«Die Verkörperungskönner»
Wo haben sie das bloß gelernt? Was Schauspieler heute alles können müssen.
Eine Nachbetrachtung zur Auswahl des Theatertreffens 2017
- Auszug -
Was heißt Schauspielen heute? In den vergangenen Festivalwochen zeigte das Berliner Theatertreffen eine Auswahl sehr heterogener Spielweisen. In Forced Entertainments «Real Magic« sind es feine darstellerische Nuancen, die das Monströse einer einfachen Situation durch viele Wiederholungen und kleine Abwandlungen sichtbar machen. Simon Stones Inszenierung von «Drei Schwestern» lebt von ähnlichen Verschiebungen, die Tschechows Klassiker nicht nur in einer neuen Inszenierung zeigen, sondern grundlegend transformieren – in eine andere Erfahrungswelt, andere Sprache, andere Erzählweise. Der Abend wirkt wie eine Uraufführung, und die Figuren wie auch die Art, wie sich ihr Dialog phasenweise zwischen ihnen bewegt, haben sich nach hundert Jahren stark verändert.
Durch die Drehbühne verliert das Geschehen in der Inszenierung sein fixes Zentrum, und die Bezüge zwischen Tableau, Sprecher und Text sind ständig in Bewegung. Der Redefluss mäandert durch das auf zwei Etagen verstreute Personal, ohne dass immer genau zu verorten wäre, welche Dialogpartie zu wem innerhalb der sich drehenden Figurentableaus und Räume gehört. Eigentlich geschieht hier nichts sonderlich Theatralisches, sondern alles bleibt beiläufig, da die Abstraktheit des sich drehenden Glaspavillons, der Gleichzeitigkeit von drinnen und draußen eine ganz eigene, zeitgenössische Spannung erzeugt.
In «Die Borderline Prozession» von Kay Voges spielten die Schauspielerinnen und Schauspieler ebenfalls streckenweise fernsehrealistisch, waren aber ständig eingebettet in ein offenes Set von Dreharbeiten und filmischen Schauplatzwechseln, Loops und choreografierten Bildern, die ein ständiges Zuviel an Informationen erzeugte, durch das sich jeder Betrachter seinen eigenen Pfad des Verständnis und der Querbezüge bahnen musste. Die Raumbühneninstallation, die von der Kamera und Darstellerprozession unablässig umrundet wurde, schuf eine konstante Vervielfachung des Blicks – man sah die Schauspieler in ihren Wohnraumzellen, gleichzeitig aber auch auf den Videoleinwänden über den Dächern des riesigen Spielfeldes. Ein Spielort, der kein Off mehr kennt, wie er im Theater sonst nur schwer zu erzeugen ist: die Gleichzeitigkeit eines Geschehens in unterschiedlichen Räumen in einem Meta-Raum zu vereinen und somit einen Latenzraum zu schaffen, in dessen jeder einzelnen Kammer eine Story schlummert oder schon läuft, sobald mein Blick sie aktiviert.
Auch in «89/90» von Claudia Bauer gab es immer wieder Szenen, in denen die Darstellerinnen hinter einer Gaze eine Szene live spielten, aber im Grunde nicht zueinander, sondern mit der sie begleitenden Videokamera, die ganz andere Betonungen und Haltungen schuf. Dieser beobachterbewußte Realismus wurde kontrastiert durch große Chorpartien, die von fern, von sehr fern, an Einar Schleefs und Heiner Müllers Sprechkunstwerke erinnerten – mit einem effektvollen Manierismus, der in Ulrich Rasches Münchner Inszenierung der «Räuber» auf die Spitze getrieben schien, gesteigert noch durch Ari Bejamin Meyers orchestrale Musik.
