nicht gepackt?
Thomas Oberender: Nein, der fällt nicht weg. Wong Kar-Wai wurde einmal gefragt, wie es ist, den Jury-Vorsitz bei der Berlinale zu haben, aber beim Oscar nicht nominiert zu werden. Und er hat darauf erwidert: «Ab einem bestimmten Punkt ihrer Karriere sind Regisseure nicht mehr im Wettbewerb mit anderen Regisseuren, sondern mit sich selber.» In diesem Fall tritt man nicht gegen andere Regisseure an, sondern den eigenen Film von vor zehn oder fünfzehn Jahren, an dem sich die jüngste Arbeit misst. Schlingensief kann man vielleicht nur mit Schlingensief vergleichen. Oder mit Beuys. Oder den jungen mit dem alten Schlingensief. Aber auf alle Fälle legt Malraux Satz den Gedanken nahe, dass Kunst etwas relationelles ist, nichts essentielles.
Dirk Baecker: Der Kollektivgedanken ist ein auf Dauer, auf Entwicklung, auf zeitliche Verknüpfungen angelegter Gedanke. Und die Idee der Kreation betrifft einzelnen den Abend. Der Abend ist einzigartig, man kann ihn nicht wiederholen. Natürlich kann man an einem anderen Abend wieder einen einzigartigen Abend erleben. Aber das ist eben ein anderer Abend. Jeden einzelnen Abend erlebt man entweder mit oder man verpasst. Damit werden die Kunst und das Kunstwerk temporalisiert. Im Zentrum des Interesses steht nicht mehr das mehr oder minder stabile Werk innerhalb der Geschichte seiner Interpretationen, sondern der flüchtige Moment mit seinem spezifisch historischen, aber auch biographischen Index.
Thomas Oberender: Genau. Das ist die Erlebnisseite. Im Hinblick auf die Institutionen will ich es gerne noch etwas paradoxer machen. Die wahre Fluidität hat sich inzwischen in den Konstanten eingenistet. Nimm zum Beispiel eine Kompanie wie Gob-Squad. Die arbeitet seit zwanzig Jahren in der ungefähr gleichen figuralen Konstellation. Jetzt nenn mir mal ein Stadttheater, bei dem das auch so ist. Alle fünf, sieben, zehn, maximal fünfzehn Jahre werden die Ensembles komplett ausgetauscht. Das heißt, auf eine verrückte Weise hat das Ensemble-Theater in den neuen Projektformen überlebt, bzw. in den Theaterfamilien, die durch die Institutionen wandern: die Marthaler-Familie, die Pollesch-Familie – alles Formationen, die relativ groß sind und an die man sich auch immer wieder andocken und erweitern kann.
Dirk Baecker: Eigentlich sprechen wir hier von Gangs, oder? Von Possen, im klassischen amerikanischen Sinne der HipHop-Band oder der polizeilichen task force. Solche Possen haben normalerweise nicht mehr als fünf, sechs Mitglieder. Nur bei fünf, sechs Leuten hat man die extreme Bindung, die eine solche Durchhaltefähigkeit erzeugt. Einer allein ist machtlos, zu viele sind bereits eine auf Routinen der Reintegration von abweichenden Zielsetzungen angewiesene Organisation. Eine Posse jedoch kann eine Recodierung durchsetzen, einfach weil sie eine Abweichung lange genug markieren kann, um andere zu motivieren, auf den Erfolg dieser Abweichung ihre Wetten abzuschließen.
Thomas Oberender: Eine verschworen Gemeinschaft, ja.
Dirk Baecker: Wir kennen das auch aus anderen Zusammenhängen. In Investmentbanken gibt es auf fixed-income-securities spezialisierte Teams, die nur en bloc eingekauft werden. Konzerne werden zuweilen an ihrer Spitze von Possen von fünf, sechs Leuten gekapert, die für eine Weile oder auch längerfristig erfolgreich an einer strategischen Neuorientierung arbeiten. Und vermutlich spielen solche Vorgänge auch eine Rolle, wenn eine Papstwahl anders ausgeht als erwartet, sich im Militär ein neues Verständnis strategischer Optionen durchsetzt oder in der Wissenschaft neue Themen etabliert werden. Das wäre ein interessantes Feld für die Kopplung historischer Forschung und Organisationstheorie. Solche Possen fängst du bei den Berliner Festspielen ein, indem du mit dem Kollektiv den Attraktor setzt und mit der Kreation die Gelegenheit, oder?
