«Activate Objects. Activate Memories. Activate alternative Futures»

Über die Ausstellung «Strange Seed» von Fatmir Mustafa - Karllo

Kuratiert von Thomas Oberender

10.05 – 04.06.2023, Natioalgalerie des Kosovo, Pristina 

Kosovo zeigt die Geschichte Osteuropas in einem Brennglas und der albanische Künstler Karllo Mustafa Fatmirs ist ihr Erzähler. Er wurde 1984 in Konjare, Nordmazedonien, geboren. Seine Familie konnte 1989 nach Pristina zurückkehren, wo er seither lebt, abgesehen von Studienaufenthalten in Finnland und seinem Wohnsitz in New York. 

«Strange Seed» versammelt eine Auswahl aus verschiedenen Werkgruppen Karllos. Zeitgeschichte, Archive und Langzeitwirkungen sind zentrale Themen in seinem Werk. Sie setzen sich auf unterschiedliche Weise mit der Ablehnung auseinander, die Menschen durch die ausgrenzende Politik von Staaten, dem kapitalistischen Markt oder autoritären Strukturen erfahren. 

Fatmir Mustafas - Karllos Arbeiten sind engagiert, nicht im Sinne von Kunst als Projektionsfläche privater Erfahrungen, sondern als eine dem Material eingeschriebene Zeugenschaft. Seit gut zwei Jahrzehnten stehen viele seiner Werke im Zusammenhang mit seinen Performances und Interventionen, die Räume und soziale Prozesse neu rahmen und mit einer alternativen Perspektive verbinden. Die in der Ausstellung «Strange Seed» gezeigten Werke sind situationsbedingt vor allem in Hinblick auf konkrete historische Räume und öffentliche Orte, aus denen das verwendete Material stammt und auf die es zugleich verweist. Arbeitsschutzkleidung, Asphalt, historische Dokumente – sie sind die «Strange Seed», die durch den Künstler in der Zeit weitergegeben werden und in seinem Werk als eine rebellische und alternative Form der Erinnerung aufgehen.  

Dabei sind Samen sowohl Dinge wie auch der Ursprung vitaler Prozesse. Als Frucht sind sie Lebensmittel, etwas, das als landwirtschaftliches Produkt erzeugt und verkauft wird. Und zugleich ist jeder Same auch ein Inbild reiner Potentialität, einer latenten Quelle von Entwicklung, Wachstumsprozessen, Leben. «Strange Seed» sind dabei jene Früchte, die aus der Art schlagen oder fremd im jeweiligen Kontext einfach nur wirken. Als unerwartete oder unbeabsichtigte Abweichung stiften sie einen abweichenden Blick auf die Regel. Das Aufhorchen, das sie erzeugen, de-normalisiert die Realität und macht Übersehenes sichtbar.

Einige der in der Ausstellung gezeigten Objekte entstammen oder dokumentieren performative Vorgänge – die weißen Schweißtücher, mit denen sich die Arbeiter und Arbeiterinnen auf den Straßen von Elbasan in der Begegnung mit dem Künstler abtrockneten, oder die Marmorbüste des Künstlers als Elvis Presley, die sich auf seine «Anyways, Always» Performance 2012 in einer finnischen Sozialstation bezieht, die in «Strange Seed» in mehreren Fotoserien dokumentiert wird.

Auch die Neonlicht-Skulptur «its difficult, you better stop it, try something else” ist in ihrer Entstehung mit Performances verbunden, in denen Karllo die Situation des Künstlers und das Verhältnis von Kunst und Kunstmarkt reflektiert, darunter in Aktionen wie «Meet the Curator” (2007) oder Karllos Installation «The accidents of Rose’s» (2008) in dem von Sislej Xhafa kuratierten Projekt «Barber Shop» in Pristina. In ihr saß der Besucher auf dem Friseurstuhl einem Spiegel gegenübersaß, vor dem sich – stellvertretend – an Fäden von der Decke herabhängende Portraits eines prominenten Kurators bewegten. Zu diesem Werkkomplex zählt auch die Skulptur «The artist must stand», mit der die Ausstellung «Strange Seed» eröffnet.

