Interview mit Stefan Braun zum Thema Ostdeutschland, Identität, Ausgrenzung und Repräsentanz
Stefan Braun: Wie stark ist heute noch das Phänomen und Problem mit Ausgrenzung/Abgrenzung in dieser Gesellschaft?
Thomas Oberender: Schon sächsisch zu sprechen ist zu einer Art Stigma geworden. Der Dialekt wurde zum Signal eines dummdreisten Selbstbewusstseins, das immer verspätet, zurückgeblieben, anmaßend, unfroh, frustriert, grob, fordernd oder aggressiv wirkt. Der ulkige, in jüngster Zeit demokratiebedrohend wirkende Sachse ist die grotesk überhöhte Stellvertreterfigur all der Neubürger aus dem Osten geworden. Im Osten gab es ja auch, so denkt man im Westen, keine Achtundsechzigerbewegung. Das stimmt, dafür hatten die Menschen dort jeden Tag Gewissensentscheidungen zu fällen. Die Menschen im Osten hätten, so wurde mir wiederholt von Westdeutschen gesagt, «die Demokratie halt nicht gelernt.» Wirklich nicht? Hat die DDR-Bürgerbewegung nicht einen Staat beseitigt und zur Entstehung neuer Parteien, freien Wahlen und dem Entwurf einer Verfassung geführt? Nein, gefühlt hat das für die alte Bundesrepublik zwar stattgefunden, aber doch nur, weil die eingesperrten Verwandten im Osten es endlich auch einmal genauso gut haben wollten wie sie im Westen. Dass dies zunächst nicht der Fall war, wissen heute auch viele Jugendliche im Osten nicht mehr. Sie wiederholen die Mär vom «Fall der Mauer». Das Sächsisch in der Tagesschau ist nicht mehr der milde, weltmännische Dialekt von Hans Dietrich Genscher, sondern wurde das böse Petri-Deutsch. Es ist der Dialekt derer, die es noch immer nicht kapiert haben, der Sitzenbleiber.
Wie sehr hat Sie das geprägt?
Rückblickend würde ich sagen: Ich töte gerade den Musterschüler in mir. Der sich offenbar bemüht hat, westlicher als mein Klischee vom Westler zu sein. Es ist paradox, denn eine Erfahrung aktiver Ausgrenzung oder Zurückweisung aufgrund meiner Herkunft aus der DDR habe ich nie erfahren. Auf diese direkte Weise passiert das auch wirklich selten. Die Statistik zeigt jedoch ganz klar, dass die Eliten der neuen Bundesländer in eklatanter Weise westdeutsch dominiert sind. Es ist noch immer spürbar, dass dieses «neue» Land, also die alte Bundesrepublik, deren Teil wir geworden sind, die Bürger im Osten infantilisiert hat und dass daher unsere Sprache und Auffassung von der eigenen Geschichte von der westdeutschen Lesart dominiert, verfälscht und um ihre kreativen und inspirierenden Einflüsse gebracht wird.
Ärgert Sie das noch oder lässt es Sie inzwischen kalt?
Ich habe lange gebraucht, um zu merken, wie sehr ich selber von dieser westlichen Sprache der Erinnerung beherrscht werde. Auch ich habe vom «Fall der Mauer» geredet, als sei sie ein Naturereignis gewesen. Wir werden es sicher nie schaffen, dass man im Westen auf die Ostdeutschen und deren Revolution stolz ist, aber es würde auch völlig reichen, wenn die Ostler selber darauf stolz sein könnten. Ihr nützliches Erbe hat bis heute kein «Testament» bekommen – die Ansprüche und Konzepte der ostdeutschen Bürgerbewegung haben nie Eingang in eine neue Verfassung gefunden. Stattdessen wurde der Osten zum Synonym für Transferleistungsempfänger. «Alles Geld geht in den Osten.» Aber wie viel bleibt da? Wie ist die Privatisierung des ostdeutschen Staatsvermögens durch die Treuhand gelaufen? Diese Fragen werden nicht gestellt.
Wie viel Verantwortung tragen die Medien?
Dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sächsische Interviewpartner untertitelt werden, jemand aus Bayern aber nie, finde ich empörend. Von vier Millionen AfD-Wählern kommt nur ein Viertel aus dem Osten, aber die AfD wurde zum ostdeutschen Problem. Die führenden AfD-Politiker Alexander Gauland, Björn Höcke und Jens Maier in den neuen Bundesländern kommen alle aus dem Westen. Solche Vorurteile, dass die AfD ein ostdeutsches Phänomen sei, zu «Nachrichten» werden zu lassen, erzeugt eine Stimmung, mit der sich der Westen vor einem unangenehmen Blick in den Spiegel drückt und «die Ostdeutschen» vorschiebt.