Thomas Oberender: Ja, genau. Ich muss Banden bilden – ein Team von Eingeschworenen, die dann die Ermöglichungsmasse in Schwung bringen. Ich gebe ihnen Schutz und sie dafür Gehorsam, das alte Modell. In diesem Schutz müssen Sie Freiheit finden und ich mein Versprechen zum Ausdruck bringen. Das ist das, was ich vorhin mit Aura meinte. Das ist die Linie, die Du durch die vielen komplizierten Projekte durchbringen musst. Und das ist das allerschwierigste.
Bernhard Krusche: Ist das nicht eine zutiefst heroische Geste, die da aufblitzt?
Thomas Oberender: Nun ja, heroisch – heroisch ist es nur im Dostojewskij’schen Sinne: dass man bereit ist, eine bestimmte Form von Leiden auf sich zu nehmen. Ich bleibe einfach immer am längsten. Das ist kein Wert an sich, aber bringt etwas zum Ausdruck – man bezahlt mit Lebenszeit für eine Idee, die dann das Leben halt auch sehr stark prägt. Spürbar. Das Projekt ist einfach größer. Nicht ich. Ich diene. Ich finde meine Freude darin. Für mich ist das, was hier als «heroische Geste» markiert wird, ein Gegenbild zum Bild des Managers als Parasiten. Die Figur des Parasiten beschäftigt mich immer wieder. Es gibt ein Stück von Picard, das Schiller übersetzt hat, eine Komödie: «Der Parasit». In deren Zentrum steht eine Figur, die nur in der Beziehung zu anderen entsteht. In der Cleverness, kein loyales Verhältnis zur Sache selbst zu haben, sondern die Sache nur als Spielelement in der Beziehung zu anderen zu benutzt.
Was du, Dirk, in deiner Arbeit als die System-Cleverness des Parasiten preist, ist in meinen Augen immer auch Teil seines Versagens. Der Parasit hat keinerlei Loyalität zur Sache. Das ist ein Vorwurf, der dem Berufsstand des Managers ja auch gelegentlich gemacht wird. Wobei sein Geschick oder Vorteil ja eben darin besteht, dass er sich von der Sache lösen kann und die Beziehungen, die Umstände optimiert. Cleverness hat natürlich einen Hang zum Nihilismus. Dostojewskij fand die instrumentelle Vernunft typisch westlich. Wenn die Sache selber nichts mehr zählt, also ein Mord nur ein Experiment oder Form von Beweisführung ist, verhält sich der Manager unter Umständen wie ein Raskolnikow. Allerdings ohne Reue, die wäre ihm dann gar nicht zu vermitteln.
Dirk Baecker: Nun, der Parasit ist treu gegenüber jedem Wirt, den er ausbeuten kann.
Thomas Oberender: Das muss er auch sein.
Dirk Baecker: Er versucht den Wirt so zu pflegen oder zumindest nicht zu ruinieren, dass er ihm weiterhin nützt.
Thomas Oberender: Aber theoretisch kann er ihn auch umbringen. Oder muss es vielleicht sogar.
Dirk Baecker: Der Parasit, darauf würde ich beharren, ist zugleich egoistisch und altruistisch unterwegs. Aber er ist auch fluchtfähig. Die Frage ist, mit welchen Fristigkeiten man jeweils arbeitet. Da gibt es extreme Unterschiede. Es gibt die Hit-and-Run-Parasiten, die zuschlagen und weglaufen. Diese Parasiten leben von der Wiederholbarkeit bestimmter Gelegenheiten bei verschiedenen Wirten, aber nicht von der Wiederholbarkeit der Interaktion mit demselben Wirt. Und es gibt Parasiten, die darauf aus sind, langfristige Beziehungen aufzubauen und sich in diesen einzurichten.
Thomas Oberender Ich glaube, dass der Parasit die faszinierende Figur per se ist, da sie im Grunde nie verlieren kann. Dostojewskijs Sorge hat sich erledigt. Gott ist für den Manager tot. Aber auch das alte Handwerk, oder die Viehzucht. Das ist das Genie des Parasiten: er ist nur ein Beziehungsglied. Er optimiert eine Idee.
Dirk Baecker: Und dazu kann es heutzutage keine Alternative geben, weil das die Netzwerkfigur schlechthin ist. Nimm die Figur des Parasiten, die Michel Serres entworfen hat: da gibt es nichts mehr, das nicht relational aufgebaut ist.
Thomas Oberender: Und genau dabei geht jede Form von unmittelbarer Loyalität verloren.
