«Kai Altoff in Genua»
Über die Ausstellung »di costole” in der Galerie nervi delle volpi.
Von Thomas Oberender
In Genua funktioniert Google Maps nicht. Zu dicht ist das Gewirr der Gassen zwischen den hohen barocken Palästen innerhalb der alten Stadtmauer und der fragilen Hochstrassen entlang der Küste. Man kann die App höchsten wie einen Kompass in Richtung des Ziels auf der Karte nutzen. Und läuft durch die morbide Pracht historischer Residenzen, deren Gärten heute oft Parkplätze sind oder durch spätere Wohnhäuser hoch überbaut wurden. Der alte Dogenpalast mit seinen verblassten Fresken, der historische Empfangsbau der Stadt, an dem die Händler über Jahrhunderte ihren Zoll entrichteten, liegt heute nicht mehr am Hafenbecken, sondern mit Blick auf Brücken und Straßen. Neben den noblen Hotels sagen junge Dealer «Come si svolge» und Prostituierte warten fröstelnd auf Freier.
Die Pracht einer Stadt, die einst wie Venedig eine Großmacht am Mittelmeer war, mit ihren kolossalen Plätzen und Brunnen und Bankhäusern, wird heute durchbrochen von modernen Türmen des Geldes und Gassen der Armut, umgeben von Hafenanlagen und Industriegebieten vergangener Zeiten. Die Landebahn des Flughafens liegt zwischen dem Mittelmeer und Hafenbecken mit Blick auf die Berge und einer Stadt, die sich über 35 km entlang an der Küste und zwei Täler die Berge hinauf durch Fabriken, Shoppingmalls, Schlafsiedlungen und die Palais der Reichen erstreckt. Zwischen Kränen und Bürohäusern steht der 1000 Jahre alte Leuchtturm und Google weiß nie, wo man ist, obwohl man es selbst sehr genau spürt.
Und so ergeht es mir auch mit den Gemälden von Kai Althoff, die im ehemaligen Palast des 75. Dogen Genuas inmitten der Altstadt zu sehen sind. Genua muss eine Art Seelenort für Kai Althoff sein. Seine Ausstellung «di costole» in der Galerie nervi delle volpi wirkt, als ob sie schon immer hier gewesen wäre. Wie in den heute als Museen genutzten Palazzi der Strada Nuove wurden die weißen Marmorböden der Räume abgeschliffen und schwarze Wandfluter werfen ihr Licht auf die historischen Stichkappengewölbe und von da auf die Gemälde. Die alten Vorhänge vor den französischen Fenstern ließ Kai Althoff nicht waschen. Wenn man sie öffnet, geben sie den Blick frei auf einen Marktplatz, der vis a vis eine barocke Kirche zeigt, deren Frescomalereien nach Jahrhunderten in ihrer Farbigkeit so naturfarben matt und verwaschen wirken, wie sie wahrscheinlich kein lebender Künstler frisch aufs Papier oder die Leinwand bringen könnte, außer Kai Althoff.
Die neunzehn gezeigten Ölgemälde wirken rätselhaft matt, als seien sie trocken gemalt. Ihre gedeckten Farbtöne erinnern an Textilien aus den 50er oder 60er Jahren. Ihr geheimes Thema ist Kindheit. Giulia Ruberti schrieb im Katalog ein assoziatives Gedicht über die Bildmotive dieser Ausstellung, die grausamen Spiele unter Kindern, der kindlichen Fantasie von Rache, Geistern oder einer gefühlten Bestimmung. Doch dies ist der einzige Hinweis zum Thema der Ausstellung. Keines der Gemälde trägt einen Titel oder Angaben zum Material und dem Entstehungsjahr.
Die übliche Navigationshilfe für Kunstbetrachter wird in dieser Ausstellung nicht geboten. Eine Art von Rumor hat sich um die Gemälde gebildet. Das Gerücht, dass Kai Althoff als Teenager in Genua mit seinem Bruder in der Stadt unterwegs war und ihn im Gewirr der Gassen verloren hat, ihn suchte und viele Stunden später unweit des Hafens zufällig wieder fand. Verlorengehen, eintauchen in den Abgrund und die fremde Schönheit der Hafenstadt, und dann das unverhoffte Wiedersehen. Diese verwirrenden Überlagerungen schwingen in Althoffs Gemälden über die Kindheit mit, genauso die Farben Genuas, der historischen Gebäude, das sommerliche Licht und Grün der Gärten.
