«Mehr ist mehr»

Eine Alien Invasion, die neues Leben bringt. Über das unmögliche Theater von Vinge /Müller

Von Thomas Oberender

Vegard Vinges und Ida Müllers Aufführungen von Ibsens Werken gleichen einer Slow Motion des Verstehens. Statt eine Strichfassung von kompakter Dauer herzustellen, entfalten ihre Inszenierungen den Text in einem Marathon. Hinter jedem einzelnen Abend ihrer Aufführungsserie eines Ibsen-Stückes liegen noch viele Stunden weiterer Szenen, andere Bühnenbilder, Kostüme, Filme und Songs, alle geprobt und vorbereitet innerhalb eines insgesamt zigfach längeren Werkes, von dem die Besucher an jedem Abend anders zusammengesetzte Ausschnitte sehen. Ihr Theater übersetzt den Text in ein Gesamtkunstwerk, das als Installation, Performance, Film, Zeichnung und Skulptur eine poetische Welt entwickelt, die in ihrer Sprache hermetisch ist, aber auch porös für die Stimmung im Saal und im Team.

Vinge / Müllers Meditationen über Ibsens Werke achten auf die kleinsten Nebenbemerkungen in seinen Dialogen. Einzelne Sätze und Worte des Stückes werden von den Künstlern wie Zeilen aus einem Gedicht behandelt, die sich in der Aufführung wieder und wieder wiederholen, bis sie für sich selbst sprechen. Jeder Schritt der Figuren auf der Bühne, jedes Öffnen einer Tür wird live vertont und der Text erklingt nicht aus deren Mündern der Figuren, sondern wird als vorab produziertes Sample eingespielt. Die extreme Künstlichkeit dieser Theaterwelt erzeugt überraschender Weise die Begegnung mit etwas sehr Realem, denn was auf der Bühne zu sehen ist, ist was es ist und hat die solide Präsenz von konkreten Dingen, Körpern, Gesang, Pisse, einem Bagger, Pferd oder Holz.

Ibsen die Menschen auf der Bühne mit einem neuen Realismus gezeigt. Die äußerste Künstlichkeit, so zeigen seine Stücke, ist auf dem Theater jene, die aussieht wie das alltägliche Leben selbst. Wir vergessen diese Künstlichkeit heute noch immer beim Betrachten eines Films. Dieser Realismus einer alltäglich wirkenden Sprache und sozial vertrauter Situationen war Ibsens Weg, auf der Bühne so etwas wie Realität herzustellen. Vinge / Müller gelingt dies auf eine ganz andere Weise. Sie zeigen das «Gemachte» dieser Welt, nicht im Sinne Brechts, sondern eher im Sinne einer Ausstellung bildnerischer Objekte, die per se künstlich sind und nichts imitieren, aber an vieles erinnern. Es ist ihr Weg, mit dem Als-Ob des Theaters umzugehen.