Dirk Baecker: Ja, aber in einem sehr präzisen Sinn. Es gibt keine Unmittelbarkeiten, es gibt keine Essenzen, es gibt nichts, worauf man sich a priori verlassen könnte, ohne nicht bereits wieder Teil von relationalen Spielen zu sein. Nicht umsonst hat Serres auch die Figur des Hermes ins Spiel gebracht, den Boten also. Es geht ihm immer um Beziehungen, nie um das Wesen der Sache im vielleicht klassisch aristotelischen Sinne. Wir können auch nicht mehr wie seinerzeit Leibniz mit dem Monadenmodell alle in Richtung Gott schauen, um uns in Seinem Angesicht der Gleichheit aller Menschen zu vergewissern. In diesem Modell gibt es die Relation bereits, jedoch nur im Singular, als prominente Relation zu Gott. Leibniz meinte vermutlich, auf eine spezifisch moderne Weise die Relation als Funktion zur Absicherung einer Substanz einsetzen zu können. Wir denken jedoch heute mit Serres und vielen anderen in horizontalen und lateralen Relationen denken, die fluide, netzwerkmäßig aufgebaut sind und allenfalls partielle Hierarchien und Zentren kennen. Diese Netzwerke sind unser Schicksal. Alle Elemente und Beziehungen sind austauschbar. Aber in der Auseinandersetzung mit dieser Austauschbarkeit kann man Formen von Langfristigkeit, Dauerhaftigkeit und Loyalität aufbauen, die für alle Beteiligten unter bestimmten Umständen, die man mitpflegen muss, attraktiv sind. Dann sitzen die Parasiten in ihren Nischen und verwechseln diese mit der Welt, wie diese natürlich und selbstverständlich sein muss. Aber diese Art der Naturalisierung und Institutionalisierung verdankt sich dem historischen Zufall der Langfristigkeit. Wir schauen im Bereich der Kunstförderung und Kulturpolitik in der Bundesrepublik auf einen solchen Zufall, der natürlich alles andere als zufällig war, zurück. Aber das heißt nicht, dass die Nischen auch so bleiben müssten.
Bernhard Krusche: Und was ist dann der Manager in diesem Spiel?
Dirk Baecker: Der Manager ist ein Symbol, das für bestimmte Verhältnisse steht, die sich jederzeit ändern könnten. Eine andere Gewinnaussicht, ein neues Kostenelement, eine drohende Konkurrenz und im Nu hat man es mit einer neuen Situation zu tun, mit der man sich auseinandersetzen muss. Der Manager symbolisiert, wie man sich worauf einstellen muss. Der Witz am Symbol ist die mitkommunizierte Doppeldeutigkeit, Ambivalenz. Wer auf den Manager schaut, schaut zugleich in zwei entgegengesetzte Richtungen, in die Richtung der Kontinuität und in die Richtung der Diskontinuität. Der Manager ist eine Kippfigur, die auf die Kontingenz der Verhältnisse verweist. Deswegen lächelt er wie eine Sphinx. Gute Manager schaffen es, sich in Habitus, Mimik, Tonfall und Adressierbarkeit als eine solche Kippfigur zu inszenieren und zu stilisieren.
Thomas Oberender: Ein schönes Bild.
Dirk Baecker: Das Lächeln der Sphinx bedeutet zugleich, dass man nicht herausfinden kann, wann die Kippfigur in die eine oder andere Richtung kippt, indem man den Manager beobachtet. Dann sieht man ja nur: das Lächeln der Sphinx. Sondern man soll und muss den Betrieb beobachten, die Produktionsprogramme, das Wettbewerbsumfeld, die politische Lage usw. usf., die erst den Anlass für ein Kippen liefern können. Diese Beobachtung sichert man ab, indem man darauf achtet, ob auch der Manager kippt. Auf diese Art und Weise sichert der Betrieb sich ab in Verhältnissen der Beobachtung zweiter Ordnung, in denen es keine Experten gibt, die bereits wissen, was zu wissen ist, sondern nur Leute, die erst noch herausfinden müssen, wie dringend, relevant und aussichtsreiche die eine oder andere Entwicklung ist. Der Manager symbolisiert den Betrieb, der sich selber beobachtet, das heißt in dem jeder jeden beobachtet und der Manager für die Koordination nicht nur der Arbeit, sondern vor allem der Beobachtung sorgt. Das Lächeln sagt, dass der Manager es auch nicht weiß und dennoch derjenige sein wird, der die Hebel der Entscheidung in die eine oder andere Richtung legt. Wer eindeutig ambivalent ist, dem bleibt vermutlich nur das Lächeln.
