Interview mit Katrin Pauly
Der zeitgenössische Zirkus erobert langsam die Berliner Bühnen. Nicht nur an erwartbaren Orten wie dem Chamäleon Theater. Auch das vom Bund getragene Haus der Berliner Festspiele unterstützt das Genre seit diesem Jahr mit der Programmschiene «Circus». Im Festspielhaus an der Schaperstraße gastiert ab dem morgigen Freitag das britische Ensemble Ockam’s Razor mit seiner Produktion «Tipping Point». Aber was genau ist dieser zeitgenössische Zirkus überhaupt, wie unterscheidet er sich von dem, den wir aus unserer Kindheit kennen und warum wird er in Deutschland kaum finanziell gefördert? Ein Gespräch mit Thomas Oberender, dem Intendanten der Berliner Festspiele, über Zirkus als Kunstform.
Herr Oberender, welche Kindheitserinnerungen haben Sie an den Zirkus?
Thomas Oberender: Tiere, Zelte, Sensationen, Clowns. Nach dem Besuch ging man noch mal durch die Tiergehege, Dinge und Gerüche in der Art.
Und wann haben Sie den Zirkus als Erwachsener dann neu entdeckt?
Das kam in den 90er-Jahren in Berlin, als vor allem französische Theatergruppen hier zu sehen waren, die Cirque Nouveau gemacht haben, ohne Zelt und ohne Tiere, mit auf Akrobatik basierten Programmen, die eine Handlung hatten und vor allem immer magisch waren. Im Sinne einer im Theater selten zu findenden Poesie.
Was macht den heutigen, zeitgenössischen Zirkus aus?
Das einfachste Erkennungsmoment ist der Applaus. In der klassischen Zirkuswelt kommt der Applaus nach der Nummer. Im zeitgenössischen Zirkus werden Narrationen entwickelt wie im Theater und dann kommt der Applaus am Schluss.
Wie volksnah ist denn dieser neue Zirkus noch?
Ich glaube, dass er sehr zugänglich ist und im besten Fall auch ohne Prätention. Artisten können Dinge, von denen Schauspieler und Tänzer nur träumen.
Das wäre?
Die Art und Weise, mit der Artisten in der Öffentlichkeit mit Risiko und Gefahr umgehen, Naturgesetze scheinbar überwinden, ist einzigartig. Bei ihnen steht das Scheitern immer im Raum, der Ball fällt runter, man fängt etwas nicht. Davon kann ein Leben abhängen. Das zieht die Leute in Bann. Solche Fertigkeiten und diese spezielle Intelligenz kann man nicht nebenbei erwerben. Es ist eine Lebensentscheidung, Artist zu sein. Ich mag das sehr.
Warum wird das in Deutschland so wenig wertgeschätzt? Anders als in anderen Ländern wird dieses Genre hier kaum finanziell unterstützt.
Ich glaube, das hat etwas damit zu tun, dass es keinen Text hat.
Speziell in Deutschland?
Ja, Text steht hier eben für das Wertvolle, das Literarische. Die Wahrnehmung des zeitgenössischen Zirkus ist manchmal noch immer davon geprägt, dass das was mit Jahrmarkt, mit der Straße zu tun hat. Und viele verstehen nicht, dass das Teil unserer zeitgenössischen Hochkultur sein könnte.
Auch ins «Circus»-Programm der Berliner Festspiele wurden bislang nur ausländische Produktionen eingeladen.
Es könnten aber auch deutsche sein. Wir werden im nächsten Jahr noch ein Zirkus-Format gründen: «Die Originale». Das ist ein Research-Projekt, bei dem Theaterkünstler und Künstler aus der Welt des zeitgenössischen Zirkus gemeinsam Workshops machen. Wir stellen dafür im März und April das gesamte Haus der Berliner Festspiele für insgesamt zehn Tage zur Verfügung.
Vom Berliner Senat hat es jetzt erstmals Geld gegeben, für eine Residenz für zeitgenössischen Zirkus am Chamäleon Theater. Sie waren in der Jury. Wie viel Überzeugungsarbeit musste geleistet werden?
Ich finde, dass sich Kultursenator Klaus Lederer für dieses Thema sehr aufgeschlossen zeigt. Da gibt es keine Arroganz oder Geringschätzung, ganz im Gegenteil.
Wie war die Resonanz auf die Ausschreibung?
Die Bewerbungslage war sehr interessant. Meiner Meinung nach gibt es ein riesiges Potenzial. In Deutschland hat jede größere Stadt ihr Repertoiretheater, oft sind das noch Drei-Spartenhäuser. Vielleicht könnte man da mal ein Vier-Spartenhaus draus machen. Diese Häuser könnten sich öffnen, diese Kunst mitfördern und Artisten in ihre Strukturen integrieren.
Zeitgenössischer Zirkus am Stadttheater?
Ja selbstverständlich. Warum denn nicht? Man hat heutzutage Videokünstler im Ensemble, Musiker, warum nicht auch Artisten? Warum nicht regelmäßig Gastspiele einladen?
Am Haus der Berliner Festspiele gibt es neben den großen Festivals zunehmend spezielle Programmschienen wie etwa «Immersion» oder eben auch «Circus». Ist das der Weg, den Sie in Zukunft einschlagen wollen?
Ich glaube, wir müssen Schwerpunkte setzen und schauen, wo sich etwas Aufregendes entwickelt. Nicht als Einzelfall, sondern dort, wo sich ein ganzes Feld verändert. Beim Zirkus ist das gerade so. Und ich denke, unsere Aufgabe ist es auch, solche Entwicklungen in Gang zu setzen.
Für den Zuschauer wird es dabei immer schwerer, den Überblick zu behalten, an den Stadttheatern gibt es Festivals, Theater findet im Museum statt und bildende Kunst in Theatern.
Die Besucher wählen inzwischen nach Produktionen, weniger nach Institutionen aus. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Tendenz noch zunehmen wird. Der monatliche Spielplan, der einem zugeschickt wird, hat nicht mehr die gleiche Relevanz wie früher. Zuschauer informieren sich immer häufiger über Social Media und ihre Community.
Nochmal zurück zum zeitgenössischen Zirkus. Welche Entwicklung wünschen Sie sich?
Ich fände es toll, wenn der zeitgenössische Zirkus ins Repertoire der großen Stadttheater einzieht. Ich fände es wünschenswert, wenn der Hauptstadtkulturfonds es ganz selbstverständlich spartenproportional mit allen anderen Kunstformen fördert. Ich finde, dass es eine stärkere Selbstorganisation der Szene geben muss und dass wir an den großen Formaten des zeitgenössischen Zirkus mitarbeiten müssen.
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