«Figur»
Die nachgebaute Welt – Thomas Demand «Dailies»
von Thomas Oberender
Wenn wir an eine literarische Figur denken, dann erscheint mit diese Gestalt, wenn sie die Bühne betritt, nur ein kleiner Ausschnitt aus ihrem Lebensganzen, das ansonsten hinter den Szenen im Verborgenen bleibt. Was wir erblicken, ist die Spitze eines Eisberges. Eine Figur, so lebensecht sie auch wirkt, wenn sie verkörpert wird, ist insofern etwas Abstraktes – sie steht mit wenigen Szenen im Licht pars pro toto für das gesamte, uns im Grunde verborgene Leben des Charakters. Um dies zu zeigen, überdauert in der Figur ein exakt definierter Verhaltensablauf, der für andere wiederholbar ist, etwa wie im Eiskunstlauf. Und in dieser Geste des Nachvollzugs so etwas wie die Originalerfahrung dieser Erfindung vermittelt.
Die Figur ist in diesem Sinne eher ein Muster, etwas Wiedererkennbares, sich Wiederholendes, und zwar egal, wer diese Figur ausführt oder aufführt. Die Figur ist das Resultat einer Festlegung und bereinigte Realität – sie ist, was übrig bleibt. Wir können diese Figuren nur sehen, weil sie das Ergebnis einer Art von Übersetzung sind, denn aus dem Diffusen, Kontingenten, Schmutzigen des Lebens entstand mit der Figur eine gefügte Erscheinung. Die Figur ist das dem Leben Nachgebaute, das Leben als Artefakt. Unzählige Beobachtungen und Gedanken kondensieren in dieser Form und lassen vom Leben jene reduzierte Gestalt übrig, die auf magische, da poetisch begründete Weise wieder die Anmutung von Leben erzeugt.
«Große Figuren der Zeitgeschichte» sind insofern einerseits leuchtende Beispiele für die Einsicht in eine gewisse Rolle, die sie gespielt haben, eine Rolle, in die sie sich mehr oder weniger selbst hineinbegeben haben. Zugleich aber bleiben diese großen Figuren, von Tilly bis Kennedy, abstrakt und unnahbar genug, um ein sich ständig erneuerndes Rätsel zu sein, sich selbst und anderen. Durch diese Figur hindurch verwirklicht sich etwas, wer diese Figur verkörpert ist deren Agent. In der Form ihrer stilisierten Existenz wird die Bestimmung des Lebens in einer bestimmten Konstellation fassbar und als eine solche Figuration von Umständen und Entwicklungen überhaupt erst wahrnehmbar. Figuren sind also auch Ordnungsmodelle, so etwas wie Verhüllungen ihrer Träger und im selben Moment schaffen sie für diese Freiräume und Orientierung. Künstler, denen es gelingt, aus der Verschlungenheit unserer Lebenszusammenhänge heraus wirkliche Figuren zu modellieren, schaffen mitten in ihrer Zeit abstrakte, aber fühlbare Muster (wie Musikstücke), deren Eigenleben sie als Autoren im Grunde nicht mehr braucht.
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Wenn man diese Figur mit genügend Gelassenheit aufmerksam betrachtet, so ist ihr schönster Effekt am Ende vielleicht der, dass sie für nichts steht als sich selbst. Von nichts berichtet als einer enigmatischen Schönheit, die sich um nichts von dem schert, was gemeinhin als «schön» gilt. Hamlet mag auf der Bühne ein hohlbrüstiger Jüngling sein, seine Melancholie aber leuchtet. Die großen Figuren dienen zu nichts mehr, sie herrschen. Sie halten nicht für etwas her, sondern öffnen uns die Augen für eine höchst spezifische, so wohl recht einzigartige, aber vollkommen evidente Form von Sinn, Erlebniswahrheit und Gefallen. Figuren sind Nachbauten der Welt, genauer gesagt – realer Gestalten, von denen genügend weggelassen wurde, um ihrer Erscheinung sowohl eine sonst nicht auffindbare Form von Klarheit, wie aber auch Geheimniskraft zu geben. Figuren sind das Gemachte, auf das wir schauen, um zu begreifen, was in uns wohnt.