«Kunst besteht. Kultur vergeht»
10 Thesen zur Entwicklung von Kultur und Kulturpolitik
von Thomas Oberender
Fassung vom 27. November 2015. Die kürzere Fassung mit acht Thesen ist in der Zeitschrift Cicero (Juli 2015) erschienen.
10. Dezember 2015. Künstler und kulturelle Institutionen erfahren in Deutschland im internationalen Vergleich eine beispiellos großzügige Unterstützung durch die öffentliche Hand. Zugleich beobachten wir, dass in der Bundesrepublik in das System staatlich getragener Leistungen kaum mehr frisches Geld einfließt, sondern die auf eine langfristige Arbeit hin angelegten institutionellen Budgets vieler Museen, Theater oder Konzerthäuser in den deutschen Bundesländern seit geraumer Zeit stagnieren oder sinken.
Nachfolgende Thesen zur kulturpolitischen Entwicklung der letzten Jahre versuchen die wesentlichen Tendenzen und Haltungswechsel zu beschreiben, die über kurz oder lang zu einer sich radikal wandelnden Finanzierungs- und Produktionsform der zeitgenössischen Kunstproduktion führen. Dieser tiefgreifende Wandel der kulturfördernden Gremien und Institutionen in Staat und Wirtschaft ist längst im Gange, und er korrespondiert mit sich ändernden Werk- und Erlebnisformen von Kunst und einem gewandelten Publikumsverhalten. All dies spielt hinein in die aktuellen Spielregeln der «Extraförderung» durch Jurys, wie sie sich mit der temporären Projektförderung verbindet. Was nachfolgend beschrieben wird, sind vor allem Fördermodalitäten, die inzwischen alternativ zur eingefrorenen institutionellen Förderung vergeben werden – in Form von Projektgeldern und Drittmitteln. Um die hiermit verbundenen Hintergrundhaltungen geht es im Folgenden.
1. Kultur vs. Kunst
Kunst scheint zunehmend das im Beipackzettel von Förderanträgen und Förderrichtlinien Mitgemeinte zu sein. Zu Leitbegriffen von Förderinitiativen wurden Worte wie Education, Nachbarschaft, Integration. Vielleicht wird unsere Gesellschaft egoistischer und das Förderideal im Gegenzug altruistischer und ist inzwischen fast immer auf soziale Besserungseffekte bezogen. Der dynamische Bereich der Kulturförderung dient heute jedenfalls auffällig oft sozialen Zwecken und weniger der Förderung von künstlerischer Produktion. Interessanterweise entspricht dies auch einer Tendenz im Feld der Kunstproduktion selbst, die inzwischen weniger auf die Hervorbringung singulärer Objekte als auf durch Kunst inszenierte Verhaltensräume zielt. Das Werk sind die vom Künstler ausgelösten Vorgänge in unseren zwischenmenschlichen Beziehungswelten.
«Kultur» ist in diesem Zusammenhang das optimal quecksilbrige Wort, wenn Kunst derart zur sozialen Situation werden will, sich einmischt und aus den repräsentativen Räumen heraustritt. Kultur kann sich zudem mit allem verbinden. Kultur funktioniert als Kompositum mit jedem Aspekt des Lebens, und als Kultur kann man alles bearbeiten. Kultur ist auch leichter zu «gestalten» und zu steuern als Kunst. Die traditionelle Geste, dass ein Souverän, sei er ein Mäzen oder der Staat, Künstlern durch Aufträge ihre Freiheit gewährt, wird abgelöst von einer Geste, die vermittels der Kunst eine spezifische Pädagogik verfolgt: mehr Bildung, mehr Austausch, mehr Integration, mehr Vernetzung, mehr Nachhaltigkeit, mehr Innovation, mehr usw. Vielleicht liegt dieser Geisteswandel, demzufolge weniger die Kunst der Förderung bedarf als der Zustand unseres Gemeinwesens, auch daran, dass der Hype der bildenden Kunst suggeriert, Kunst käme am Markt schon von allein zu Geld. In jedem Fall aber wirken direkte Unterstützungen für Künstler oder Aufführungen heute eher ungewöhnlich, denn gefördert wird inzwischen oft ein sozialer Zweck, der durch die Kunst vermittelt werden soll. Kunst gilt vielen Institutionen plötzlich als ein sekundäres, unsicheres Phänomen.