Thomas Oberender: Das würde für mich den ganzen Managerstress beschreiben. Du musst Leute durch Argmente und dein Charisma auf eine Idee einschwören. Und gleichzeitig darfst Du nie nur privat sein. Wenn ich das Theatertreffen eröffne, vor tausenden Leuten auf die Bühne trete, will ich keine Frühstückdirektorenrede halten, sondern wirklich etwas sagen. Damit tritt man an und schafft es oder schafft es nicht, das ist tatsächlich ein Rigorosum. Und dann gehst Du in den Saal zurück, setzt Dich auf den Platz, in der Pause kennen Dich Tausend Leute, aber Du niemand. Alle gucken: wie sieht er denn aus, was hat er denn an? Das ist schwer auszuhalten. Und davor schützt das Lächeln. Das Lächeln ist sozusagen die Maske der Unberührbarkeit. Die erzeugt eine Unausdeutbarkeit, die man braucht, um sich ein Zeitvorsprung zu verschaffen. Ich weiß oft gar nicht, wen ich begrüße. Da fühle ich mich wie der Rudi Asshauer. Dieser alzheimerkranke Ex-Präsident von Schalke, der gelegentlich noch auf Partys geschleppt wurde und einfach weiteronkelt, weiter die lässigen Sprüche macht. Und damit kommst Du eine Weile durch. Das kann man auf verschiedenen Ebenen so machen, aber das ist tatsächlich auch eine Kunst. Man muss die Unsicherheit ertragen. Man muss der Unsicherheit eine Form geben und auf diese Gabe müssen sich die Leute verlassen können. Dass einen die Freude nicht verläßt.
Dirk Baecker: Das ist der Parasit mit der Angst vor dem Lärm.
Thomas Oberender: Wenn Du wenigstens Spieler sagen würdest… Ich bin trotzdem anderer Meinung. In meiner Arbeit empfinde ich es als Auftrag, eine Glaubwürdigkeit zu entwickeln, die nicht auf durchschaubaren Zielen beruht. Die braucht andere Quellen. Wenn ich bei anderen den Eigennutz durchschaue, bin ich halb gekränkt. Was vielleicht dumm ist. Gerade dieser Erkenntnis könnte man ja trauen. Aber ich habe doch auch Freude am Denken an sich. Nicht, weil es jetzt sofort zu etwas nützlich ist. Es ist die gleiche Freude, wenn man einen schwierigen Ball fängt. Die dient doch zu nichts. Wie die Liebe. Der Parasit heiratet aus Berechnung, oder? Was zu Laclos Zeiten ein amüsantes Spiel war. Aber ich glaube mir nicht, wenn ich mich durchschaue. Ich will im Dunkeln leben. Und das kann ich nicht, wenn ich mich nur als Parasit sehe. Wobei, also ich bin schon clever, ich spiel mehr durch, als ich sage, aber manchmal eben auch nicht. Ich habe neulich Peymann angeschrien, bei einer Veranstaltung im eigenen Haus. Das macht man nicht als Gastgeber. Und doch ist das ein Moment von Wahrheit. Ohne das hätte ich mir selber nicht mehr glauben können.
Dirk Baecker: Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Mir geht es in meinen Seminaren ähnlich. Manchmal komme ich aus einem Seminar raus und denke, dass mir wieder nichts gelungen ist. Die Studierenden haben mich nur mit großen Augen angeschaut. Dann frage ich mich, was ich hier mache. Dann habe ich vielleicht am selben Tag noch eine Senatssitzung erlebt, die mich auch nicht gerade glücklich gemacht hat, und ich fange an, mich nicht in der Abhängigkeit von diesem Tag, sondern in einer längerfristigen Dimension zu denken. Ich rette mich, indem ich nicht einzelne Ereignisse, sondern, wie manche Historiker sagen würden, eine bestimmte Dauer zu meiner Messlatte mache. Dann bin ich nicht Dozent dieses oder jenes Seminars oder Teilnehmer dieser oder jener Senatssitzung, sondern Dozent vieler Seminare, Senator vieler Sitzungen oder darüber hinaus Soziologe, der eben auch lehrt und sich an der akademischen Selbstverwaltung beteiligt. Diese Dauer gibt mir dann meine Glaubwürdigkeit vor mir selber und Standfestigkeit in spezifischen Situationen. Aber letztlich ist dies nichts anderes als die Verschiebung des Ereignisraums, auf den ich mich beziehe, um mich meiner Identität zu vergewissern. Man kennt das aus dem Risikomanagement von Banken. Wenn ich auf eine momentane Fluktuation schaue, gerate ich in Panik; wenn ich dieselbe Fluktuation als nur einen Ausschlag unter anderen eines volatilen Marktes betrachte, kann ich mir in Ruhe überlegen, ob ich in diesem Markt bleibe oder ihn doch verlasse, und sei es nur deswegen, weil ich eine bestimmte Nervosität nicht aushalte.
