«Jahresringe, einwärts.»
Erzählung über Heidelberg
von Thomas Oberender
Thingstätte Heidelberg
Es schien ihm, als würde die Zeit, die er in dieser Stadt verbringt, im Laufe der Jahre immer kürzer. Doch es war nicht die Dauer seines Aufenthaltes, sondern die Art seiner Gegenwart, die sich veränderte. Je verplanter er seine Tage dort verbrachte, um so wohltuender empfand er die Verlockung dieses Ortes, sich hier einfach treiben zu lassen, Umwege zu nehmen und Ausflüge zu machen. Fünf Jahre in Folge war er zum «Autorenmarkt» im Stadttheater eingeladen wurden und bewegte sich daher schon sehr vertraut in der Stadt, kannte die Abkürzungen, Bootsanlegestellen am Neckar und die alte Bäckerei Burkhardt. Zum ersten Mal war er viele Jahre zuvor als Tourist in diese Stadt gekommen – mit dem Wagen seiner Eltern auf den Weg in den Süden. Damals, im ersten Sommer nachdem die Mauer gefallen war, hatte er das Gefühl, daß der «Süden» ab Heidelberg beginnen müsse und dachte, dieses Leben, wie er es hier, durch die sommerlichen Gassen schlendernd erlebte, gehöre eigentlich in ein anderes Land. Auf angenehme Weise fühlte er sich fremd und ahnte, daß dies wohl so bleiben würde, auch wenn die Stadt ihm vertraut wird.
Die meisten Entdeckungen machte er bei seinem ersten Besuch, noch in der Studentenzeit. Er suchte nach Albert Speers Haus, und als er davor stand, fand er es völlig unverständlich, warum er es überhaupt hatte sehen wolle. Er entdeckte damals auch die überwachsene Thingstätte auf dem Heiligenberg, ausgerechnet auf einem Berg der Heiligen und dachte, als er das flache Bühnenhaus der Kultstätte aus der Nazizeit von den oberen Stufen der Arena aus sah, dass es wohl auch gut ist, dass Götter sterben. Von diesen völkischen Spielstätten, so hatte er in einem Buch gelesen, hatte es Hunderte gegeben und allein dieser Umstand ließ ihn nachdenken darüber, wie sich wohl die tausenden Besucher die schmalen Wanderpfade herauf begeben haben müssen, um dann die nächtlichen Fackelspiele und Sprechgesänge der Chöre zu erleben. Herrlich, dass Gras über diese Steine wächst. Auf dem Philosophenweg lief er mit den Rentnern hoch über dem Tal parallel zum Fluss und schaute hinunter auf die Villen und Gärten über der Altstadt. Er lief weiter bis nach Neckarsulm, wo er mit dem Schiff zurück in die Stadt fuhr, vorbei an den Anglern und Campern in der im Wasser gleißenden Nachmittagssonne. Als er am Nachmittag auf der Theodor Heuss Brücke stand, staunte er über die insektenhafte Grazie der Ruderboote, ihre schmalen Bootsleiber und filigranen Ausleger für die Ruder. Wenn sie geräuschlos das Wasser durchschnitten, fühlte sich das an wie der Blick auf fremde Lebewesen. Später ging er hinunter zu den Uferwiesen und hörte im Vorübergehen einen Vater seinem Sohn vor der Regatta zuflüstern: «Wenn du das durchhältst, kriegst du ein Pferd.» Er sah eine Gruppe schlacksiger Jungs ihre Ausrüstung von einem Bootswagen abladen und hörte wie einer von ihnen sagte: «Wenn ein Holzboot erst mal eingefahren ist, fährt es auch gut.» Für Augenblicke klappte eine andere Welt ihr Visier hoch.
In den folgenden Jahren kam er über die Wege zwischen dem Theater und Hotel nur noch selten hinaus. Einmal verirrte er sich in einen Esotheriker-Kongress, der die alte Stadthalle in ein Labyrinth duftender Stände verwandelte. Dort war zu sehen wie Menschen gesundes Schuhwerk basteln, bunte Steine kaufen oder Bücher über Engel und Dämonen. Ein andermal entdeckte er an einem sonnigen Vormittag in einem Hinterhof die stillen und menschenleeren Räume der so überaus reichen Städtischen Kunstsammlung. In einem lichten Neubau hinter alten Bäumen hingen Gemälden aus der Zeit der deutschen Romantik und es war plötzlich wie in Venedig – nur wenige Meter beiseite und er stand in einer stillen Welt, die wohl so auch noch da und bereit steht, die neuen Bilder, die zwischen den Bildern einer anderen Zeit inzwischen auch «ruhig» geworden sind, aus einer anderen Welt ihre stillen Grüße schicken und durch die Fenster nach draußen schauen, zu Menschen, die auf der übervölkerten Straße vorübereilen, genau so wie er selbst.