2. Kultur als gesellschaftliche Verpflichtung.
Viele Firmenstiftungen folgen heute dem Konzept der Corporate Social Responsibilty (CSR). Sie verpflichten sich, mehr für die Umwelt, Gesellschaft und auch für die eigenen Mitarbeiter zu tun als es gesetzlich vorgeschrieben ist. Firmen agieren einerseits bewusst wie zivile Personen, die über den Rahmen des gesetzlich Vorgeschriebenen hinaus soziale Verantwortung übernehmen wollen, um die gesellschaftliche Akzeptanz, die mit ihnen entgegen gebracht wird, zu gewährleisten. Wie wichtig dies ist, spüren Firmen, aber auch der Staat, wenn er z.B. anfängt, Kunstwerke aus seinen Sammlungen zu verkaufen. Solche Vorgänge können, verstärkt durch die sozialen und öffentlichen Medien, das Image eines Landes oder Unternehmens zentral beschädigen bzw. aufwerten. Kulturförderung aus einer Grundhaltung der CSR fördert daher eher Konsenspositionen als das Extreme oder Riskante.
3. Projektförderung als Steuerungsstrategie
Staatliche und private Kulturförderungseinrichtungen sind daran interessiert, sich Spielräume für aktuelle Reaktionen zu erhalten. Da jede Form von sich verstetigender Förderung diese Spielräume einschränkt, wird jenseits der Institutionen von privater wie auch öffentlicher Hand ein temporäres Engagement präferiert, bzw. für neue Initiativen durch Satzungen und Statute sogar vorgeschrieben. Projektförderungen erlauben den Geldgebern klare Zielbeschreibungen, machen die Arbeit und ihre Effekte evaluierbar und setzen Grenzen für den Ein- und Ausstieg in die Zahlungen. Dabei ist die «Projektförderung» nicht mehr auf die sogenannte «Freie Szene» beschränkt – seit Langem diffundieren die Bereiche zwischen ihr und den klassischen Institutionen. Die wirkliche «Systemgrenze» verläuft heute eher zwischen exklusiven und kooperativen Produzenten – entlang dieser Grenze organisiert sich die Infrastruktur und Arbeitsweise der Künstler, aber auch der zuständigen Förderstruktur und eines damit assoziierten Marktes an Dienstleistern.
Die Projektkultur bringt mit sich: das Antragswesen, die Jurys, die Macht der Politiker, die striktere Beeinflussbarkeit der Kunstproduktion, die Ex- und Hopp-Kultur der Festivals, die prekären Arbeitsbedingungen. Projektförderung fördert Chancen, nie Sicherheit. Sie übernimmt letztlich keine Verantwortung, sondern beschränkt sich darauf, Impulse zu setzen. Sie behandelt auch durchgesetzte Talente wie Start-Ups. Projektförderung priorisiert strategische Ziele, was man besonders deutlich im Bereich der kulturfördernden Wirtschaft sehen kann. Firmen fördern immer seltener noch «altmodisch» mäzenatisch, also loyal zu Künstlern und Institutionen sondern treten eher als Sponsoren spezifischer Projekte auf, die sich loyal gegenüber dem eigenen Firmenthema und der eigenen Zielgruppe verhalten müssen. Und es ist offenkundig, dass auch die öffentliche Hand inzwischen zu einer Haltung tendiert, der zufolge sie Projekte «sponsort», d.h. die Förderung mit strategischen Impulsen verbindet, die deutlich von kulturpolitischen und geopolitischen, zudem oft pädagogischen Interessen geprägt sind.
4. Institutionenwandel durch Projektförderung
Die finanzielle Unterdeckung vieler Institutionen wird inzwischen durch sporadisch und vom Genehmigungsglück abhängige Mittel für Projekte ausgebessert. Für die Institutionen bringt dies einen schleichenden Wandel ihrer Arbeits- und Vertragsstrukturen mit sich. Für viele Mitarbeiter führt dies zur Entsicherung ihrer Beschäftigungsverhältnisse. Zugleich ist das dynamische Segment inhaltlich und strukturell oft sehr genau an den konzeptionellen Bedürfnissen der jüngeren Produzenten orientiert. Sie wollen intermedial, international, interkulturell und interdisziplinär arbeiten können und erleben die traditionellen Apparate dafür als zu starr.