Gibt es so etwas wie einen demokratischen Chor? Eine Formation, die nicht über den Einzelnen herrscht, sondern jedem seine Stimme lässt? In Herbert Fritschs Stückerfindung «Pfusch» erscheinen die Schauspieler und Schauspielerinnen nicht als Marschblock zorniger Darstellerathleten; sie bleiben eine verletzliche und puppenhaft überdrehte Truppe von Individuen, in der jeder seinen Stil bewahrt und doch das gleiche Lied singt – über die Entgrenzung des Realen im Spiel und die große Pleite, weil irgendwer die schöne Maschine demoliert, die das Leben einer anderen Welt auf der Bühne braucht und schafft. Und dann denke ich natürlich an Thom Luz Kunst der fragilen Form, des «schwierigen Theaters», wie er es nannte, das statt auf brachiale Dramatik auf Stimmung, aufs Bild und Gesang setzt. Diese Spielform fand bei Ersan Mondtag und Olga Bach ihre Fortsetzung: Auch hier treten die Worte in den Strom der Gesamterzählung ein, der sich aus Dingen, Klängen und Choreografien speist, so dass der Abend zugleich Installation, Tanz und Konzert ist. Die Bühne wirkt, als hätte David Bowie in seiner Berliner Phase ein Bühnenbild entworfen und die Figuren, wie der Regisseur sagte, direkt aus den Gemälden von Ernst Ludwig Kirchner auf die Bühne gestellt. Schwer zu sagen, was die Schauspieler hier noch darstellen – die Substanzen, aus denen sich bei Ersan Mondtag eine Figur zusammensetzt, sind einem weiten Spektrum kultureller Ausdrucksformen entnommen, Text ist nur eine davon.
Die Schauspielerinnen verkörpern in dieser Aufführung des Stücks «Vernichtung» zwar literarische Figuren, aber sie wirken wie die monströsen Gestalten eines neuen Expressionismus, der eine Sprachexplosion auslöst. Olga Bach erzeugt in ihren Dialogen einen knisternden, abgründigen Zustand, einen Trip, der auf keine Entwicklung zuläuft, sondern ein Leiden entfaltet. Wie im Rausch sprechen sich ihre Figuren nicht nur als Individuum aus, sondern machen den Slang einer Zeit mit den unterschiedlichsten Redeformaten vom Geschäftssprech bis Liebessprech hörbar – sie sprechen mit der schamlosen Offenheit von Chatdialogen und im nächsten Moment stürzen sie ab in einsame, radikale Gedankenwege. Ersan Mondtags Figuren sind durchlässig für die Sprachcodes und Posen einer Generation, deren Zeichenwelt durch Computerspiele geprägt wurde, genauso wie durch die Fernsehserien, Musikvideos, die Gesten der Mode und des klassischen Balletts oder Stummfilms.
Für die Schauspielerinnen und Schauspieler in «Vernichtung» scheint das Modell ihrer Präsenz nicht mehr die gefakte Natürlichkeit der Fernsehpsychorealismus zu sein, mit dem Simon Stone sein Spiel trieb, sondern der Körper selber, in den die vielen Stimmen unserer Zeit hineinfahren, ist hier der Leihkörper eines Avatars. Er ist der Rohstoff für Jonas Grundner-Culemann, der sich immer wieder federnd auf der Stelle bewegt, in der Warteschleife der digitalen Spielfiguren, die stets leicht schwanken, um lebendig zu wirken. In genau diesem Latenzmodus der Avatare befinden sich die Darsteller von Ersan Mondtag, die gespannt und doch ausdruckslos auf der Bühne eine seltsame Art von Schreiten vollführen, von Ausschau halten und nichts sehen – all das sind Präsenzbeweise von Figuren, die zugleich engagiert und tot zu sein scheinen.
Olga Bach ließ ihre vier Figuren durch den Schlund der Hölle direkt ins Paradies purzeln und da standen sie dann in Trance wie die Zombis aus «The Walking Dead», umgeben von antiken Gipskulpturen und viel Grünzeug wie in einem Erlebnispark. Die Männer und Frauen dieses Stückes können sich hier selber gar nicht anders als ebensolche narzisstische Plastiken begreifen, als Plastikmenschen: «Wir sind Haribo», heißt es im Text. Nichts ist mehr nur Natur in diesem arkadischen Vivarium des Bühnenbilds. Wo lernt ein Schauspieler von heute diese disparaten Formen anderer Medien und Rede- und Bewegungsformen als Material zu begreifen und zur Figur zu gestalten?