Eine spezifische Wahrnehmungssituation erzeugen in der Ausstellung aber auch Arbeiten wie das Bild «Rapid Eye Movement», in dessen aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzen Glasfläche sich die Betrachter in der Galerie selbst auf gebrochene Weise spiegeln. Auf die Kreation ungewöhnlicher Erlebnissituation zielen auch der weiße und der dunkle Raum aus der Serie «History oft the Misery», in denen die Besucher mit dem Licht ihres Smartphone die phosphoriszierenden Inschriften der Häftlinge entdecken können.

Wie in der Skulptur «The artist must stand» sind viele Arbeiten Karllos darauf angelegt, den Betrachter in den Raum des Werkes aufzunehmen hinterlassen dabei oft eine süß-sauere Erfahrung: Kann man einen Teppich aus Arbeitskleidung wirklich betreten? Wonach duften diese luftigen, weißen Tücher in der großen Glasbox?

Viele Arbeiten Karllos entwickeln eine skulpturale Auffassung von Materialien, die spezifisch für konkrete Orte sind, denen sie entstammen und auf die sie verweisen. In Fundstücken wie Asphaltplatten, historischen Dokumenten und verstaubtem Leergut in ehemaligen Fabrikhallen oder den Inschriften von Gefangenen entdeckt der Künstler die sich in ihnen überliefernden politischen Prozesse und individuellen Schicksale. Werke wie die Lichtboxen der Reihe «Moon» oder Asphaltbildern der Werkgruppe «Nightmare» bringen das Material dabei in eine serielle Form, die das gefundene Objekt abstrahiert, zu Staub zerkleinert wie in der Serie «Rapid Eye Movement», in leuchtende Farbtafeln wie in den «Moon»-Boxen verwandeln oder die uniformen Einzelstücke unterschiedlicher Arbeitsschutzbekleidungen zu einem abstrakten Teppich verarbeiten wie in «Seen».

Karllos Arbeiten sind nie nur «schön», obgleich sie vital und konzeptionell raffiniert sind. Sie verbergen ihre Narration in mehrdeutigen Situationen und Zeichen, die ihrerseits eine eigene Materialität und Geschichte ins Werk mit einbringen und darin bewahren. In diesem Sinne sind viele von Karllos Arbeiten mit dem Konzept von Archiven verbunden. Sie sind eine Sammlung spezifischer Objekte, die historische Zeugnisse wie die Briefe der Arbeiter in «Moon» oder die Inschriften der Häftlinge in der Serie «The History of Misery» zeigen und zu einer späten Neubetrachtung verhelfen, die über die konkreten Dinge weit hinausweist.

Karllos Arbeiten sind Unruheherde, in denen die Erfahrung sozialer Umbrüche, von Gewalt und Geschichte aus der Perspektive dessen erfahrbar werden, der die Selbstverständlichkeit oder scheinbare Alternativlosigkeit dieser Prozesse hinterfragt. Überall sieht er diese «Strange Seed» am Werk, die über große zeitliche Distanz unerwartete Wirkungen entfaltet. Genauso wie unsere Gegenwart jene Saat legt, die das Leben unserer Kinder und der nächsten Generationen prägen wird.

Was wird aus unserer gegenwärtigen Art zu wirtschaften, Städte und Landschaften zu verändern, Verträge zu schließen und zu brechen in ein paar Jahrzehnten oder vielleicht auch schon ein paar Monaten für eine Folge entstehen? Was bedeutet das für unser Miteinander, für die Schwachen, Schutzbedürftigen, für andere Lebensformen?

Die verschiedenen Arbeiten dieser Ausstellung aus der seltsamen Saat vergangener Zeiten erwachsen. Das Archivieren von Fundstücken, historischen Zeugnissen und die Verwendung von ready mades ist ein Strang innerhalb von Fatmirs Arbeit, genauso wie seine  Performances und Aktionen im öffentlichen Raum, aus denen einige der in «Strange Seed» gezeigten Objekte hervorgingen. Ihre Realität wird im Ausstellungsraum transformiert und bleibt dennoch situativ, da sie den Betrachter aktiviert und einlädt, selbst auf den Sockel des Denkmals zu steigen. 

Karllo bezeichet sich selbst als eine strange seed. Scheinbar unfähig, wie jede andere Sonnenblume auf dem Feld zu wachsen, reckt er seinen Kopf in eine abweichende Richtung, schaut auf die Welt anders und nimmt aus dem Boden ungewöhnliche Energien und Nährstoffe auf. Diese einerseits verquere, oft Widerstand leistende und provozierende Position ist zugleich auch ein Geschenk, denn als seltsame Saat, die aus dem Feld heraussticht, findet der Künstler einen Ausdruck für das Verborgene, die Wirklichkeit unter der Maske. Aber natürlich ist der Künstler nicht die einzige seltsame Saat - die Ausstellung zeigt, dass die Welt voll von dieser seltsamen Saat ist.