Eines Nachmittags, im dritten oder vierten Jahr seiner Lesungen in Heidelberg, wollte er nach den aufreibenden Diskussionen und Treffen mit anderen Autoren und Theaterleuten unbedingt noch zur Tageszeit ein Café auf der anderen Seite des Flusses, um kurz für sich zu sein, wie er früher gerne sagte, für sich, bevor es abends wieder ins Theater ging. Schon im Laufen merkte er, dass die Sonne gleich am Horizont verschwindet. So hielt er in der Mitte der Brücke inne, blickte zur anderen Seite der Stadt hinüber, dann auf die Uhr am Handgelenk und zurück auf den Fluss. Dies war nicht die Wahrheit eines ungünstigen Augenblicks, sondern eine Erfahrung des Erwachsenseins. Die Welt verschlingt dich. Und immer weniger du sie. Am Anfang blieb er während des «Stückemarktes» - er hasste dieses Wort, weil es ihn daran erinnerte, etwas verkaufen zu müssen oder sollen - eine ganze Woche im Hotel. Später gab es mehr und mehr Verpflichtungen und so blieb er höchstens zwei Tage. So rückte die Stadt ferner und wurde unerreichbarer, je öfter er sie besuchte. Die Radien der Ausflüge nahmen ab und selbst die Hotels, in denen er untergebracht wurde, lagen immer näher am Theater.
Anders als bei einer Baumscheibe, wo die jüngste Zeit sich außen ansetzt und immer weitere Kreise zieht, wanderte seine Gegenwart immer weiter in die Richtung der geschäftlichen Mitte und wurde schließlich völlig eingesogen vom Theater. In diesen Ort floss all die Zeit hinein und tatsächlich, je tiefer er sich dem Theater mit seinen Gedanken und Texten verschrieb, je weiter er sich dieser Höhle verband, in der jeder Tag nur hineingeleuchtet wurde, um so weniger nahm er in Heidelberg von der Sonne und der üppig blühenden Natur rund um die sommerliche Stadt wahr.
Am Ende der Spielzeit gelegen, war der «Heidelberger Stückemarkt» für die Schauspieler und Dramaturgen der Abschluss einer anstrengenden Saison und ein Vorgeschmack auf die kommenden Ferien. Während der sechs Tage wurden Inszenierungen neuer Texte aus allen deutschsprachigen Ländern eingeladen, es gab szenische Lesungen und Diskussionen – über allem lag eine angenehme Stimmung der Neugier und Begegnung, aber oft eben auch der Geschäftigkeit und Eitelkeit. Jedes Gespräch war hier nur die momentane Kontaktaufnahme im großen Gesumm der vielen Möglichkeiten. Jedes stattfindende Gespräch ist zugleich ein verpasstes und die freundlich lächelnden Augen irrten wie selbstverständlich immer wieder von ihm als Gegenüber ab und hinüber in den Saal, wo ja noch andere mögliche Verabredungen warteten. Damals viel es ihm schwer, frei und öffentlich zu sprechen – bis zum Stottern verkrampfte er sich, wenn er über seine Texte oder andere Aufführungen reden sollte. Es war eine Pein, aber er wollte zugleich unbedingt hinein in diese Welt der Künstler und gehört werden mit seinen Stücken, weshalb er sich doch immer wieder einließ auf diese Treffen und Besichtigungen. Hier, im Windschatten der großen Bühnen, saß er zum ersten Mal nächtelang am Tisch mit Schauspielern und Dramaturgen, die alle so viel fremde Energie und Überschwang hatten und lernte in ihrer Gesellschaft die ersten Schritte auf dem fremden Parkett der Kunst gehen, entwickelte langsam ein Gefühl für den richtigen Ton und die in all den Beziehungen die er hier knüpfte, ständig spürbare Mischung aus Sympathie und Geschäft. Manchmal ging er nach dem stundenlangen Berochenwerden hinüber zum Neckar und setzte sich ins kühle Gras am Ufer. Oder lief in den Pausen durch den alten Garten des Schloßparks oder ging für Stunden in die Antiquariate stöbern.
Ein Jahr später freute er sich dann wieder für ein paar Tage an einer sozialen Normalität teilhaben zu dürfen, die ihn als ein seltenes «Versorgungsglück» immer öfter froh und gelassen stimmte, denn er überließ sich dann doch auch gerne dem kollektiven Tagesablauf mit den Lesungen, Kollegen, Kantinenessen und Freikarten am Abend. Seine Stimmungen schwankten, vor allem in den Begegnungen mit anderen Autoren. Je erfolgreicher sie sich wähnten, desto verschwiegener wurden sie. Er selbst wurde auch verschwiegener. Er litt, statt es zu genießen, durch den Mund von Schauspielern vor fremden Menschen noch einmal hören zu müssen, was er vor langer Zeit geschrieben hatte. War er nicht inzwischen ein anderer Mensch geworden? Er wollte diesem anderen nicht mehr begegnen, dem weit fort gewünschten Kamerad von gestern. Texte, so glaubte er, sind ein Sarg aus Papier. Sein Verleger konnte dies verstehen. Er traf ihn jedes Jahr in Heidelberg und allein dass dieser inzwischen betagte, immer etwas heiser sprechende Mann, der stets Anzug trug und berühmt dafür geworden war, dass er sich von einem wütenden Regisseur im Streit um die Rechte eines seiner Autoren öffentlich ohrfeigen, dass dieser Mann an ihn glaubte gab ihm, wann immer sie sich trafen, auch einen Glauben an sich selbst. Wofür kämpfte dieser leidenschaftliche, oft rührend und längst altmodisch wirkende Mann eigentlich noch? Es ging nicht so sehr ums Geschäft, sondern, so dachte er einmal, darum, dass dieser alte Verleger alles dafür tun würde, das bisschen Gute, den kleinen Rest an Heiligem, was in so einem Schreibermenschen drin stecken mag, so zu ermutigen und zu achten, dass es weiter wachsen und hervor kommen möchte.
