Ein Essay über das Drama des Sehens
«Die Welt mit anderen Augen sehen»
Inszenierung der Blicke: Über Schillers «Don Carlos» und sein Rätsel «Kennst du dies Bild»»
von Thomas Oberender
«Ich höre dir mit Blicken zu», sagt Carlos dem Pagen, der ihm den vermeintlichen Liebesbrief der Königin überbringt. Später wird er im Kampf mit Herzog Alba «vom Anblick der Königin außer sich gesetzt». Die Blicke der Figuren «ruhen ungewiß» oder heften sich «durchdringend» an das Gegenüber, sie werden «verlegen» getauscht oder «leuchten». Wenig später sind die Figuren «im Anblick des anderen verloren» oder «verbergen» ihr Gesicht. Sie schauen «mit Wehmut» und «finsterer Miene» und der König, zweifelnd, ob seine Tochter nicht die Tochter seines Sohnes ist, betrachtet in einer ergreifenden Szene prüfend das Gesicht der Infantin, denn: «Meine Züge, / Sie sind die seinigen nicht auch?»
Der Abgrund der Undeutbarkeit dessen, was er sieht, droht den König zu vernichten. Die Figuren schauen «stillschweigend» oder sprechen «zum Himmel gerichtet», «mit großen, starren Augen» und sehen sich kurz darauf «genauer an». Mit äußerster Sorgfalt schreibt Schiller seinem Stück eine Regie der Blicke, der sprechenden Augen und des sprechenden Gesichts ein, die mit einem zweiten Leitmotiv des Stückes, dem Begriff des «Menschen» eng verbunden ist.
Friedrich Schiller dramatisiert in «Don Carlos» den Vorgang des Sehens – ein szenisches Plädoyer für die Fähigkeit zur Empathie, zu einer anderen Form von «Weltanschauung». Und so lässt er in seinem Stück die (aristokratischen) Bürgerlichen nicht nur die Welt aus der Position des Königs betrachten, sondern fordert umgedreht auch die Vertreter der Aristokratie auf, die Welt mit den Augen der Bürger zu sehen: «Werden Sie/Von Millionen Königen ein König», sagt Marquis Posa zu Philipp und bringt damit das doppelte Programm – die Erhöhung des Bürgers zum Souverän in Augenhöhe mit dem Souverän der Bürger – auf den Punkt. Denn die neue Weltanschauung, für die Schiller in seinem Drama wirbt, inszeniert er als das Gelingen und Scheitern des Versuches, die Welt mit anderen Augen zu sehen, sie anders anzuschauen, und das heißt für Schiller vor allem, im Zeitgenossen den «Menschen» zu erkennen.
Es sind die Vertreter der bürgerlichen Sache, Marquis von Posa und Don Carlos, die sich für die Durchsetzung dieses pathetischen Begriffes in all seinen Koppelungen, von der «Menschenwürde» bis zur «Menschlichkeit» und «Menschheit», in diesem Stück engagieren, und sie tun dies, indem sie ihr Gegenüber ein neues Sehen lehren. Es ist dies, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Vorgang des Augenöffnens für jene «Chimäre Mensch», wie sie der Beichtvater des Königs nennt. Denn letztlich birgt nur sie die Chance, alle Widersprüche, unter denen das Spanische Königreich und die Seele der Figuren zu zerreißen drohen, überbrücken zu können. Egal, ob man Niederländer oder Spanier, Katholik oder Protestant, Bürger oder Adliger ist: In der Anerkenntnis des Anderen als «Mensch» ist jener kleinste, gemeinsame Nenner benannt, der es erlauben würde, einen friedlichen und vernünftigen Ausgleich zu finden. Insofern wird der pathetische Begriff des «Menschen» zu einer erlösenden Denkfigur und bleibt auch heute, in der verwirklichten bürgerlichen Gesellschaft, utopisch.
Doch Schiller formuliert sein Plädoyer zugleich durchaus skeptisch: «Ich habe», sagt der König in den Anblick des Marquis versunken, «solch einen Menschen nie gesehen.» Und vielleicht ist Philipps Wiedergänger Dostojewskis Großinquisitor mit seiner Skepsis, ob dem Menschen sein Freigelassensein tatsächlich zum Guten dient. «Ich weiß», so Philipp zu Marquis von Posa, «Ihr werdet anders denken, kennt Ihr/den Menschen erst wie ich.»
