«Das Über-Jetzt»
Eine Ausstellung, die Geschichte schreibt: In Düsseldorf zeigt die Julia Stoschek Collection, wie sich Videokunst neu erleben lässt.
Von Thomas Oberender
Um Videokunst zu sehen, muss man im Museum schwere Vorhänge zur Seite schieben und in dunkle Räume schlüpfen. Wenn man Glück hat, fängt der Film gerade an, meistens aber kommt man zu spät und hat keine Ahnung, wie lange er noch dauert. Mag der Künstler seine Geschichte noch so subtil geplant haben, in Museen und Ausstellungen lässt sich das Publikum nur ungern so stillstellen wie im Theater oder Kino.
Seit zehn Jahren sammelt Julia Stoschek diese Kunstform, kunstgeschichtlich betrachtet kaum länger als ein Wimpernschlag, mediengeschichtlich aber eine Periode voller Wandlungen. Während Sammeln eigentlich bedeutet, dem Vergehen der Zeit etwas Bleibendes abzuringen, bedeutet Medienkunst zu sammeln, ständig vom Verschwinden der Hardware und industriellen Standards bedroht zu sein - als würde man Schneebälle sammeln. Und so ist das Bemerkenswerte an der Geschichte der Julia Stoschek Collection nicht nur, dass sie in sehr kurzer Zeit zur vielleicht interessantestem Sammlung zeitbasierter Medienkunst geworden ist, sie verhindert auch, dass mit dem Dahinschmelzen einstiger Medientechniken zugleich auch die Werke verwinden.
Die Qualitätsverschlechterung, die mit dem Kopierprozess der Werke verbunden ist, nennt man «Generation Loss». Und so heißt auch die Ausstellung, die Ed Atkins aus Anlass des Jubiläums der Collection kuratiert hat. Dafür hat Atkins, selber ein Jungstar der Medienkunstszene und in der Sammlung vertreten, 48 Arbeiten aus den rund siebenhundert Videos, 16-mm-Filmen und file- und netzbasierten Werken ausgewählt. Und er sperrt sie nicht in dunkle Separees, er wählt einen höchst ungewöhnlichen, transparenten Versuchsaufbau: Auf den beiden Fabriketagen hat Aktins eine Architektur aus Akustikglas einziehen lassen, so dass man auf einen Blick viele Videos zugleich sieht, ohne dass sich die Tonspuren der gläsernen Kabinette überlagern würden.
So entsteht ein Chor der simultan gezeigten Werke, eine überwältigende Gleichzeitigkeit, in der niemand mehr «zu spät» kommt. Die Filme werden innerhalb der gläsernen Zellen immer im Zusammenspiel von zwei Projektionswänden gezeigt und dieser Flow hört nie auf. So kann das Publikum vergleichend sehen, denn alle ausgewählten Arbeiten werden zudem im 4:3 Format und alle als Videoprojektion gezeigt. Es gibt hier kein anheimelndes Surren mechanischer Filmprojektoren mehr, keine Monitorkisten mit Röhrenbildschirm, keine LED-Screens oder Kopfhörer. Atkins nimmt die Nebenaura der historischen Apparatur weg und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Bild selbst, auf seine Komposition, die Montage und historische Beschaffenheit. Das übergeordnete Display wirkt radikal zeitgenössisch, obwohl die Filme selbst ihre Historizität nicht verlieren.
Den Prolog der Ausstellung bilden zwei Arbeiten, die reine Jetzt-Zeit-Streams zeigen. Wiedergegeben werden keine Filme, sondern Werke, die sich gar nicht mehr festhalten lassen – sie zeigen die reine Aktualität des Prozessierens technologischer Systeme. Die Gemeinschaftsarbeit von Ed Atkins und Simon Thompsons mit dem Titel «sky news live» zeigt das Livebild eben dieses Fernsehsenders. Das bewegte Bild ist hier nicht mehr die Ausstrahlung eines vorproduzierten Beitrags, sondern zeigt die Realität zeitgleich mit dem Modus ihrer Produktion – für Atkins ist dieser Live-Stream ein Objekt, das sich «mit sich selbst füttert und mit seinem eigenen Inhalt aufrechterhält». Von ihm bleibt nichts als der nächste Moment.