So entsteht ein süßsaurer Bereich aus neuen Möglichkeiten und neuen Härten, sowohl für die klassischen Institutionen, die sich plötzlich damit konfrontiert sehen, dass man ihnen als Institution kaum mehr hilft, dafür aber alle Schritte unterstützt, die innerhalb ihrer Mauern Insellösungen für Projektaufgaben schaffen – ein Phänomen, dass auch im hier ansonsten ausgeklammerten Bereich der Wissenschaft und Bildung zu beobachten ist, wo Professoren immer stärker damit befasst sind, sich das Geld für ihre Forschung selber zu beschaffen. Und dieser süßsaure Bereich entsteht auch, unter reziproken Vorzeichen, im Hinblick auf die freien Produktionsstrukturen, die kooperativ organisiert sind, aber mit dem Problem konfrontiert sind, dass sich ihre Arbeit und Struktur kaum mehr verstetigen kann. Angesichts dieser projektkapitalistischen Entwicklungen erscheinen Institutionen plötzlich als die «freiere» Struktur, da in ihnen eine künstlerische und intellektuelle Arbeit mit langer Laufzeit und jenseits aufwändiger Bürokratien möglich ist.
5. Kreativ-Cluster als neue Kulturträger
Stiftungen und Förderstrukturen schließen sich auch in Europa immer öfter zu Fonds und Organisationen zusammen, die ihr Know How professionalisieren und damit weitere Geldgeber, aber auch Produzenten anziehen. Im Windschatten dieser Großakteure, die in den USA weit verbreitet sind, bildet sich ein Tross von kleineren, unabhängigen Dienstleistern – unabhängige Agenturen, die Projekte lancieren, Expertisen anfertigen, Büros zur Kundenbetreuung, Pressearbeit oder für den Veranstaltungsservice. Selbst kleine Unternehmungen, die neue Projekte mit Crowd-Funding finanzieren, brauchen Unterstützung, um ihre Unterstützer zu belohnen und zu betreuen. So entsteht eine dezentrale Korona um die großen Flagschiffe der wirtschaftsnahen und staatlichen Fördereinrichtungen.
In diese Tendenz passt, dass auf staatlicher Ebene auch im Bereich der institutionellen Kultureinrichtungen ein Trend in Richtung von Clustern wie dem Berliner Humboldt-Forum oder dem Kulturforum entstehen. Solche «Kultur-Hubs» enthalten den Keim für ganz neue Ortsprofile. Als Chance ist in diesen neuen Clustern angelegt, dass sie fast geschlossene Arbeitsketten zwischen Künstler, Residenzen, Shops und Firmensitzen der Kreativindustrie entwickeln. Das Tokioter 3331 Arts Chiyoda ist dafür ein brillantes Beispiel. Cluster bilden hybride Milieus zwischen Online- und Offlinewelten im Handel genauso wie im Bereich der kulturellen Arbeit. Das Pendant zu diesen Kreativclustern sind Fördercluster, die im Grunde von der Jugendförderung bis zur internationalen Modell- und Exzellenzförderung alles umfassen. Auf der Ebene der Kreativen schließlich bilden sich neue Koalitionen, Räte und Dachverbände zur Interessenvertretung und Lobbyarbeit heraus, die zu immer wichtigeren Partnern für die staatliche und wirtschaftsnahe Förderung werden. Sie prägen die hybriden Konzepte zwischen den klassischen Institutionen und den «flüssigen» Projektzonen.
6. Geldgeber als Kultur-Veranstalter
Während es lange eine strikte Trennung gab zwischen Geldgeber und Veranstalter, mit einem unterschiedlichen Selbstbewusstsein und Auftrag, vermischen sich diese Sphären immer stärker. Siemens veranstaltet in Salzburg eigene Festspielnächte; Vattenfall veranstaltet die Hamburger Lesetage und BMW sein Guggenheim-Lab. VW leistet sich ein eigenes Tanzfestival, Bayer, die Deutsche Bank oder die Hypo-Vereinsbank unterhalten je ein eigenes Kulturhaus oder Museum. Während große Firmen früher Festivals, Museen oder Künstler unterstützt haben, veranstalten sie nun selber Festivals und bauen ihre eigenen Museen wie Siemens oder die Firma Würth.
Auch staatliche Institutionen wie die Bundeszentrale für politische Bildung unterstützt nicht mehr nur Produktionen, sondern veranstaltet selbst ein Theaterfestival, ebenso wie die Kulturstiftung des Bundes inzwischen auch selber Symposien ausrichtet. Das ist neu und zeigt, wie hoch einerseits der Druck auf den Kulturabteilungen der Firmen und Förderinstitutionen lastet. Es zeigt aber auch, dass der alte, europäische Geist von der Freizügigkeit der Künstlerförderung einer pragmatischen Haltung der Kontrollmaximierung der Kultur weicht. Dass Geldgeber zu Veranstaltern werden, spiegelt sich aber auch in einem anderen Bereich: Die Freundes- und Fördervereine haben die Tendenz, Clubs zu bilden, exklusive Strukturen, die selber wie Firmen agieren. Das heißt, sie professionalisieren ihre Tätigkeit und werden Veranstalter von Freundeskreisaktivitäten bis hin zu Merchandising-Projekten.
