«Nervöse Räume»
Über die Holzschnitte von Chriastiane Baumgartner
von Thomas Oberender
Bei näherer Betrachtung verschwinden die Bilder. Bei näherer Betrachtung betrachtet sich das Betrachten. Christiane Baumgartens Holzschnitte sind immer schon betrachtete Bilder, also Bilder von Bildern, die das Sehen auf den zweiten Blick inszenieren. Sie machen das Sehen als konstruktiven Vorgang erlebbar. Deren Effekt entsteht zu weiten Teilen aus der Vereinsamung des Betrachters vorm Motiv. Er schaut auf eine menschenbefreite Zone reiner Natur oder Technik, vor der er als Zeuge alleine steht. Das Zusehen wird so eine Mischung aus Staunen und Schauder. Die Sachen, meist sind es Sachen, die auf den Bildern warten, warten im Verborgenen. Die Künstlerin legt einen Schleier über sie, eine Form von Betrachtungstechnik – so wie es auch eine Atemtechnik gibt – mittels derer der Bildbetrachter zu den Dingen hinter dem Schleier vorstoßen kann. Diese Technik ist eine Form der Selbstbetrachtung. Sie erinnert den Betrachter an sein eigenes, perzeptives Sensorium. Er sucht vor den Bildern nach dem richtigen Abstand.
Fühlt sich irritiert, in ein Wechselspiel einzutreten, das seine Subjektivität betont. Diese Betrachtungstechnik, die viel mit der extrem niedrigen Auflösung vieler Holzschnitte von Christiane Baumgartner zu tun hat, verschafft uns Eintritt in dieses abstrakte Außen der Welt, das sich für Momente klar zeigt – abhängig von unserer Position, unserer Art, auf dieses Außen zu schauen. Denn dieses Außen ist im Grunde ein in der Bildfläche verborgener Raum, der sich nicht umstandslos preisgibt oder selbst für real erklärt. Er ist das Ergebnis einer Konstruktion, die unser Sehen leistet, unsere Subjektivität. Erst acht Meter vom Bild entfernt werden die handgeschnittenen Pixel zum Wald. Um diesen Moment geht es: Vom Verkehrsfluss der Autobahn bleibt ein angehaltenes Bild, auf dem die Welt, wenn sie Raum wird, einen Augenblick lang zur Ruhe kommt. Dieser Welt, für die wir im Ganzen keine Verantwortung und Vision mehr haben, der wir ohne Autorität gegenüber stehen, treten wir in den Bildräumen von Christiane Baumgartner nahe. Diese Bilder sind Generatoren eines melancholischen Ich-Gefühls. Nervöse Räume, die eine vibrierende Wahrnehmungszone schaffen, in der das Abstrakte und technisch Saubere der Außenwelt einen Augenblick lang in den Schmutz unserer Subjektivität gezogen wird und unseren Körper zur Pforte macht. Christiane Baumgartens Bildräume schaffen eine künstliche Schwelle, die den Betrachter in Bewegung setzt. Wir laufen heran an die Bilder und fort von ihnen und schauen, wie die Wirklichkeit des Bildes von uns gemacht wird. Wie die Realität des Bildes erst eine Wirklichkeit zeigt, wenn wir sie hervorbringen.
Extreme Verlangsamung schafft im Film die gleiche unüberschaubare Komplexität von Gleichzeitigem wie die extreme Beschleunigung. Das extrem verlangsamte Geschehen entzieht das Geschehende dem Betrachter genauso wie jenes Verschwinden der Details und Beziehungen, die das Rasen der Vorgänge begleitet. Bill Violas Video-Stillleben «Passion» zeigt die Trauer- oder Schmerzensgesten eines Ensembles von Schauspielern derart verlangsamt, dass die Anmutung eines klassischen Genrebildes entsteht, das erst auf den zweiten Blick seine Dynamik offenbart und, obgleich die Gesten der Hände und Gesichter sich in äußerster Zeitlupe vollziehen, zeitgleich nie zu erfassen sind, da sie sich in allen Bildfeldern simultan ereignen. Und so erwischt der Betrachter immer nur ein Momentum des Geschehens, was ihm, anders als in der Echtzeit des Lebens, fast schmerzlich bewusst wird. Genauso hilflos wie er die Rücklichter der Autos auf einem nächtlichen Boulevard zum leuchtenden Farbstreifen verschmelzen sieht, sobald sich das Geschehen in der Aufnahme beschleunigt. Was hier als ein Effekt der Zeit beschrieben wird, der das Bild auflöst, lässt sich ähnlich auch vom Raum sagen. Wenn der Raum sehr grob erfasst wird, entwirklicht er sich auf ähnliche Weise wie im Bereich des Überfeinen.
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De quoi ne plus constituer, à en croire Thomas Oberender, «que des points disparates dans un néant de gris», si bien que nous finissons par y percevoir «un monde fabriqué par l’homme dont l’homme est absent».