Thomas Oberender: Ja. Was wir in solchen Situationen, an solchen Tagen brauchen, das ist das Dritte Auge. Eine zentrale Manager-Qualität: die Fähigkeit der Selbstdistanzierung. Und trotzdem gibt es darüber hinaus eine Qualität, die würde ich mit Blindheit beschreiben. Und die hast du, oder du hast sie nicht. Darin kann sich eine höhere Form von Intuition ausdrücken, damit ließe sich das wieder rationalisieren. Aber ehrlich: mich interessieren die bloß Geschickten überhaupt nicht.
Dirk Baecker: Dich interessieren die noch nicht Gefallenen?
Thomas Oberender: Ja, das ist ein erster Schritt. Ohne Fall kein Aufstieg, in dem Sinne schon. Für mich wurde das Formulierbar durch die Lektüre von W.G. Sebald. Es war die Schule einer lebbaren Melancholie. An dem Punkt habe ich verstanden.
Dirk Baecker: Den hast Du aber schon vor langer Zeit entdeckt.
Thomas Oberender: Ja, so vor zehn Jahren. Und vor zwei, drei Jahren habe ich Handke entdeckt. Spät eigentlich, auch nur durch meine Salzburger Arbeit. Da ist mir klar geworden, dass die künstlerische Existenzform die asozialste Position innerhalb eines Systems überhaupt ist. Man steht mitten drin und entwickelt da im Zentrum eine Fremdsprache, die uns die Augen öffnet, irgendwie an den Rand stellt und fremd hinüberschauen läßt auf das, was wir treiben. In aller Raffinesse und Ambivalenz, die man zu unserer Verwertungsgesellschaft entwickeln kann, ja muss. Die Frage ist doch: Wie kannst du dem Verbrennen entgehen? Zum Beispiel diese Form der jünglingshaften Altwerdung Handkes fasziniert mich sehr stark. Handke entdeckt täglich staunender, und sucht auch auf einer sehr hohen Ebene der Reflexion, das Wahre, das Unmittelbare. Es ist das Konkrete, das Poetische. Und er zeigt, dass das nur durch die Reflexion, durch viele Spiegel hindurch zu erfassen ist, plötzlich, als etwas Erwischtes. Er fühlt und zeigt sich dabei immer zugleich auch als der Autor, der Macher, und das führt zu dieser durchgehend epischen Formen seiner Dramatik. Weil es für ihn der einzige Weg ist, Unmittelbarkeit zu erzeugen. Das wünschen wir uns doch, jedenfalls ab einer bestimmten Phase des Lebens: Diese reale Begegnung mit der eigenen Lebenszeit, diese Deckungsgleiche von Tun und Empfindung. Was Handke als Dichter lebt ist so fundamentalistisch wie der Glaube eines Moslembruders, aber natürlich nicht so zerstörerisch.
Dirk Baecker: Ich finde, das ist ein gutes Schlusswort.
Bernhard Krusche: Langsam. Was aus meiner Sicht noch nicht aufgelöst ist, ist dieser Widerspruch zwischen diesem Moment der unbedingten Hingabe an die Sache, aus der Sie Ihre Kraft ziehen. Um dem Lächeln der Sphinx, mit dem Ihre ganze Widerborstigkeit ein Auskommen findet, um nicht zu unterzugehen. Was genau reibt da? Dieser Widerspruch hat mich sehr berührt.
Thomas Oberender: Kunst ist eine Form von Lüge, um die Wahrheit zu sagen. Sagt Peter Stein und zitiert vielleicht damit Kortner. Ich merke, wie ich eine Form von Unmittelbarkeit in meiner Arbeit suche, die hochgradig spielerisch ist. Ich möchte mich in meiner Arbeit selber überraschen. Ich kriege sofort Depressionswellen, wenn ich das Gefühl habe, ich rede nur noch über Geld, ich höre die gleiche Platte von den gleichen Leuten zum zehnten Mal.
Bernhard Krusche: Ich verstehe. Aber dann macht es Sinn, dem Impuls zu folgen und an genau dieser Stelle einen Punkt zu setzen. Für alles weitere müssten wir jetzt ein neues Fass aufmachen. Und damit können wir es auch belassen.
Thomas Oberender: Was für eine schöne Zusammenführen. Vielen Dank.
Bernhard Krusche: Gentlemen, ich danke Ihnen. Und zwar von ganzem Herzen.