Was müsste man tun?
Wenn ich Deutschlandradio höre, gleichen die Interviews mit demokratischen Politikern den Verhören von Verbrechern. Es geht nur darum, Schwachstellen und Widersprüche heraus zu kitzeln, ihnen wird stets die Verlautbarung der Unwahrheit unterstellt und man führt sie als per se unglaubwürdig vor. Das ist eine seltsame und kranke Auffassung von kritischem Journalismus, der letztlich die Politik beschädigt und ihre Konzepte, Ideen und Erfolge ständig leugnet und zersetzt. Wir zerfleischen uns selbst und die AfD lacht. Kritik hatte einmal mehr mit Entwurf als mit Entlarvung zu tun und das können wir nicht nur von den Politikern erwarten.
Erwarten Sie von der Politik mehr Engagement im Osten?
Da wird so viel gemacht – für mich hat Merkels Sozialdemokratie Großes geleistet. Es geht eher darum, das Gefühl einer deutschlandweiten Gerechtigkeit zu vermitteln und natürlich dafür zu sorgen, dass sie existiert. Das Ruhrgebiet sagt, im Osten blüht alles auf, aber im Osten sagt man, dass im Westen mehr Geld verdient und höhere Renten gezahlt werden. Politik organisiert das und geht sehr verantwortungsbewusst mit diesen Herausforderungen einer neuen Gerechtigkeitspolitik um. Statt mehr Engagement muss sie dieser bewussten Gerechtigkeitspolitik viel mehr Sichtbarkeit verleihen, was der AfD im Osten viel Wasser abgraben würde.
Würde eine Quote für Parteien, den Bundestag, das Kabinett etwas helfen?
Die Frauenquote hat geholfen. Und leider gibt es in vielen Bereichen ohne Quote keine ausgleichende Gerechtigkeit.
Fehlt derlei an anderer Stelle? Beispielsweise bei der Besetzung von Uni-Leitungen? Museen? Theatern?
Mit Sicherheit. Nur vier bis fünf Prozent der Spitzenpositionen in der öffentlichen Verwaltung wird einer neuen Studie zufolge von Ostdeutschen besetzt, nur dreizehn Prozent der Richter in Ostdeutschland sind Ostdeutsche. Nur drei von zweiundzwanzig Hochschulrektoren im Osten sind dort geboren. Die westdeutschen Eliten im Osten kamen als Transformationshelfer, aber nun fehlt die Transformation der damals von ihnen mitgebrachten Netzwerke und Strukturen.
Wie sehe die beste aller Welten für sie aus?
Wie Berlin 1990 zwischen der Volkskammerwahl im März und der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember. Ein unvergessliches Lächeln lag über dem Land, ein Zukunftsversprechen sondergleichen, runde Tische, Überschwang, ich durfte meine besetzte Wohnung behalten und studieren. Anders als die Generation Castorf, die in der DDR aufgewachsen und in Anklam und Frankfurt / Oder in den künstlerischen Widerstand gegangen ist, dort ihre Sprache gefunden und bis heute durchgezogen hat, habe ich diesen Ost-Stolz nie entwickelt – ich war ein paar entscheidende Jahre jünger. Mit Castorfs rebellischen Osten an der Volksbühne wollte ich damals nichts zu tun haben. Trotzdem denke ich, dass dieses Theater phasenweise die beste aller Welten für die Deutschen war. In Berlin wurde es nicht provinziell. Außer Castorf kamen alle prägenden Regisseur*innen und viele der Schauspieler*innen aus dem Westen. Diese Volksbühne war kein Projekt der Spaltung, sondern der Öffnung, der Arbeit am Gemeinsamen, vielleicht zu propagandistisch, aber hier entstand das Gegengift zum Separatismus der Dresdner*innen, der Pegida, der Kolonisierten. Sie hat die große Freiheit von 1990, das Experiment und das Visionäre ein ganzes Stück lang für das ganze Deutschland und Osteuropa bewahrt.
Dieses Interview entstand für den Artikel «Dieses Land wird vom Westen dominiert», der am 2.3.2018 von Stefan Braun in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht worden ist. Veröffentlicht im Blog der Berliner Festspiele