«Vom Welttheater zum Worldbuilding»
Beckmanns Weltsicht heute
(Auszug)
Wenig ist der jüngeren Gegenwartskunst so abhandengekommen wie die Idee und der Begriff des «Welttheaters». Wobei das Wort hier in einer sehr breiten Bedeutung verwendet wird für die verschiedensten Theaterformen, die unsere Erdendasein selbst als eine Art Schauspiel begreifen, das einem verborgenen Plan – dem Schicksal oder der göttlichen Vorsehung – folgend, jedem Menschen seine irdische Rolle zuteilt. Nicht, dass die Theatermetapher, das Thematisieren von Begriffen wie Schauspieler, Bühne, Aufführung unmodern geworden wäre. Aber die Idee des Welttheaters als eines teatrum mundi, als ein in sich geschlossenes und schlüssiges Modell und Abbild der großen Welt im Kleinen, scheint unter den jüngeren Künstlern und Künstlerinnen nicht mehr in Mode zu sein. Was nicht heißt, dass die Theaterkunst als solche im Verschwinden wäre. Nur hat das Spektakel des Welttheaters, da, wo man es noch erleben kann, denken wir an Orte wie die Salzburger Festspiele oder das schweizerische Einsiedeln, fast völlig die Züge eines modernen Unterhaltungstheaters angenommen, das weniger geglaubt oder bestritten wird, als zelebriert und vermarktet. Obwohl dieses Theaterformat im frühen zwanzigsten Jahrhundert noch einmal eine große Blüte erfuhr, ist es knapp hundert Jahre später sehr still um diese besondere Form von Literatur und Theater geworden.
Um die These meines Vortrags gleich vorab zu sagen: An die Stelle des vorchristlichen und christlichen Welttheaters ist im experimentellen Theater und in den eher marktgetriebenen Formen der Unterhaltungsindustrie das spätmoderne «Worldbuilding» getreten. Damit meine ich Werkformen, die uns ihre Theaterhaftigkeit vergessen lassen wollen und deren Wirkung auf Absorbtion und Inklusion beruhen. Sie zeigen kein Theater oder Weltmodell mehr, das wir uns von außen anschauen können und sollen, sondern das wir von innen erkunden, weil es so aufgebaut ist, dass es uns komplett umgibt und sich selbst als Medium tendenziell zum Verschwinden bringt – so wie man das Buch in der Hand vergisst, wenn der Roman spannend ist.
Zum traditionellen Welttheater gehört die Vorstellung, in klaren Mustern zu denken, die zunächst auf Dualismen beruhen: Himmel und Hölle, Gott und Teufel, diesseits und jenseits, Schuld und Sühne und natürlich Ursache und Wirkung. Es ist ein Denken in Strukturen der Dialektik, der Gegenüberstellung und Versöhnung von Widersprüchen. Zum Schema des Welttheaters gehört die Perspektive der Übersicht – sowohl im Stück, das ein unter der Aufsicht Gottes stattfindendes Experiment ist, wie auch im Hinblick auf die Zuschauer*innen, um deren Einsicht es bei der Aufführung dieses Spektakels am Ende geht. So entsteht eine Rahmung des Geschehens als «Theater», das gemeinschaftlich erlebt und bewegend ist und dabei eine sich jederzeit zu Erkennen gebende Aufführung.
Wenn man sich diese Koordinaten der Übersicht, der Gegenüberstellung, der zentralen und erkennbaren Autorenschaft wegdenkt, gelangt man schon ein ganzes Stück in jenes Feld, das sich als zeitgenössisches «Worldbuilding» beschreiben ließe. Bei ihm gehen wir, metaphorisch aber auch praktisch, durch den Rahmen des Portals selbst auf die Bühne. In den Spektakeln des modernen Worldbuilding ist das Theater keine gerahmte Bildfläche mehr, sondern ein Raum, den wir betreten – die «vierte Wand» schließt sich hinter uns und wir sind «drin». «Go IN instead of LOOK AT» hat Alan Kaprow diesen Vorgang genannt[1]. Während traditionelles Theater uns die literarischen Welten nahebringt, indem es sie zunächst einmal entrückt – sie heraushebt aus dem Alltag und auf eine Bühne stellt, geht das moderne Worldbuilding den umgekehrten Weg: Es bringt das Theater zum Verschwinden, um so «alles» zum Theater werden zu lassen. Während das traditionelle Theater deutlich markiert, was die Bühne ist und wer die Schauspieler*innen sind, duldet das moderne Worldbuilding genau diese Form von Abstand und distanzierter Anteilnahme nicht mehr. Während wir im traditionellen Theater dem Geschehen zuschauend gegenüber sitzen und zugleich als Abwesende behandelt werden, bewirkt das moderne Worldbuilding eine die aktive Einbeziehung der Anwesenden – nicht im Sinne von Mitspieltheater, sondern einer Präsenz, die zum Teil der Szene geworden ist, eine Form von aktiver Passivität, da ich mich aktiv durch den Raum und das inszenierte Geschehen bewege, aber letztlich nicht als tatsächlich veränderndes Element der Handlung vorgesehen bin.
In seiner Londoner Rede «Über meine Malerei» aus dem Jahr 1938 spricht Beckmann über einen Wachtraum und die Plätze, die darin seine Säulenheilige Henri Rousseau und William Blake einnehmen. Letzterer spricht zu ihm: «Habe Vertrauen zu den Dingen, sagte er, lasse dich nicht schrecken von all dem Entsetzlichen der Welt. Alles ist eingeordnet und richtig und muss seinen Weg gehen, um Vollkommenheit zu erreichen – eine größere, nie ganz zu erreichende Vollkommenheit. Suche diesen Weg – und du wirst die grenzenlose Schönheit der Schöpfung aus dem eigenen «ich» immer tiefer verstehen, immer mehr lieben und immer losgelöster werden von all dem, was dir jetzt noch jämmerlich traurig oder schrecklich ist.»[2]Deutlich spricht aus diesen Zeilen Beckmanns seine Welttheaterperspektive: Der Wille, aufs Dasein wie auf ein Schauspiel zu schauen, das Entsetzliches zeigt, aber eben als etwas zum Plan des Schöpfers hinzu Gehörendes. «Alles ist eingeordnet und richtig» – Gott würfelt nicht. Für Blake und Beckmann gehört zum Leben jener Weg, der durch das Leiden zur Vollkommenheit führt, zur Erkenntnis der «grenzenlosen Schönheit der Schöpfung.»
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[1]«Environments – intensified interiour or exteriour, kind of intensified interiour decoration Abstract Expessionism dead – need ways of expression growing: Go IN instead of LOOK AT.” Die Äußerung von Allan Kaprow ist ein Gedanke zum Environment, den er in einem Gespräch mit der Kirchenleitung der Judson Memorial Church in New York im Herbst 1959 äußerte. Dabei ging es um den Aufbau einer Galerie dort, die 1960 in der Kirche eröffnet wurdee. Quelle: From margin to Center. The Spaces of Installation Art. Julie Reiss / https://issuu.com/nirbhe/docs/jreiss_from_center_to_marginsiehe Rona Roob, From the Archives: Ephemeral Art, MOMA 9, 1991
[2]Max Beckmann, Die Realität der Träume in den Bildern, Hrsg. Rudolf Pillep, Reclam Leipzig, 1987, S. 141f