Theater und Immersion
Gespräch mit Christine Wahl.
Herr Oberender, die Berliner Festspiele haben einen mehrjährigen Programmschwerpunkt: «Immersion». Was verbirgt sich dahinter?
Auf das Thema bin ich vor drei Jahren bei einem Workshop des Internationalen Literaturfestivals gestoßen, in dem es um den Transfer von Romanstoffen in Computerspiele ging. Immersion meint ein ästhetisches Prinzip, das auf die Herstellung einer besonderen Form von Unmittelbarkeit zielt, quasi auf das Eintauchen in den Gegenstand statt auf seine distanzierte Betrachtung.
Eine bewährte künstlerische Strategie, oder?
Ja und nein. Theater gab es schon immer, aber es sieht heute dann eben doch ganz anders aus als vor 50 Jahren. Und die immersive Wirkung verdankt sich heute sehr zentral neuen, digitalen Technologien, die selbst gar nicht auftauchen müssen, aber unser Wahrnehmungsverhalten, unseren Erlebnishunger bereits tiefgreifend verändert haben. Die Panoramabilder des 19. Jahrhunderts sind analoge Vorformen davon. Aber was sich im Moment durch die technologische Entwicklung verändert, ist, dass man dieses immersive Element nicht mehr mit einer Situation der Übersicht verbindet, sondern als Hineingeworfener oder Hineingeworfene erlebt, mittendrin und mindestens so sehr als Täter wie als Zeuge. Anders als bei der Guckkastenbühne schaut man im virtuellen Raum ja nicht auf die Dinge, sondern man tritt selbst in diesen Raum ein.
Das heißt aber nicht, dass bei «Immersion» Virtual-Reality-Brillen-Pflicht herrscht?
Nein, durch die digitale Revolution entstehen auch im analogen Bereich Werkformen, die auf dieses Eintauchen hin angelegt sind. Mona el Gammals Rhizomat beispielsweise ist ein narrative space: Ein Theaterstück, in dem keine Schauspieler auftreten, sondern in dem der Zuschauer – ein bisschen wie ein Tatort-Kommissar – allein einen Kosmos durchwandert, den er sich durch Indizien selbst erschließen muss. Je tiefer er in die Geschichte eintritt, desto klarer wird, dass er in der Zukunft gelandet ist, im Jahr 2060, wo die Welt von einem totalitären Meinungsinstitut beherrscht wird, das auch ihn als Besucher der Installation kontrolliert, wobei die Arbeit eben genau dies bewusst macht. Ein anderes Beispiel – außerhalb unserer Programmreihe – ist Hausbesuch Europa von Rimini Protokoll …
… Ein Abend, an dem sich die «Zuschauer» in einer Privatwohnung treffen, um über Fragen zu Europa, die von einem kleinen Apparat ausgespuckt werden, ins Gespräch zu kommen.
Woraus das Stück besteht, passt in eine Aldi-Tüte – darin sind ein paar Backformen, Buntstifte und ein Zufallsgenerator. Das eigentliche Stück aber ist die soziale Situation selbst, die durch ein paar Spielregeln, die genannten Requisiten und die vier Wände eines Gastgebers entsteht: Hier tauchen wir ein in die Welt eines anderen Menschen und des Verhaltens einer Gruppe, die das Stück nicht anschaut oder konsumiert, sondern durch die Antworten und ihre Handlungen überhaupt erst kreiert. Die Aufführung sind praktisch wir; wir haben nur den Spaß, den wir selber herstellen. Das ist in gewisser Weise wie bei IKEA.
Haben Sie eine Erklärung für diese Konjunktur des Immersiven?