Gleiches gilt auch für die Arbeit «Emissary in the Squat of Gods» von Ian Cheng, der sie eine «Echtzeitsimulation und Erzählung von unbegrenzter Dauer, Farbe und Ton» nennt. Sie präsentiert eine sich pausenlos algorithmisch umbildende Welt, durch die ein Menschheitsabgesandter läuft und auf das göttliche Gewusel zu reagieren versucht. Vom Ausgangspunkt dieser transitorischen Werke, die eher ein Echtzeit-Stream sind als etwas, das aufgenommen wurde und sich noch irgendwie festhalten ließ, tritt man dann in das erste Kabinett des gläsernen Großraums.
Im ersten Kabinett stehen Wolfgang Tillmans «Heartbeat / Armpit» aus dem Jahr 2003 und der 1985 entstandene Film «Hail the new puritan» von Charles Atlas nebeneinander. Tilmanns Film zeigt die Achselhöhle eines jungen Mannes, der jener jugendliche Tänzer aus dem London der Post-Punk-Zeit sein könnte, der in Charles Atlas zwanzig Jahre älterem Film in verschiedenen Choreografien von Michael Clark zu sehen ist. Beide Filme fokussieren ein unmittelbares, privat wirkendes Moment und vermitteln eine Vorstellung von Zartheit und Achtsamkeit, die sichtbar wurde, weil die Kameratechnik aus der Welt der öffentlichen und professionellen Repräsentation langsam in die Welt häuslicher, amateurhafter, fast intimer Gemeinschaften vorgedrungen ist. Beide Filme schützen ihre Entdeckungen, geben Zeugnis von einer Geste der Fürsorge, einer Freiheit in den Hinterhausstudios von Künstlern, die fragil bleibt, weil sie sich öffnet wie diese behaarte Achselhöhle in Tilmanns Film.
Im dahinterliegenden Kabinett sind die Bildflächen größer als im ersten Raum und zeigen Reynold Reynolds und Patrick Jolleys Film «Burn» und Lutz Mommartz «Die Treppe» als Loop auf der linken Projektionsfläche, während rechts die Filme «Spitting on a Camera» und «Ma Bell» von Paul McCarthy sowie Douglas Gordons «Over my sholder» laufen. In diesem Raum wird die Kamera zum Zeugen der Auftritte verschiedenster Dämonen – von Menschen, die wie in «Burn» in ihrem brennenden Haus teilnahmslos nach draußen schauen oder weiter in ihren schon verkohlten Büchern lesen. In Mommartz Film irrlichtert ein tollpatschiger Mann durch seine Wohnung, wo ihm sein Hab und Gut in die Quere kommt und sein Kopf verrücktspielt, während seine Hand immer wieder auf das Objektiv der Kamera schlägt. Eine abstoßende, verzweifelte und zugleich satyrhafte Figur traktiert währenddessen auf der rechten Projektionswand als der damals noch junge Paul McCarthy ein Buch mit Motoröl, Wolle und Mehl. Ihm folgt Douglas Gordons obszönes und gewalttätiges Spiel einer behaarten Männerhand auf einem weißen Bettlaken. Sie wird in mehrfach abgeschnürt bis sie blau anläuft, lockt aber den Betrachter mit dem Zeigefinger beharrlich näher, um jäh auf die sie beobachtende Kameralinse einzuschlagen.
Die Ausstellung legt durch ihre parallelen Bildflächen ein flanierendes Betrachten nahe, ein vergleichendes Sehen, bei dem das Wandern des Blicks keine Ablenkung ist, sondern die Hinführung zu einem anderen Verstehen. Durch die choreografierte Simultaneität der Filme werden Motive erkennbar, die über verschiedene Künstlergenerationen offensichtlich doch hinweg weitergegeben werden, statt verloren zu gehen. Die in diesem zweiten Raum gezeigten Künstler eint ihr experimentelles Interesse an anderen Geistes- und Körperzuständen. Es sind Formen der Besessenheit, durch die unsere Normen der einvernehmlichen Gesellschaft hinterfragt werden. Genauso das scheinbar so selbstverständliche Beobachten der Kamera, die in diesen Filmen immer wieder «bemerkt» und angegriffen wird.
