«Alles fällt»
Telefonat mit Alexej Schipenko, Bochum 31. 5. 2001
von Thomas Oberender
Thomas Oberender: Du warst in der Nachwuchsauswahl der russischen Nationalmannschaft Torhüter. Warum hast du mit dem Sport aufgehört? Alexej Schipenko: Erstens ich habe es blöd gefunden, in einer Mannschaft zu spielen - es wurde immer mehr zum Business, hörte auf, ein Spiel zu sein und ich wollte einfach nur spielen. Zweitens hat mich das Training krank gemacht, d.h. meine Nieren. Eine ernste Erkrankung? Absolut. So langsam gehen sie kaputt, zersetzen sich. Aber das ist in Ordnung. Bist du deshalb nicht zum Militär? Ich wollte Flieger werden, aber ich habe Höhenangst. Nicht im Flugzeug. Doch sobald ich irgendwo stehe, und wenn es nur fünf Meter hoch ist, will ich springen. Eigentlich nicht typisch für Höhenangst. Eine besondere Art. Ich will sofort springen. Mich hinabstürzen. Ich hasse eigentlich das Gefühl, dass ich springen will. Klingt, als ob du doch zum Militär hättest gehen sollen. Ich habe ein Stück darüber geschrieben. «Komikaze.» Stichwort Sucht. Warum hat Gott die Menschen mit Süchten ausgestattet? Weil wir keine Götter sind. Einen Unterschied muss es ja geben. Ich weiß nicht. Ich denke nicht wirklich darüber nach. Wir brauchen Gott nicht zu fragen. Es ist, wie es ist.
Hast du in Berlin die Neo Rauch Ausstellung gesehen? Ja, Neo Rauch, er ist unterhaltsam. Du siehst, dass er arbeitet, dass er kein Spinner ist. Er ist modern, gleichzeitig mit dem Hauch Romantik aus der Mitte des Jahrhunderts, Aufbruch, Arbeit, ein bisschen Sozialismus, du merkst, dass er lebendig ist - die Farben sind gut, die Komposition ist gut, er arbeitet. Er hat ein Konzept, es ist nicht bloß Konzeptkunst, seine Bilder sind ein bisschen schmutzig, er ist ein Mensch, funktioniert, macht seine Sachen, er lebt, weißt du - alles in Ordnung. Er hat alles, was zur Malerei gehört. Wie lange lebst du schon in Deutschland? Seit 1992. Und was vermisst du am meisten? Alles. Was gefällt dir am besten? Nichts. Warum bist du noch da? Ich bin feige. Bist du ein russischer Autor? Auch.Was noch? Ein deutscher? Ein englischer, weiß ich nicht. Französischer? Aber «auch», ist gut. Wenn du «auch» sagst, was meinst du damit? Ich habe nie geglaubt, dass ich ein russischer Autor bin, aber jetzt glaube ich es ziemlich fest. Ich weiß nicht, was das Russische genau ist – es ist ein Geheimnis. Ich spüre das auf eine mysteriöse Weise. Ich kann das nicht genau sagen. Ich selbst bin unordentlich, ein wenig chaotisch, ich trinke zuviel, aber das gehört nicht nur zu Russland; ich müsste ein paar Bücher schreiben, vielleicht könnte ich es dann sagen. Was passiert, wenn ein für die Raumfahrt berufenes Volk wie das russische nicht mehr das Zepter in der Hand hat? «Mir» bedeutet im Russischen zweierlei: «Welt» und «Frieden». Und natürlich weiss ich nicht, was sie gemeint haben - «Welt» oder «Frieden». Jedenfalls, dass die Raumstation abgestürzt ist, ist ein Symbol: dass alles fällt. Ich weiß nicht, ob dieses Volk noch berufen ist. Vielleicht war es ein berufenes Volk. Ich glaube nicht mehr an das «Volk» oder die «Berufung». Jeder hat seine Chance, weißt du, und irgendwann gehen die Türen zu. Wie bei Kafka. Du hast eine Tür, und irgendwann ist sie zu. Und das kann auch mit einem Volk so sein, aber das weiß ich nicht. Grundsätzlich denke ich in letzter Zeit nicht mehr über solche Sachen nach, Ich