Die Berliner «Galerie Neu» hat Kai Althoff inmitten des alten Palazzo einen Ausstellungsraum hineingebaut wie ein eigenes Kunstwerk. Entstanden sind die Gemälde und Zeichnungen wahrscheinlich in New York oder Upstate New York oder Köln, aber die Ausstellung wirkt, als sei sie schon immer hier installiert gewesen. Die Ausstellungssituation wirkt auf den ersten Blick leicht und einladend durch die eleganten Möbel und ungerahmten Leinwände. Die Gemälde über die Schwelle zum Erwachsensein erzählen die Welt mit einem Blick von außen, dem des Älteren, und dem von innen, aus der Sicht des Kindes.
Wie in jener Straßenszene auf dem Vorplatz einer Basilika, in der ein Straßenfeger Blätter und einen toten Vogel beiseite fegt. Im Hintergrund hockt ein Vater neben seinem spielenden Kind und eine Frauenfigur läuft auf sie zu. Die rechte Bildseite der Szene wirkt im Vordergrund wie nachträglich von einer pastellgelben Farbfläche übermalt, unter der sich noch die Fluchtlinie eines Hintergrundgebäudes fortsetzt, während am rechten unteren Bildrand der nackte Fuß eines früheren Gegenübers der Figur hervorscheint, obgleich die sie überdeckende und auslöschende Farbfläche scheinbar zu einer Hauswand geworden ist, auf der flüchtig aufgemalte Figuren und ein in der Luft schwebender Tragesack zu erkennen sind.
Kai Althoffs Gemälde scheinen sich gegen die Erstarrung des fertigen Bildes zu wehren, zeigen Schichten über Schichten, in die zu verschiedenen Zeitpunkten weitere Geschichten Eingang fanden. Sie werden bisweilen in die Lasurschichten eingekratzt, ihr hinzugefügt oder wieder weggenommen, um dem Stimmungsraum weitere Akzente zu verleihen, die zugleich für sich stehen, abstrakte Arabesken bilden, die doch zu dieser Szene gehören in diesem seltsam flirrenden Bildraum einer Erinnerung, die dem Maler naherückt und von ihm zugleich angereichert wird um etwas, das nicht naiv ist, so unmittelbar und unprätentiös diese Bilder auch wirken.
Es sind Bilder zum Stehenbleiben. «Schau, wohin ich euch führe.», sprechen sie einem zu. Auf einem der namenlosen Gemälde malte Althoff im Hintergrund große Industrieanlagen, darunter der Kühlturm eines Kernkraftwerks und das Speichenrad eines Förderturms, wie er sie als Jugendlicher in NRW gesehen haben mag. Im Vordergrund springt eine Figur in einen kleinen Teich, an dessen anderen Ufer sie als ein Schwimmer auftaucht, der auf einem Leinentuch geborgen und an Land gezogen wird. Dieser Kreislauf des Lebens ist tatsächlich als eine durchgehende Bewegung gezeichnet und über diesem Bogen steht angedeutet eine Frau mit Korb, wie eine Fruchtbarkeitsgöttin, eingebettet in ein Gewimmel von Paaren und Blüten und in der Nachbarschaft eines von Mullbinden verdeckten Gesichts, aus dem jeder seine eigene Lesart der Pinselstriche bilden wird.
Dieses: «Schau, wohin ich euch führe», betrifft nicht nur Althoffs dichte Gemälde und ihre vielschichtige Erzählung, sondern auch den Raum der Ausstellung selbst. Anders als bei Althoffs Ausstellung im New Yorker MoMa 2016, in dem er ein riesiges Zelt über seine Werke spannte, und auf weiß getünchten Holzbrettern in Regalen und Vitrinen seine Gemälde, Briefe und Skizzen zeigte, zwischen verbrannten Matratzen, chaotischen Depots und verkleckertem Kaffeesatz, ist die Genueser Ausstellung «di costole» kein Camp inmitten einer bedrohlichen Stadt und Institution, sondern ein eleganter und lässiger Ort der Ankunft.
