«Sucht»
Am Rand ist es wahrer
Über die Kuratorin und Festivalleiterin Frie Leysen
von Thomas Oberender
Sucht ist das Schlüsselwort, das mir einfällt, wenn ich über Frie’s Leben und Schaffen für das Theater nachdenke, wobei «Theater» ein zu enger Begriff ist – Musik, Installationen, Aktionen, ihre Neugier umfasst barocke Musik genauso wie koreanischen Gesang, sie hat weit mehr Hinterland als jene 80 Prozent aller Länder der Erde, die sie bereist hat. Sie hat einen eminenten Sinn für Schönheit, unabhängig von Moral und Gedanken sieht sie diese eher als andere sie entdecken und befreifen. Sucht ist in diesem Zusammenhang nur Metapher für eine sehr spezielle Perspektive, die das Schaffen von Frie Leisen prägen: Sucht ist ihr sie antreibender Motor, Kunst sein Treibstoff. Der Süchtige ist stets in Bewegung, «sucht», im Deutschen ist dieser Doppelsinn des Wortes erhellend, seine Erfüllung. Sucht ist Suche.
Durch das prinzipiell unstillbare Verlangen des Süchtigen bleibt dessen Sinn wach für einen Zustand des Mangels, der Inkomplettheit, das Kostbare, das wir nicht haben. Sehnsucht ist die Sucht, genau das herbei zu sehnen, wobei der Gegenstand der Sehnsucht mehr oder weniger unbestimmt ist, d.h. sich auf alles übertragen kann. So erzeugt Sucht einen Bruch. Für den Süchtigen wird die Welt zu Material, das potentiell zur erhofften Erfüllung führt. Der Süchtige weiß um eine Wirklichkeit neben der anerkannten Realität, mit eigenen Netzwerken, Regeln, Preisen. Sucht macht einsam. Sucht desillusioniert. Sucht bringt eine Ordnung in die Welt – der Süchtige kennt seinen Feind: die Oberen, die Mächtigen, die Herrschenden, die Zufriedenen, die Ausbeuter, die Angstmacher, die Leute mit schlechtem Geschmack, die Heuchler. Mit ihnen spielt er sein Spiel, lockt, reizt, testet die Grenzen aus. Der Süchtige genießt es, wenn die Masken fallen, weil er ihr Vorhandensein am klarsten spürt. Der Süchtige weiß: Am Rand ist es wahrer. Er riskiert sich auf seinem Grenzgang. Sucht ist Obsession, ein Pendeln zwischen Gier und Ekel und Glück und Rausch. Der Kunstbetrieb wird von denen, die ihn betreiben, nicht geliebt. Aber sie lieben die Kunst. Der Süchtige ist außer Kontrolle und vollkommen unter Kontrolle. Sucht ist ein Schlüssel oder eine Art Navigationssystem – der Süchtige sieht Zeichen, die andere nicht erkennen. Der Süchtige ist ein Experte und kennt seine Stoffe, deren Herkunft, das Netzwerk, die Codes, die Dealer. Um das Erlebnis, das er zum Leben braucht, ja, das ihm das eigentliche Leben ist, zu finden, immer wieder neu, und zwangsläufig variierend, nimmt der Süchtige an Entbehrung und Strapazen alles auf sich. Der Süchtige ringt und hadert mit seiner Abhängigkeit. Frie Leysens Stoff ist die schöne Droge Kunst. Grausamkeit und Schönheit bei ihr in eins gemischt. Diesen Stoff zu besorgen, noch besseren Stoff zu besorgen, guten Stoff, und dabei aufzupassen, dass keiner zu fett und bequem wird, der in diesem Spiel mitspielt, ist ihr Leben. «Our role is not, to please – is to disturb!»