Um das in Figuren zu binden, all diese disparaten Ideen, tonalen Wiedersprüche, diese simultanen Kreuz- und Querempfindungen, braucht es solche seltsame Wesen, die auf der Bühne und manchmal auch mitten unter uns dieses Kunststück vermögen, das Feld dessen, was ein Mensch in seinem Leben erfahren kann, bis an die Grenze auszuschreiten, dabei Neuland zu entdecken und die kleine Fahne unserer Existenz in fremde Welten zu tragen. Dafür braucht es diese Verkörperungskönner, denen es gelingt, solch extremen Beobachtungen in eine Erfahrung zu verwandeln und ihr eine Form zu geben, die bisweilen sogar nach Menschen aussieht, die wir kennen. Sehr erschrocken begriff ich dieses «Abenteuer der Verkörperung» bei Milo Raus gefährlichem Kindertheater. Wie schafft man es, dass Kinder Figuren und Situationen darstellen, in die ihr eigener Erfahrungshorizont noch gar nicht hineinreichen kann? Was sagt das über das Machtverhältnis zwischen Regisseur und kindlichem Darsteller? Milo Rau hat diese Frage in seine Inszenierung mit aufgenommen: Es sind die Kinder, die über das Darstellen sprechen, über ihre Darstellung von Erwachsenen, die über das entsetzliche Schicksal von Kindern in ihrem Alter reden. So kommt keine falsche Selbstverständlichkeit auf, die Reproduktion der Traumata bleibt ständig Gegenstand der Hinterfragung durch die Darstellerinnen und Darsteller selbst.
Immer wieder blicken die Kinder die Form, in der sie spielen, selber an, wie ein Instrument, das benutzt wird. Es ist diese transparente, offensichtliche Künstlichkeit, die dann wiederum eine starke Realität erzeugt. Diese Komplikation meistern die Kinder bei Milo Rau genauso bravourös wie die Darstellerinnen und Darsteller von Ersan Mondtag und ohne diese Selbstirritation würden die gleichen Geschichten wahrscheinlich reaktionär oder abstoßend wirken.
Was soll man lernen auf den Schauspielschulen? Die szenischen Texte bleiben bestehen, sie sind Erfahrungscontainer; aber die Sprachen, die darin eingeschlossen wurden, treffen, wenn man die Türen dieser Container öffnet, auf die Sprachen unserer Zeit. Auch wenn die literarischen Texte überdauern - die Sprache als solche wandelt sich. Von Zeit zu Zeit geht sie ein in die aufgeschriebene Welt und überdauert dann als der Jargon einer Epoche wie bei Schnitzler, Tschechow oder Botho Strauß. Aber wie kommen diese neuen Sprachen, wie sie in einem sich wandelnden Wortschatz, anderen Redehaltungen, Referenzen und Konventionen sichtbar werden, in der Kunst der Darsteller und Darstellerinnen zur Wirkung? Wie artikuliert sich dieser neue kulturelle Schatz, wie er aus der Welt der digitalen Technologien, der Jugendkultur, der Sprachvermischung und -färbung durch unsere kulturell divers werde Gesellschaft in den Spielhaltungen der Bühnenkünstler zum Ausdruck? Es sind ja übrigens nicht nur die Texte, durch die jene neue Sprache eines Zeitalters plötzlich zur Form wird und zur Quelle neuer Spielweisen. Schauspieler sind aktive Produzenten, Selberdenker und Autoren eines individuell verantworteten Stils – in der Kreationskultur unserer Tage führen sie zu neuen Zeigeformen, viel mehr als dass sie geführt werden.
Es ist, so macht dieses Theaterreffen deutlich, ein Abenteuer ohne gleichen, heute Schauspieler oder Schauspielerin zu sein und sich mit dem schwierigen Geschäft der Repräsentation zu beschäftigen. Was nichts anderes heißt, als die Sprache des Theaters, wie sie in den kanonischen Texten, in den Schauspielschultraditionen und Rastern der Kritik weitergegeben wurden, durch das eigene Unvermögen zu bereichern - durch den Abgleich mit der Sprache unseres Zeitalters, der aktuellen Welt, die ein fruchtbares Stottern und Experimentieren erzeugt. Unsere alltagsweltliche Realität, an der sich dieser Spielstil orientiert, ist natürlich heute von Dispositionen geprägt, die es zu Tschechows Zeiten nicht gab und die also andere Empfindlichkeiten, Nervositäten, Codes, Übersprungshandlungen und Geschwindigkeiten in der Kommunikation erzeugen. Was übrigens auch umgekehrt gilt - auch wir finden nur beschränkt Zugang zu den Codes und impliziten Regeln der Subtextwelt von Tschechows Zeit. Welche Herausforderungen halten sich wandelnde Produktionsformen und digitale Ästhetik für die Schauspielkunst bereit? Einen kleinen Eindruck davon konnte das diesjährige Theatertreffen geben.
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