Der hohe Würdebegriff des «Menschen» bleibt für Schiller eine messianische Forderung, und selbst seinem Vorboten, Marquis von Posa, jenem «Bürger derer, die da kommen werden», hat er offensichtlich misstraut. Nur im Scheitern scheint das zu Verwirklichende auf und bleibt Anspruch, bis heute. Aber einen Ratschlag gibt Schiller seinen Lesern. Denn wie und woran lässt sich der «Mensch» im Menschen entdecken – wo zeigt sich diese Chimäre, was bringt sie zum Vorschein?
Eben dies ist der Punkt, an dem die Sorgfalt, mit der Schiller in den Regieanweisungen und Dialogen seines «Don Carlos» das Motiv des Auges und des sich Sehens ausführt, mit dem zweiten Leitmotiv des «Menschen» verschmilzt. Denn das Auge ist für Schiller kein passives Organ, sondern wirkt welterzeugend, aktiv, nicht objektiv. Seinen Blick kann man ändern, indem man seine Perspektive verrückt. Dies drückt sich auch in Schillers Rätsel für die Bearbeitung von Gozzis Turandot aus:
Kennst du das Bild auf zartem Grunde,
Es gibt sich selber Licht und Glanz.
Ein andres ist’s zu jeder Stunde,
Und immer ist es frisch und ganz.
Im engsten Raum ists ausgeführet,
Der kleinste Rahmen fasst es ein,
Doch alle Größe, die dich rühret,
Kennst du durch dieses Bild allein.
Und kannst du den Kristall mir nennen,
Ihm gleicht an Wert kein Edelstein,
Er leuchtet, ohne je zu brennen,
Das ganze Weltall saugt er ein.
Der Himmel selbst ist abgemalet,
In seinem wundervollen Ring,
Und doch ist, was er von sich strahlet,
Noch schöner, als was er empfing.
Dies zarte Bild, das in den kleinsten Rahmen
Gefasst, das Unermessliche uns zeigt,
Und der Kristall, in dem dies Bild sich malt,
Und der noch Schönres von sich strahlt,
Er ist das Aug, in das die Welt sich drückt,
Dein Auge ist’s, wenn es mir Liebe blickt.
Dies Rätsel erscheint wie ein Kommentar zu jener rätselhaften Szene in Don Carlos, in der der Kronprinz ins Kabinett der Prinzessin Eboli tritt, im Irrglauben, der Liebesbrief, der ihn zu ihr geführt hat, stamme aus der Hand der Königin. Prinzessin Eboli ist eine Frau, die er in der Gesellschaft seiner ehemaligen Verlobten Elisabeth kaum wahrnimmt und mit der ihn kein Gefühl verbindet. Alle Verführungskünste der Prinzessin scheitern, da offenbart sie sich dem Infanten plötzlich in hilfloser Verzweiflung. Und nun, da sie aufhört, ihm etwas «vorzuspielen», erschaut Carlos ihr Wesen und entdeckt im selben Augenblick in ihr die begehrenswerte Frau: «Beim wunderbaren Gott», spricht er beiseite, «Das Weib ist schön!» Sein Auge ist’s, das plötzlich ihr mit Liebe blickt und die Person verwandelt – sie, in seinen Augen, genauso wie ihn selbst in seinem Verhalten zu ihr. Schiller führt in dieser Szene in mehrfachen Wendungen vor, dass es die Art der Betrachtung ist, die über das Aussehen der Person entscheidet, aber mehr noch über die Beziehung zu ihr.