«Generation Loss» legt durch die parallelen Bildflächen ein flanierendes Betrachten nahe, bei dem das Wandern des Blicks keine Ablenkung ist, sondern die Hinführung zu einem anderen Verstehen. Durch die choreografierte Simultaneität der Filme werden Motive erkennbar, die über verschiedene Künstlergenerationen hinweg weitergegeben werden, statt verloren zu gehen. Man kann dafür die Filme nicht zur Gänze sehen, was ohnehin Tage dauern würde, aber auf die von Atkins konzipierten Verlinkungen einzelner Motive und Muster achten, die sich augenblickshaft zeigen. So gibt es auch nirgends Sitzbänke, die ein anhaltendes Betrachten eines der Werke erleichtern würden. Stattdessen erzeugt der Ausstellungskörper einen flimmernden Organismus von nicht mehr fixierbarer Aktualität, da sich die Filme aufgrund ihrer Laufzeiten ständig anders synchronisieren. Jeder Gast findet eine andere Ausstellung vor.
Atkins, der einer der erfolgreichsten Künstler der post-internet Generation ist, hat mit «Generation Loss» eine Ausstellungsarchitektur geschaffen, die vom Internet zutiefst geprägt ist. Als Prolog hat er der Ausstellung ein eigenes Werk und eine Arbeit von Ian Cheng vorangestellt, die beide keine Filme mehr zeigen, sondern die Echtzeit-Simulation technologischer Systeme. Sie halten nichts mehr fest, sie sind reines Jetzt. Das Gesamtgebilde, das Atkins aus den Werken der anderen Künstlerinnen und Künstler im Anschluss geschaffen hat, ist selber solch ein Stream. Dafür hat er den ausgewählten Arbeiten ihren «Körper» genommen, ihr Zelluloid oder Magnetband, um einen anderen zu schaffen: Das chorische Über-Jetzt des Videosaals.
Diese Düsseldorfer Ausstellung kreiert Erlebnisinseln, die uns die Erfahrung der Dämonie, von Momenten intensiver Lebenslust oder Kämpfe wie in den Filmen von Jen Denike oder der Bernadette Corporation durch ihr Zusammenspiel vermitteln. Dennoch erhalten einzelne Arbeiten von Barbara Hammer oder Dara Birnbaum, Rachel Rose oder Jon Rafman auf beiden Etagen weiterhin sehr wirkungsvolle solistische Projektionsorte. Im zweiten Obergeschoss gibt es zudem einen Kinosaal und vor dem Haus eine Installation von Lucy Raven. Aber der wirkliche Zauber dieser Ausstellung entsteht durch das raumfüllende Flimmern des Gleichzeitigen, dieses Über-Jetzt und die Mikroerzählungen seiner klugen Separees.
Das muss man gesehen haben. Nur selten zeigt sich das Zeigen einer Ausstellung so deutlich wie in «Generation Loss». Das Format dient hier nicht nur. Es steht neben dem Werk als Werk. Und man muss das gesehen haben, auch weil sich diese Ausstellung zugleich völlig anders lesen lässt, als ihr Titel das nahelegt. Denn Atkins Künstlergeneration ist ja weit weniger geprägt vom Generationenverlust als von der gespenstischen Verlustlosigkeit beliebig vervielfältigbarer Daten.
«Verlustlosigkeit ist im Überfluss vorhanden», schreibt Atkins. Erfahrung aber ist für ihn unlösbar mit Verlust verbunden. Mit der Tatsache, im Leben sehr oft etwas nicht festhalten zu können – Beziehungen, Beobachtungen, Gefühle, sie alle vergehen. Jeder Film versucht das zu verhindern. In dieser Düsseldorfer Ausstellung schafft Ed Atkins eine Architektur, die im scheinbar Flüchtigen und Oberflächlichen genau diese singulären Momente von Erfahrung freilegt, wechselseitig verstärkt und bewahrt. Sie schafft dem digitalen Zeitalter mit diesem Ausstellungsformat eine neue Erfahrungs- und Wissensform, die transparent ist, kühl und zugleich sehr bewegt.
Der Artikel erschien in «Die Zeit» Nr. 12, 15.3.2017, S. 51
Zu «Generation Loss» im Archiv der Julia Stoschek Collection