Die Ausstellung als immersives Format
von Thomas Oberender
Scripted Spaces
Als das alte World Trade Center noch stand, gab es im obersten Geschoss des Nordturmes das Kino «Top of the World». Zu Beginn des Films musste ich eine Art Sicherheitsbügel vor die Brust herabklappen, weil der spektakuläre Helikopterflug über Manhattan, dessen Vorführung gleich darauf begann, so simuliert wurde, dass der Sessel, in dem man saß entsprechend der Neigung des Hubschraubers in eine Schräglage gebracht wurde oder steil nach hinten kippte, wenn die Maschine emporflog. Der hydraulisch bewegte Sessel ruckelte derart grob, dass sich der simulierte Flug um die Freiheitsstatue nicht wirklich «echt» anfühlte; aber trotz des Wissens um den faulen Zauber entstand ein Dialog des Films mit mir, der übers reine Zuschauen hinausging.
Norman Klein nennt diese vorprogrammierten Erlebniswelten «scripted spaces»: in und dank ihrer dynamischen Architektur schaffen sie Zyklen multisensorischer Ereignisse, die sich überlagern oder ablösen und einen stimmungsdichten Erlebnisraum schaffen. Seine Bücher über die Geschichte der Special Effects[1]oder Los Angeles[2], die Philippe Parreno mir in der Vorbereitungszeit der Ausstellung empfohlen hat, beschreiben kulturelle Strategien, die in Erlebnisparks, Cartoons oder der Filmindustrie einen besonderen Typus von Raum kreieren, der von einem verborgenen Skript gesteuert wird. Die «dynamische Architektur» ist im eigentlichen Sinne das Stück, das aufgeführt wird – sie errichtet nicht das Feste, sondern das Bewegte durch ein Zusammenspiel von Sound, Licht und der Bewegung von Objekten und Menschen. So entsteht eine Umgebung, die durchkomponiert und doch verblüffend, immersiv und eindringlich wirkt.[3] Ihre sinnlichen Realitäten unterlaufen solide Strukturen im vertrauten Sinne und durchsetzen den erlebten Raum mit Fiktionen. In diesem Erlebniskino, das am 11. September 2001 zerstört wurde, war nicht der Film das Ereignis, sondern die Welt, die rund um ihn errichtet wurde.
Das Konzept der «scripted spaces» beinhaltet und erfordert eine strikte Verzeitlichung der räumlichen Erfahrungen, da es vor allem die Erfahrung von Prozessen beschreibt. Dies bedingt natürlich auch eine Verzeitlichung des Formats der Ausstellung, wie sie für Parrenos Arbeit essentiell ist. Denn während die Objekte in diesem Format traditionell zur Ruhe gebracht werden, behandelt Parreno sie eher wie Darsteller eines geheimnisvollen Stücks. Zugleich erinnert dieser Begriff daran, dass mittels des Skripts in Parrenos Ausstellungen eine Welt nach einem eigenen Gesetz erzeugt wird, die nichts ab- oder nachbildet, sondern eine Wirklichkeit anderer Art vorstellt. Schon das simple Erlebniskino mit seinen Zelluloidfilmen und Schwebesesseln gibt einen Vorgeschmack auf das komplexe Worldbuilding von VR- und AR-Produktionen, 360-Grad-Filmen oder Computerspielen. Der Sinnentrug ihrer Simulationen lässt die Welt unter der VR-Brille im Bestfall so «real» [JW1] wirken wie das analoge Leben. Die Waldlichtung unter einer VR-Brille ist kein Bild mehr, sondern wird zum Raum, den man betritt. Parrenos Arbeiten haben mit diesen spektakulären Ästhetiken wenig gemein, mit ihrem immersiven Konzept allerdings sehr viel.
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[1]Norman M. Klein, The Vatican to Vegas: The History of Special Effects . New York. New Press. 2004
[2]Norman M. Klein, The history of Forgetting. Los Angeles and the erasure of memory, Verso Verlag, New York 1997
[3]Richard Hertz und Paula Burton, The language of scripted Spaces, Landscape Review 2/3, Lincoln University 1996, S. 24-43