Schillers «Don Carlos» ist ein Drama des Sehens. Der Akt der Wahrnehmung ist dabei, wie es das Augenrätsel ausdrückt, mehr ein Geben als ein Nehmen: Was vom Auge «strahlet», ist mehr und Schöneres, «als es empfing». Es ist ein aktives Sehen des Herzens und des Verstandes, von dem Schiller hier spricht und das er in seinem Stück nicht nur in Liebesdingen, sondern vor allem in der politischen Auseinandersetzung als die Aufforderung zur Entdeckung des «Menschlichen» inszeniert. Das Auge, wenn es «mit Liebe blickt», wird das Liebenswerte sehen. Und so ist es weniger paradox, als es auf den ersten Blick anmutet, dass gerade dadurch, dass ein Tränenschleier den Augen die Sicht nimmt, ihre höchste Einsicht bewiesen wird: «Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind ja Thränen», sagt der Kronprinz seinem Vater, doch: «Sein Aug’ ist trocken, ihn gebar kein Weib / O, zwingen Sie die nie benetzten Augen, / noch zeitig Thränen einzulernen, sonst, / Sonst möchten Sie’s in einer harten Stunde / Noch nachzuholen haben.»
So ist der gewaltige Parcour der Affekte, den Schiller notiert, die Erkundung eines Grenzzustandes, in dem körperliche Vorgänge zwanghaft ablaufen und sich selber undurchsichtig bleiben. Es ist letztlich einzig dieser Grenzbereich, in dem, was immer auch Schillers Figuren über den hohen Begriff des «Menschen» vorbringen, der «Mensch» sich für den Dramatiker glaubhaft zeigt.
Der Begriff des verwirklichten Menschseins, den Schiller in diesem Drama der gegenseitigen Verkennungen evoziert, ist so maßlos, dass er auch in der verwirklichten bürgerlichen Gesellschaft eine Herausforderung bleibt. Politisch hat sich dieser Anspruch nicht erledigt, aber auch ästhetisch hat sich Schillers Versuch, die bürgerliche Weltanschauung als ein Drama des Sehens zu inszenieren, als wegweisende Strategie erwiesen. Jene kleine Szene, in der die Infantin von ihrem an seiner Vaterschaft zweifelnden König betrachtet wird, wirkt paradigmatisch, denn jenes unentscheidbare oder nur durch ihn zu entscheidende Moment, das den König in der Ausdeutung des Sichtbaren umtreibt, wurde zum Nukleus vieler Aufführungen neueren Typs.
In dieser Unschärfezone ereignet sich das Drama der Wahrnehmung, das zum Drama jener Bürger wurde, die da gekommen sind. Sie müssen entscheiden, wie sie die Dinge sehen. Vor einer Stadtansicht, gemalt von Gerhard Richter, stehen sie wie der König vorm Kind: Treten sie dem Bild nahe, sehen sie ein abstraktes Gemälde von wildem Farbauftrag. Treten sie zurück, erscheinen die Straßenzüge von Paris. Es ist, als ob sie in einen Blickfänger geraten, der sie ihr Sehen sehen lassen will und eben dies zur dramatischen Erfahrung macht: Wie Welt, Macht, Ordnung, Sinn oder Gefühl entsteht.
Die Kunstwerke öffnen sich und ziehen uns durch die Strategie der Unschärfe, des scheinbar nicht mehr sichtbaren Dirigats und der aufgegebenen Zentralperspektive über die Schwelle in ihren Innenraum der Ambivalenzen. In ihm, in den Videoinstallationen von Sam Taylor-Wood, in der «Neustadt» des Bühnenbildners Bert Neumann oder den Choreografien von William Forsythe ist eine Geschichte und ihre «Wahrheit» nicht mehr anders zu haben denn als eine Entscheidung, die man persönlich verantwortet. Schiller ließ uns entscheiden, ob wir in Don Carlos den haltlosen Charakter, den unbedingt Liebenden, den politischen Visionär oder schwächlichen Jüngling, den Schwärmer oder gerissenen Taktiker sehen. Die Überlagerung so vieler Facetten und Ambitionen macht ihn zum reinen Medium, in dem seine Umwelt zur Wahrheit ihrer Gründe gelangt.
Wie der König aufs Kind schauen wir auf Heiner Müllers «Bildbeschreibung». Ist es Geräusch oder Musik? Da oder dort? Unversehens erscheint jener Grenzbereich wieder, den Schiller als Parcour des außer sich Geratens entwarf, um zu sich zu gelangen. Das ist das Drama derer, die da, ohne große Erzählung und verbindliche Tradition, wieder auf dem Wege sind zu – ja, neuem Enthusiasmus, der Reform des Sozialen, dem unkorrumpierten Gefühl, dem «Menschen»?