Ich glaube, dass wir in einer Umbruchphase leben. Immersion ist kein rein ästhetisches Phänomen. Es ist der Leitbegriff einer Epoche, die neue Wirtschaftsformen und andere Politikmodelle hervorbringt und neue Herausforderungen an unsere Institutionen stellt. Das betrifft Schulen in gleicher Weise wie Museen oder Theater. Affekte, Rückkoppelungen, Blasen – das sind neue Betriebsmodi des Geistes und der Macht, die in den Künsten zuvorderst konturiert und überdacht werden. Parallel verändern Uber, Airbnb und Facebook die Welt. Das ist nichts, dem man mit der Brechtschen Zigarre an den Lippen bescheidwissend gegenüberstehen könnte.
Ihr Programmschwerpunkt bildet also eine gesamtgesellschaftliche Wahrnehmungsverschiebung ab?
Jedenfalls interessieren wir uns für ihn. Im Konkreten ist das Programm ja vor allem eine Entscheidung für bestimmte Künstler, denen wir für ihre Produktionen mehr Ressourcen geben als sie im Repertoire oder im Festivalsystem möglich sind. So entstehen immersive Welten, die jede ihr eigenes Recht behalten. Das Bescheidwissen von jemand, der von oben herab und unerreichbar zu «Abwesenden» spricht, empfinden viele Leute zunehmend als unangenehm. Oder es reicht ihnen nicht mehr aus. Vor diesem Hintergrund interessiert es mich natürlich sehr, wie Künstler einerseits Institutionen an die Grenze führen, andererseits aber auch ganz andere Erlebnissituationen fürs Publikum schaffen.
Situationen, in denen die Zuschauer selbst zu Akteuren werden.
Immersion ist kein klassisches Mitmachtheater im Sinne des Mitspielenmüssens, sondern löst zunächst erst mal einfach die Grenze zwischen «denen» und «uns» auf. Es duldet kein Gegenüber – was rauschhaft sein kann, aber auch seine bedenklichen Seiten hat.
Weil man notwendigerweise seine hinterfragende Distanz aufgibt, wenn man selbst zum Teil des Werks wird?
Überwältigen wollte Kunst immer. Aber gute Arbeiten holen einen ja nicht nur in den Zustand hinein – das machen Werbung oder Entertainment –, sondern sie schaffen ein Bewusstsein für die Mittel. Deshalb greift der kritische Reflex, Immersion sei konservativ, weil sie die Distanz zerstört, ein wenig zu kurz.
Was würden Sie diesen Immersionskritikern denn entgegnen?
Mehr Kafka, mehr Ken Liu lesen. Mehr Filme von Christopher Nolan und Ausstellungen von Philippe Parreno anschauen, oder Videos von Ed Atkins. Es gibt kein Hauptquartier mehr. Auch keines der Aufklärung. Früher gingen die Regisseure, die Götter in Schwarz des modernen Theaters, nach der Premiere vor den Vorhang und dann ab nach Hause. Heute sitzen sie an verborgenen Bildschirmen in verborgenen Kontrollräumen. In jedem Stadttheater mit einem Guckkasten bin ich «freier» als in immersiven Theaterformen, die hochgradige Kontrolllandschaften sind. Das heißt allerdings nicht, dass das schlecht ist, sondern lediglich, dass dort ein in der Welt existierender Zustand in einer anderen Form abbildbar und reflektierbar gemacht wird.
Viele Künstler verbinden das Immersive mit ausdrücklich politischen Intentionen.
Genau. Die feministische Journalistin Nonny de la Peña etwa schafft in der virtuellen Realität Environments, in denen du nicht mehr Zeuge, sondern Gast sozialer Situationen bist, die von Gewalt und Unrecht geprägt sind. Das sind authentische Fälle, und Nonny de la Peña glaubt fest daran, dass wir bestimmte Erkenntnisse nur machen, wenn wir sie auch fühlen. Die Mittel oder Formen, die zu diesen Erfahrungen führen, gestaltet sie übrigens immer sehr «episch»: Man vergisst nicht, dass alles nur «gemacht» ist, aber es macht halt trotzdem etwas mit einem.
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November 2017