versuche statt dessen, mich zu finden. Klingt gut. Geht das? Nicht, dass ich keine Meinung mehr habe zu diesen Dingen. Ich habe eine Meinung, aber ich glaube nicht wirklich an meine Meinung. Ich glaube nicht, dass ich an meine Meinung glaube. Andersherum: Welche Markenprodukte hat Russland hervorgebracht? Pelmeni. Vodka. Matroschkas. Kaviar. Plinsen. Kosmonauten. Kolchosen. Und was hältst du von Bochum? Bochum? Das ist für mich die Wohnung von Ernst. Ich weiß, wenn ich in Bochum bin, finde ich den Weg zu Ernst, dann gehen wir in den russischen Laden, holen Pelmeni usw. Das ist das Glück, mehr brauche ich nicht. Und das Theater? Der Weg zu Ernst, der Weg zum russischen Laden und ins Theater, das ist Bochum. Ich schreibe schon seit langem für Leute, die ich kenne. Schauspieler, Regisseure. Außerdem inszeniere ich; es kostet mich immer mehr Kraft. Vielleicht schreibe ich einen Roman. Oder Lieder. Ich möchte gerne wieder Lieder schreiben. Warst du Musiker? Ich habe eine Rock’n Roll-Vergangenheit, ich habe gesungen, Texte geschrieben, Gitarre gespielt. Wenn du ein russisches Rocklexikon aufschlägst, dann findest du Alexej Schipenko. Ich habe zwei Bands gegründet: Wir standen auf den schwarzen Listen des KGB, alles was man braucht. Die Musik war eine komische Mischung zwischen Police und Pink Floyd – wir haben zyklische Alben gemacht, immer durchgehende Geschichten, drei illegale Platten. Als ich die zweite Band gegründet habe, war das ein Skandal, sie bestand nur ein Jahr. Die erste war ziemlich bekannt. Deshalb habe ich damit aufgehört. Weil du bekannt wurdest? Ja. Mitte der achtziger Jahre kam die Perestroika, Ende der achtziger konnten wir auf einmal überall spielen, die großen Bühnen, plötzlich ging es nur noch um Geld. Der Raum, den Rock n’ Roll früher geschaffen hat, war der Underground, niemand konnte dich kontrollieren, entweder du warst illegal oder legal, du hast dich entschieden und konntest in den Knast kommen, aber du warst frei. Dann kam die Perestroika, der Underground wurde plötzlich zur Oberfläche, kommt an die Oberfläche, jeder bekommt 100 Dollar für einen Auftritt und das ist uninteressant; wir haben keinen Gegner. Das kenne ich aus der Zeit nach der Wende. Sicher. Genau so. Im Westen war das nicht anders. Wie hießen deine Bands? «Teatr» (Theater) hieß die erste Band, die zweite «Can Guru», ein Wortspiel. Alexej, wenn du dich als Autor vorstellen würdest, was wäre dir wichtig? Ich habe einen Roman geschrieben, 1998. «Das Leben Arsenijs», erschienen im Suhrkamp Verlag. Und dann «Das Buch der Koinzidenzen», bei der Edition Solitude, 1997. Das ist der erste Teil eines Romans, den ich inzwischen fertig geschrieben habe. Von meinen Theaterstücken, unbedingt: «Suzuki I» und «Suzuki II», inszeniert von Thomas Ostermeier in der Baracke am Deutschen Theater in Berlin. Und «Zyricon», aufgeführt von Ernst Stötzner am Schauspielhaus Zürich. Wann bist du geboren? 1961. Was hat die Welt 1961 bewegt? Juri Gagarin ist als der erste Kosmonaut ins All geflogen. In Russland gab es eine Währungsreform. Und ich wurde geboren. Am 3. Oktober – dem Tag der deutschen Einheit.
(Das Gespräch entstand anläßlich der Uraufführung von Alexej Schipenkos «Dreiunddreißigstes Kapitel…» am 13.5.2001, Regie Ernst Stötzner. Die im Berliner Tagesspiegel veröffentlichte Fassung wurde leicht gekürzt.)
Alexej Schipenko in «Sunrise/Sunset», © Pjotr Buslow