Genauso gerne, wie er seinen Verleger traf, begegnete er über viele Jahre hinweg auch jenen großen, schwitzenden, schwarz gekleideten Schauspieler, der sich zuverlässig nach jeder Vorstellung oder Lesung zu Wort meldete. Dieser Mann war Jahr für Jahr unter den Gästen. Er könnte nicht anders. Er ging auf den, schlimmes Wort, «Stückemarkt», um die neuen Autoren zu prüfen wie andere Leute sich auf dem Wochenmarkt frische Waren suchen, die sie zum Leben brauchen. Selber leitete er ein kleines Theater, wo er alles in einer Person war - Schauspieler, Regisseur, Dramaturg, Pressesprecher und guter Geist. Hinter vorgehaltener Hand erzählten die Einheimischen im Festzelt des Theaters die Geschichte des wunderlichen Mannes: Früher, hieß es, habe er selbst am hiesigen Stadttheater gespielt und nach einer kleinen Erbschaft in der Vorstadt sein eigenes Theater gegründet. Wie ein riesiger Bär kam er zurück in sein altes Stadttheater, inzwischen sein eigener Herr, er blieb, wie eine Schauspielerin sagte, ein «schwieriger Mensch», aber was heißt das schon. Er war immer da, immer laut bei der Sache und gut zu den Autoren. Eines Tages lud er den jungen Autor im Festzelt zum Wein ein und bei dieser Gelegenheit in sein Theater.
Das Theater des Schauspielers Grazer, so war sein Name, erinnerte an jene Sorte von Familientheatern, wie sie gelegentlich in den alten Filmen von Ingmar Bergmann zu sehen sind - simple Kulissen, die Künstler sind Laien, das Theater ein Lagerhaus mit niedriger Decke. Auf dem Spielplan standen Stücke von Anton Tschechow, Horváth, Botho Strauß und Theresia Walser. Die Ausstattung war den Verhältnissen offensichtlich abgetrotzt, doch im Hinterhof eines Gewerbeparks führte er diese großen Dramen mit einem Ensemble aus Zahnärzten, Studenten und Buchhändlerinnen auf und die Aufführung, die ich sah, war jene Form von Theater, die es immer geben wird – ohne Prätention, Menschen die spielen wollen spielen vor Menschen, die ihre Geschichten und Figuren lieben. Nie hat dieser Theateraussteiger Grazer, dieser Wiener Impressario in Heidelberg, auf dem Stückemarkt sein eigenes Theater erwähnt. Seit ich eines Abends zu ihm gefahren bin, wußte ich, dass er im Anschluß, wenn die Diskussionen vorüber ist, wie jeden Abend - mit seinem Leimeimer am Lenker - durch die Stadt fährt und illegal Plakate für die nächsten Vorstellungen klebt. Einer, ohne den das Theater nicht lebt. Es waren die Begegnungen mit Menschen wie ihm oder meinem alten Verleger, die mir halfen, von diesem jungen Autor zu diese «Ich» zu werden, als das ich jetzt sprechen kann und meine alten Texte von früher immer besser ertrage, ja, bisweilen sogar staunend und mit Freude lese.
Das Leben verläuft im Grunde gegen die Schrift, versucht ihr Raum zu nehmen. Die Jugend, scheint mir, ist jene Zeit, die man sich selber nimmt. Sie hat mit Alter nichts zu tun. Irgendwann merkte ich, dass der «Stückemarkt», selbst ein Stück Zeit ist, das Zeit zum Schreiben kostet. Lohnt sich der Besuch? Ohne den Fluss, das Festzelt, den Herrn Grazer, diesen Aussteiger wie auch mein Verleger einer war, wäre mein Leben vielleicht in eine andere Richtung verlaufen, so wie auch der Neckar Kurven nimmt, mal still und breit fließt oder schneller, aber nie aufhört durchs Land zu strömen.
in: «Heidelberger Stückemarkt. Fünf Jahre Forum junger Autoren. Eine Dokumentation», Theater Heidelberg 2000