Wie schon frühere Gemälde sind in «di costole» viele der Bilder keine rechteckigen «Schaufenster» in die Welt, sondern viele Leinwände sind trapezförmig gerahmt, vieleckig oder eben auch rechteckig, doch nie selbstverständlich in der Form. So bilden sie an den Wänden Reihen lockerer und diverser Bildformate. Nur in zwei Fällen wurden die Gemälde von einer dünnen Rahmenleiste umgeben, die an die millimeterdicken Eichenrahmen erinnert, mit denen die alten Meister der Genueser Schule im Palazzo Bianco ausgestellt werden. Durch diesen kuratorischen Eingriff erscheinen sie wie direkt aus der Werkstatt von Andrea Semino, Cesare Corte oder Luciano Borzone, heute wie damals.
Zwischen seinen Gemälden zeigt Althoff punktuell auch Zeichnungen, die auf halber Blatthöhe, auf dünnem Papier, das wie die Unterlage für größere Arbeiten wirkt, abstrakt und spontane entstandene Mäanderbilder, die mit Filzstift bemalt wurden. Sie wirken, als hätten sich die Gedanken des Zeichners von den Erzählungen wegbewegt und in dieses gegenstandslose Spiel von Formen und Farben verwandelt, in denen der Sinn die Zeit totschlägt wie früher in den scribbles, die während des Mathe-Unterricht im Schulheft entstanden.
Unter einer dieser Zeichnungen steht eine dezent edle Hausbar, auf der verschiedene Schachteln Konfekt aus Genuas kunstfertigster Confiserie Pietro Romanengo ausliegen und gerne gekostet werden dürfen. Zur Kindheit gehört ja, gerne Süßes zu essen. Eine Etage darunter locken im Licht der verspiegelten Hausbar ligurische Liköre und Obstbrände, aber die Hand der Erwachsenen zögert wie die der Kinder früher allein zuhause.
Kai Althoff hat in seine Ausstellungsräume Tagesbetten gestellt, ein Sofa und elegante Stühle. Die Möbel sind organische Teile der Ausstellung, unprätenziöse und doch elegante Objekte, die jedem der Räume ein Zentrum geben, das die Gemälde und Zeichnungen an der Wand davor bewahrt, «Flachware» zu werden. «di Costole» ist nicht nur eine Ansammlung von Gemälden und Zeichnungen, sondern ein anderes Konzept von Begegnung. Die Ausstellung ist kein Anti-Camp wie Althoffs berühmte Installation in New York, sondern eher ein Café ohne Kaffee, ein ignorierbarer Hyperraum der Kunst. Es dauert in der Regel vier bis fünf Jahre, ehe Kai Althoff ihn wieder an einem anderen Ort einrichtet.
«Die Wörter enthalten nicht die ganze Bedeutung dieses Satzes.», schrieb Kai Althoff in einem Katalogbeitrag seiner Ausstellung 2008 in der Kunsthalle Zürich. Es ist gewinnbringend, diesen Satz wieder und wieder zu lesen, weil er auch die Betrachtung der Gemälde von Kai beschreibt. Ihre gesamte Bedeutung zeigt sich nur in im Zusammenspiel der vielen Schichtungen, Auslassungen und Übermalungen. Seine Wörter sind die Pigmente auf der Leinwand. In einem seiner Bilder läßt er die dunkle Grundierung als trapezförmige Rahmung sichtbar, in einem anderen Gemälde durchzieht eine cremefarbene Freifläche die Körper einer Figur, als ob zur Bedeutung des Ganzen gehört, dass das Bild selbst eine eigene Realität besitzt, aus der das Erzählerische hervorgeht und eingebettet ist in die taktile Wirklichkeit des gemalten Farbraums selbst.
Althoffs Texte lassen sich in dem Zürcher Katalogtext von 2008 horizontal und zugleich in den Spalten zugleich vertikal lesen und erst in dieser individuellen Kompass-Bewegung des Lesenden entsteht das eigentlich Gesagte. Gleiches gilt für die neuen Gemälde von Kai Althoff in Genua. Sie wirken dichter komponiert als seine früheren Werke und der Betrachtende sucht sich aus ihren Details und der Situation des Malens selbst, die hier durch Brüche und Überlagerungen sichtbar bleibt, seine eigene Deutung. Jedes Bild schafft so einen eigenen Wahrnehmungsraum, wie auch jeder Raum der Ausstellung eine eigene Komposition besitzt. In «di costole» werden die Gemälde zum Raum und der Raum wurde diskret dafür eingerichtet, diese Gemälde zu ergründen. Er setzt dafür Zeit frei. Und Kindheit. Etwas, das süß schmeckt und den Zähnen weh tut. Althoff ist ein deutscher Maler und Strolch.