7. Soziale Beziehungen als neuer Rohstoff der Kultur
Nahezu jede Institution und jeder Akteur investiert seit Jahren intensiv im Bereich der sozialen Medien und digitalen PR. Das Netz ist das Archiv, die Bibliothek und dezentrale Sendeanstalt von heute. Die alten Versprechen der Printmedien – flächendeckende Observation der Kulturszene und die Dokumentation ihrer Ereignisse – übernehmen heute die Neuen Medien. Was noch gedruckt wird, bleibt nur insofern erfolgreich, als es sich im Wettlauf um Neuigkeiten Zeit nehmen kann. Oft sind es Wochen- oder Wochenendzeitungen, die den Tag schlauer denken können als das Netz, weil sie mehr Ruhe zur Reflexion haben.
Die digitalen Formate und insbesondere die sozialen Netzwerke fördern den informellen Informationsaustausch, der sich immer stärker auf die Nutzer hin personalisiert. Und als Nutzer immer noch weitestgehend kostenfreier Dienste hinterlassen wir mit jedem Klick unweigerlich Spuren in den Netzwerken, Clouds und Festplatten. Da wir unsere Entscheidungen in dieser Sphäre lesbar machen, sind die Gesten unserer Neugier, unsere Datentaten und die Pflege unserer Beziehungen inzwischen mit Anbietern verbunden, die aus jeder Regung im Netz eine Dienstleistung machen. So werden unsere sozialen Beziehungen auswertbare Entscheidungen, also ein sozialer Rohstoff, der die nächste große Ressource der Wirtschaftsentwicklung bilden soll.
Die Welt, in der wir leben, wird sich auf der Grundlage dieses Gesamtscans all unserer Lebensentscheidungen komplett verwandeln. Denn wir bezahlen bereits jetzt mit unserem Verhalten – Anklicken, Hinschauen, Hingehen: Das ist die neue Währung. Das innere Feld unserer Präferenzen und Vorlieben, unsere geheime Wunschlandkarte, das uns motivierende und steuernde Gedankenreich und auch der heimliche Triebgarten unserer Entscheidungen werden lesbar, und deshalb schließt sich hier auch ein Kreis zu einer Förderkultur der Partizipation, des Mit- und Selbermachens. Gefördert wird also Bindung, eine Kultur der Anbindung, die Steuerung von sozialem Verhalten, also Kultur. Umso wichtiger ist es auch hier, Kunst zu fördern, den Inhalt, das Werk, nicht nur die Beziehung.
8. Verflüssigung als neue Struktur
Netzwerk-Strukturen wie Festivals, Biennalen oder Ausstellungshäuser ergänzen zunehmend traditionelle Institutionen. Diese fluiden Strukturen können jedes Jahr andere Akteure anheuern sowie neue Schwerpunkte und Partner finden. Was wiederkehrt, ist die Struktur und der Zeitpunkt – jedes Jahr die Berlinale, alle zwei Jahre eine Biennale in Venedig, alle drei Jahre «Theater der Welt», alle fünf Jahre die Documenta. So wie die Schwerpunkte und Auswahlkriterien innerhalb der fluiden Produktionsstrukturen sich ändern, genauso verändern die Förderinstitutionen ihre Allianzen, d.h. die Struktur der Förderinstitution bleibt, setzt aber jährlich andere Akzente. So entsteht ein Wechselspiel zwischen der Verflüssigung der Arbeitsstrukturen und der Notwendigkeit zur Fokussierung auf kommunikativer Ebene. In der Welt der Projektarbeit agieren Förderer dabei oft selber wie Kuratoren, und die im zweiten Schritt engagierten Kuratoren wiederum wie Künstler, indem sie ihre subjektive Geste zum zentralen Kriterium machen. So wird Subjektivität zu einem Schlüsselwort in dieser Welt flüssiger Räume.
