Ein Essay über das Drama des Sehens
«Die Welt mit anderen Augen sehen» 

Inszenierung der Blicke: Über Schillers «Don Carlos» und sein Rätsel «Kennst du dies Bild»»
von Thomas Oberender

 

 

«Ich höre dir mit Blicken zu», sagt Carlos dem Pagen, der ihm den vermeintlichen Liebesbrief der Königin überbringt. Später wird er im Kampf mit Herzog Alba «vom Anblick der Königin außer sich gesetzt». Die Blicke der Figuren «ruhen ungewiß» oder heften sich «durchdringend» an das Gegenüber, sie werden «verlegen» getauscht oder «leuchten». Wenig später sind die Figuren «im Anblick des anderen verloren» oder «verbergen» ihr Gesicht. Sie schauen «mit Wehmut» und «finsterer Miene» und der König, zweifelnd, ob seine Tochter nicht die Tochter seines Sohnes ist, betrachtet in einer ergreifenden Szene prüfend das Gesicht der Infantin, denn: «Meine Züge, / Sie sind die seinigen nicht auch?»
Der Abgrund der Undeutbarkeit dessen, was er sieht, droht den König zu vernichten. Die Figuren schauen «stillschweigend» oder sprechen «zum Himmel gerichtet», «mit großen, starren Augen» und sehen sich kurz darauf «genauer an». Mit äußerster Sorgfalt schreibt Schiller seinem Stück eine Regie der Blicke, der sprechenden Augen und des sprechenden Gesichts ein, die mit einem zweiten Leitmotiv des Stückes, dem Begriff des «Menschen» eng verbunden ist.