Beim Betreten der Ausstellung findet man sich unversehens im Rundgang eines Innenhofs wieder, der angefüllt ist mit tropischen Grünpflanzen. Am Eingang steht kein «Code of conduct», der einem erklärt, welchen mentalen Innenraum man betritt, sondern ein Dschungel. Der Weg entlang der Pflanzen führt zu einer sympathischen Nische mit einer Sitzecke, von der aus der Blick durch die Blätter der Strelizien auf das einzige Gemälde im Flur gelenkt wird. Der Titel «di costole» kann man mit «aus den Rippen» übersetzen. Aus den Rippen Adams wurde jenes Menschengewimmel, dessen Teil wir sind und das mit der Kindheit beginnt. Durch die Strelizien-Blätter erblickt man hier eine seltsame Verkaufsszene, in der Althoffs Gemälde ein Mädchen in einem Waffengeschäft beim Kauf oder Nichtkauf eines Gewehrs zeigt.
Sie hält es prüfend in ihren Händen, ihre Mutter schaut duldend zu Boden, der Verkäufer greift sich verschmitzt ans Kinn, und übergroß und grübelnd beobachtet sie im Vordergrund der Szene ein Mann, während das Bedenken des Mädchens die Szene in der Schwebe hält. Oder ist der Betrachter im Bild der Betrachter vorm Bild? «Sie will jagen.», vermutet Giulia Ruberti in ihren Bildbeschreibungen. «Sie wird sich nie wieder langweilen.» Lust glimmt auf, wo es niemand ausspricht. Durch die Blätter betrachtet, lenkt das Gemälde die Gedanken in viele Richtungen.
Heute wird unser Blick auf Künstler und Künstlerinnen oft von einem «code of conduct» bestimmt, der weniger auf die Werke achtet, als auf die ihnen zugeschriebenen moralischen Werte. Kuratoren und Kritiker schauen von der Biografie und Parteinahme des Künstlers aufs Bild und genau das passiert in dieser Ausstellung in Genua nicht. Sie verweigert dieses Spiel, kein Titel, nichts Äußeres, woran sich die Betrachtung festmachen ließe. Über Kai Althoff sind auf Wikipedia nur wenige Angaben zu finden. Das meiste, was wir über den 1966 in Köln geborenen Künstler, Schriftsteller und Filmemacher wissen, beruht auf Hörensagen. Und dem genauen Hinsehen.
Die üblichen Wegbeschreibungen für die Lesart eines Künstlers werden in Genua auf den Kompass des eigenen Blicks reduziert – die Gemälde sind im Wortsinn schräg, nackt, wie der Künstler, der den Prozess ihrer Entstehung und ihres Wachsens offen zeigt, pseudo und real naiv, raffiniert schön und hässlich, ohne Abschluss durch einen Rahmen und im Titel annoncierte Deutung. So wurde «di costole» in der kurzen Laufzeit zu einem Magnet für Althoff-Fans aus der aller Welt und auch für die Passanten und Kunststudierende aus Genua. Mit Elina Kellermann hat diese Ausstellung eine dezente Seele gefunden, die Gastgeberin und diskrete Mitbetrachterin ist. Für alle, die diese Reise nicht mehr in der physischen Welt unternehmen können, bietet die Fotodokumentation der Ausstellung auf contemporaryartdaily.com eine gute Alternative. Man spürt selbst in diesen Fotografien, wie Kai Althoff in den Genueser Räumen eine Situation erfunden hat, in der sich Kunstwerke anders artikulieren. Er liberalisiert die Art, wie wir ihnen begegnen und ebenso das Format der Ausstellung selbst. Aber natürlich wünschte ich mir vor allem, dass dieses Ausstellungskunstwerk als solches in Genua genauso lange erhalten bleibt wie die Fresken auf der Kirche gegenüber.
«di costole», Galerie Neu