«Zukünftige Generationen» - das klingt wie aus Tschechows «Drei Schwestern»:
CÉCILE B. EVANS UND ANDREW SNYDER-BEATTIE-GESPRÄCH
CBE: Du hast einmal einen möglichen Konflikt zwischen intergenerationellen Problemen und persönlichen Problemen beschrieben. Wie groß ist die Bedrohung der Menschheit durch den Individualismus?
ASB: Ziemlich groß, wahrscheinlich. Besonders, da die Technik immer mächtiger wird. Es hängt davon ab, würde ich sagen, was Du mit Individualismus meinst …
CBS: Im landläufigen, von den Medien propagierten Sinn: dass jedes Individuum einzigartig und besonders ist; in dem Sinn, dass seit den 1980er-Jahren jede Generation als «Ich-Generation» bezeichnet wurde; und Individualismus auch als Konzept, wie Humanismus.
ASB: Er trägt jedenfalls nicht gerade zur Nächstenliebe bei, und das ist schade. Ich weiß nicht, vielleicht ermutigt er die Menschen dazu, kreativer zu werden, größere Risiken bei dem Bestreben einzugehen, das, was sie für ein sinnvolles Leben halten, auch zu erreichen.
CBE: Von Deiner Vogel-Ölverschmutzungs-Analogie ausgehend gehe ich einen Schritt weiter und stelle mit leichter Hand eine Verknüpfung zwischen Individualismus und Kapitalismus her. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kapitalismus irgendwann andere große existenzielle Gefährdungen wie den Klimawandel oder die künstliche Intelligenz in den Hintergrund drängt? Wie groß ist die existenzielle Gefährdung durch den Kapitalismus selbst?
ASB: Er ist ganz offenbar kein ideales System, soviel ist sicher. Der Kapitalismus stellt ein existenzielles Risiko dar, insofern er zu etwas führt, das auf Dauer ein Übel bleiben würde. Er könnte, falls er sich auf der Erde irgendwie als dauerhaftes System etablieren sollte, direkt in eine KI-Katastrophe oder einen Klimawandel führen, und damit zur Auslöschung des Menschen. Ich mache mir, würde ich sagen, mehr Gedanken über den Individualismus als über den Kapitalismus. Es ist viel besser, die aus dem Individualismus entstehenden Fragen anzupacken, als die globale Weltordnung verändern zu wollen. Natürlich wäre es großartig, wenn wir den Kapitalismus durch etwas anderes ersetzen könnten, aber alles hat seine Kosten und Vorteile. Es ist unklar, was danach geschehen würde.
CBE: Es steht ja zur Debatte, ob das System, das den Kapitalismus ablöst – irgendein System, zu dem wir wegen des Scheiterns des Kapitalismus übergehen müssten – im Ergebnis besser ist, mehr oder weniger erfolgreich ist?
ASB: Dass irgendein globales System auf Dauer besteht, ist wohl eher unwahrscheinlich. Der Kapitalismus existiert bei Licht betrachtet gerade einmal seit ein paar hundert Jahren. Wir haben eine ganze Menge unterschiedlicher Dinge ausprobiert. Wir haben in Jäger-und-Sammler-Horden gelebt. Wir haben in Reichen gelebt. Wir haben in allen möglichen Systemen gelebt. Wenn wir weit aus unseren engen Zusammenhängen herauszoomen, erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass sich, was wir im letzten Jahrhundert angetroffen haben, für die nächsten zwanzig- oder dreißigtausend Jahre als dauerhaftes System etablieren kann. Der Kapitalismus stellt eines der großen Probleme dar, aber er ist ein Problem, das aus meiner Sicht lieber kommende Generationen angehen sollten. Ich möchte mich mit Problemen befassen, die vor allem darüber entscheiden, ob es in Zukunft überhaupt noch kommende Generationen geben wird.
CBE: Glaubst Du, dass wir in einer einzigartigen Zeit leben?
ASB: In einer unglaublich einzigartigen Zeit.
CBE: Warum?
ASB: Vor siebzig Jahren haben wir die Atombombe entdeckt. Das ist ein geschichtlicher Einschnitt. Wir gehören zu den ersten Generationen, die in einer Welt leben, in der wir uns selbst auslöschen können. Ich kann mir vorstellen, dass in den nächsten paar hundert Jahren eine neue Technologie entsteht, die die menschlichen Bedingungen radikal verändert: Technologien, die das Potenzial haben, den menschlichen Körper umzugestalten und das Aussehen von Gesellschaften zu verändern. Wir besitzen das Potenzial für andere Technologien, die extrem gefährlich werden und zu den besagten existenziellen Gefährdungen führen könnten. Wenn wir diese Übergangsperiode überleben – die Zeit, in der diese Technologien entstehen und wir damit umzugehen lernen –, dann gibt es eine Chance auf eine wirklich glänzende und lange währende Zukunft. Ich bin nicht der Einzige, der glaubt, dass unser Jahrhundert das Jahrhundert ist, in dem sich entscheidet, ob wir es schaffen oder ob wir scheitern, und dass wir in einer äußerst speziellen Zeit leben. Das macht es umso dringlicher für uns, an diesen Problemen zu arbeiten. Denn diese Gelegenheit werden künftige Generationen – ungeachtet, ob die Probleme gelöst werden oder weiter bestehen – nicht mehr haben.
CÉCILE B. EVANS ist eine belgisch-amerikanische Künstlerin und lebt in London. Sie hat im Jahr 2012 den Emdash Award (jetzt Frieze Artist Award) erhalten und 2013 den Preis PushYourArt, der die Produktion einer neuen Videoarbeit für das Palais de Tokyo, Paris, beinhaltete. Sie ist die Urheberin von AGNES, dem ersten digitalen Werk für die Serpentine Galleries (kuratiert von Ben Vickers) – ein Projekt, das international über verschiedene Plattformen hinaus gewachsen ist.
ANDREW SNYDER-BEATTIE ist Forschungsdirektor am Future of Humanity Institute der University of Oxford, wo er die Forschungsaktivitäten des Instituts, die Personaleinstellung und das akademische Fundraising koordiniert. Sein persönliches Forschungsinteresse beinhaltet momentan das Ökosystem und die pandemische Modellierung, anthropische Überlegungen zum Schatten und existenzielle Risiken.
Das gesamte Gespräch unter dme Titel «Ewiges Leben» steht hier: Link