9. Das Format als Werk
Keine Religion, Nation, Massenbewegung, Ideologie, keine Institution und auch kein Algorithmus sortiert das Jetzt, sondern subjektive Entscheidungen. Sie zeigen sich einerseits am nach wie vor starken Trend zur Autorenschaft, die nun oftmals zur Kuratorenschaft wird. Ihr Werk ist das Format. Also nicht mehr das einzelne Stück, sondern das aus vielen Stücken gebildete Format (100 Grad, 14 rooms). Die Autoren dieser Formate sind Kuratoren – ihre Subjektivität schafft autonome synthetisierende Formen. Parallel dazu erleben wir aber auch das Entstehen von postkuratorischen Werkformen, die sich als Archiv- und Forschungsprojekte verstehen, welche eben kein Mastermind haben, sondern «masses of minds» – sie stellen Feedbackorgane dar und bilden offene, vernetzte Milieus. Sekundäre Autoren (Kuratoren) und flüssige Kollektive sind also zwei Erscheinungsformen einer unheroischen Subjektivität, die auf Dialogizität und Interaktion beruht statt auf Hegemonie, zentraler Sendestation und vereinzelter, anonymer Empfänger. Dahinter steht ein subjektiver Geschmack und Gedanke, der sich seinen Weg sucht – auf Seiten der Produzenten genauso wie auf Seiten der Förderer.
10. Europa ist anders
Die Blüte der deutschen Kultur ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ist nicht denkbar ohne die zahlreichen Fürstenhöfe, welche die Musiker und Dichter, Architekten und Gelehrten förderten, die in eine sich herausbildende Bürgergesellschaft hineinwirken konnten und sie ideell formatiert haben. Die repräsentative Demokratie zwei Jahrhunderte später macht die Entscheidung darüber, was an Kunst gefördert wird, bis heute nicht zur Privatsache, sondern zur parlamentarischen Debatte. Es ist in hohem Maße staunenswert und eine Eigenart, dass in Europa der Staat Geld gibt für die Künste. Natürlich ist die USA reich an hervorragenden Museen und Forschungseinrichtungen. Aber es spricht einiges dafür, dass die Blüte des europäischen Theaters in den Benelux- oder deutschsprachigen Ländern eben auch mit einem über Jahrzehnte gut ausgestatten System aus staatlich getragener Bildung und Praxis zu tun hat, das sich am Markt nie bewähren würde, in der Welt aber schon.
0.4 Prozent des Bundeshaushaltes gehen in die Kultur, zwischen 1.4 und 1.9 Prozent der Budgets der Städte und Länder. Um Mitglied in der Nato zu sein, muss ein Staat mindestens 3 Prozent seines Haushaltes ins Militär investieren. Es ist also noch Luft nach oben für die Kultur in Ländern, die bis heute hohe Standortvorteile mit ihrer Geschichte und Lebensqualität als «Kulturnationen» verbinden. Das Seltsame ist, dass die mit einer bestimmten Kultur verbundenen Kunstwerke das Produkt einer freien Intelligenz und ihrer Lebensanalyse waren, die Schönheit schufen und Einsicht im eigenen Auftrag. Es mag jeder seine Berechnungen anstellen mit der Kunst, aber dass Kultur vergeht, ist gewiss, Kunst hingegen bleibt.
Die praktischen und eher technischen Belange, die heute mit der Förderung von «Kultur» gerne verbunden werden, sind Intentionen, die letztlich die zivilen Qualitäten unseres Gesellschaftslebens verbessern wollen. Sie sind Reparaturen am Sozialstaat, die jeder Aufsichtsrat und Abgeordnete versteht. Sie sind auch dringend nötig. Vielleicht gibt es das Deutschland nicht mehr, das wir noch vor uns zu sehen glauben. Die Herausforderung der auch in den nächsten Jahren sich fortsetzenden Masseneinwanderung braucht starke öffentliche Institutionen, auch Kultureinrichtungen, die Orte der Ankunft und Aufnahme bilden können. Wir brauchen in diesen sich dramatisch wandelnden Welttagen die distanzierende und aus anderen Vernunft- und Wissensgegenden sprechende Kunst. Eben weil sie nicht dient, sondern aufbricht. Die Frage ist, wie wir, die sehenden Auges den Umbau einer europäischen Kulturlandschaft erleben, mit dramatischen Einbrüchen in Italien, Ungarn, den Niederlanden oder Belgien, der schleichenden Preisgabe unserer europäischen Noblesse begegnen wollen. Angesichts der hier skizzierten Tendenzen braucht das Entstehen von Kunst sowohl in den sich selber auszehrenden staatlichen wie auch in den wirtschaftsnahen Fördergremien eine neue Lobby. Und es bedarf einer öffentlichen Debatte darüber, welchen Leitlinien dieser Wandel folgen soll, das heißt, welche Institutionen, Cluster und Gremien dafür hilfreich sind.