Ein leicht verzweifelter Ton schwingt bei dem Thema «Gegenwart» mit. Er erinnert an eine Spinning-Trainerin, die trotz eines massiven Katers versucht, noch durchzupowern. Ausstellungen gleichen zunehmend TED Talks – Kompetenzarenen. Es ist ein Lustprinzip im Spiel, ähnlich wie bei Katastrophenfilmen oder Horrorstreifen. Die Leute drücken ihre Tragetaschen etwas fester an sich, wenn sie, durch Lautsprecheranlagen verstärkt, die Ausdrücke «Big Data», «Filterblase», «Post-Internet» und «Anthropozän» zu hören bekommen.
Willkommen in der Postgegenwart. Die Zukunft fühlt sich wie die Vergangenheit an: vertraut, vorhersagbar, unveränderlich – und die Gegenwart steht mit den Unwägbarkeiten der Zukunft alleine da. Wird Donald Trump Präsident? Ist Weizen giftig? Ist der Irak ein Land? Ist Frankreich eine Demokratie? Mag ich Shakira? Leide ich an Depressionen? Sind wir im Krieg?
Es ist eine Gegenwart, die man nicht kennen, nicht vorhersagen, nicht verstehen kann. Sie ist dem Beharren auf etlichen Fiktionen entsprungen. Nichts an der heutigen Welt ist besonders realistisch; einer Welt, in der es sich mehr lohnt, in Fiktionen zu investieren, als auf die Realität zu setzen. Diese Genreverschiebung von Science-Fiction zu Fantasy macht sie inspirierend, offen, verfügbar und nicht-binär. Die Supergruppe(n) von KünstlerInnen und Mitwirkenden, die wir mobilisiert haben, ist von dieser Ungewissheit nicht überfordert, sondern inspiriert. In einem solchen Klima kann jeder beginnen, eine alternative Gegenwart zu errichten, missglückte Erzählungen umzugestalten, Bedeutung aus dem endlosen Fluss von Bedeutungen herauszulesen.
Wir stellen uns Berlin als Stadt vor, die von diesen Energien angetrieben wird. Ausgangspunkt ist der Pariser Platz. Als ikonische Touristenfalle schon Kult, ist es der Ort, an dem seinerzeit Michael Jackson sein Baby vom Balkon des Adlon-Hotels baumeln ließ und mit dieser so privaten wie öffentlichen Performance schon die Unmengen von Selfie-Stangen erahnen ließ, die mittlerweile jede Sehenswürdigkeit in Berlin ins Visier nehmen. Der Platz ist umgeben von einem weitgehend unsichtbaren Netzwerk staatlicher und wirtschaftlicher Mächte: Hier residieren Lockheed Martin, das Allianz Stiftungsforum, die DZ Bank und BP Europa SE in direkter Nachbarschaft zu den Botschaften der USA und Frankreichs.
Die gängige Sprache visueller und politischer Einflussnahme – von Staaten und Märkten, Linken und Rechten, Kunst und Kommerz nach Belieben eingesetzt – überströmt sowohl die Biennale als Institution sowie die «Kunst» als Kategorie der Kulturproduktion. Die 9. Berlin Biennale für zeitgenössiche Kunst zeigt die Paradoxien, die die Welt 2016 ausmachen: Virtuelles als Reales, Nationen als Marken, Menschen als Daten, Kultur als Kapital, Wellness als Politik, Glück als BIP und so weiter.
Im Zeitalter des personalisierbaren Sneakers, des politischen Narrowcasting, des algorithmisch ermittelten Geschmacks und der individuell zugeschnittenen Diätpläne ist das Universelle in eine Vielzahl von Unterschieden aufgesplittert. In dem Moment, da sich die Gestalt des Individuums zu nie gesehener Größe zu erheben scheint, wird die Individualität durch widersprüchliche, gegensätzliche Kräfte zerstört und in Fragmente zersplittert. Dieser Figur des Selbst bereitet die 9. Berlin Biennale eine Bühne, auf der sie ihre eigene Obsoleszenz durchspielen kann.
Unser Vorschlag ist einfach: Statt Vorträge über Ängste abzuhalten, lasst uns die Leute erschrecken. Statt Symposien über die Privatsphäre zu veranstalten, lasst sie uns aufs Spiel setzen. Lasst uns die Probleme der Gegenwart dort materialisieren, wo sie geschehen, und sie zu einer Sache des Handelns – nicht des Zuschauens – machen.
Die Gegenwart wird nicht entblößt. Das ist
The Present in Drag.
DIS: Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso, David Toro