«Strange Seeds» ist eine Ausstellung über das Aufhorchen, wie es von den Bittbriefen albanischer Arbeiter an ihre Vorgesetzten ausgelöst wird, von den Inschriften der Häftlinge in Rankovics Kerkern oder den Schuttbergen herausgerissenen Asphalts - einer im grauen Belag gespeicherten Zeit, die plötzlich in riesigen Bruchstücken vor uns liegt. In der Ausstellung ist zu entdecken, wie der Künstler zwischen die Schichten des Asphalts taucht und dort nach Leben sucht, nach sich selbst und der seltsamen Saat, die das wirkliche Leben ist, wie er es sieht.

Auf der Landstraße von Pristina nach Skopje hört die Stadt nicht auf bis zur Grenze. An manchen Stellen sackt die Straße unter dem Gewicht der Lastkraftwagen weg, rutschen ganze Partien der Fahrbahn den Hang hinunter. Entlang der Straße reihen sich kleine Unternehmen, Geschäfte für alles, was die Baustellen und Häuser brauchen, Werkstätten, Wohnhäuser, Gated Communities für die Reichen, selten zeigt sich noch ein Stück Feld. Wo die Straße aufgerissen wird, kommt steinige Erde zum Vorschein. Nahe der makedonischen Grenze liegt am Hang ein großer Friedhof der UCK, umrahmt von Steinmauern und Ecktürmchen wie eine Festung. Dahinter ehemalige Felder, auf denen jetzt Steine lagern, unzählige Autofracks, geordnet nach PKW und LKW-Kadavern, abgelöst von Restaurants, Hotels, Massagesalons und neuen Häusern ohne Bewohner.

An den wenigen alten Gebäuden sieht man gelegentlich noch Einschusslöcher aus der Zeit des Krieges. Aber es dominieren die Zerstörungen des Friedens, obgleich jedes Haus, jede Halle, jeder Kiosk die Hoffnung auf ein neues Leben, Platz für die Familie, ein Zeugnis von Fleiß und der Sehnsucht nach Sicherheit ist. Noch vor zwanzig Jahren säumten die Straße große Sonnenblumenfelder. Der Fortschritt selbst ist eine Strange Seed. Er geht in einer Weise auf, die keiner so erwartet hat. Der Künstler Fatmir Mustafa - Karllo hat in seinem Leben selbst Krieg, Vertreibung, den Verlust von Obdach und Verwandten, die Armut im reichen Westen und die neuen Mächte im alten Osten erlebt.

Das Titelbild der Ausstellung zeigt den Abdruck einer Hand auf einem weißen Baumwolltuch. Offensichtlich war die Hand, die sich mit diesem Tuch den Schweiß von dem Leib wischte, die eines Menschen, der mit seinen Händen arbeitet. Die zwei Fotografien an der Stirnseite des zweiten Raumes zeigen einen diesen Arbeiter in dem albanischen Städtchen Elbasan, wie er das Tuch benutzt. Dieses Tuch ist das Leben, das Fatmir Mustaffa – Karllo durch die Zeit weitergibt. Gegen die Stimme der Entmutigung, die leuchtend von den Wänden der Galerie in der Neonschrift spricht: «It’s difficult, you better stop it, try something else.» Nur Kunst kann in diesen Sätzen den Ansporn hören, es trotzdem zu tun.

Gedanken sind Samen. Genauso wie menschliche Taten oder unerwartete Ereignisse, die in Biografien von Menschen eingreifen und sie in neue, oft unerwartete Bahnen lenken. Diese pflanzen sich in Menschen und ihren Gedanken oft über Generationen fort und nach einiger Zeit ist kaum noch zu ermitteln, woher sie kamen, wer sie brachte und was aus ihnen erwuchs, weil es zu normal wurde, um noch aufzufallen. Es sei denn, sie fallen einem als jene «Strange Seed» auf, die Mustaffa Karllo in seiner Ausstellung aufgehen läßt.

National Gallery of Kosovo, Str. Agim Ramadani, nr. 360 10000 Prishtinë, Kosovë

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