«Die Stadt in der Stadt»
Ein Salzburgportrait
von Thomas Oberender
Für den Urlaub, den man als Ortsansässiger in dieser Stadt gerne verleben möchte, auch weil ihn die Besucher aus aller Welt ständig vorleben, und den man im Grunde ständig machen könnte, indem man einfach zur Burg hinaufläuft, oder hinaus zu den Seen, wie eben all die anderen Menschen, habe ich im Alltag kaum Zeit. Wahrscheinlich ist das nur eine Ausrede, aber es ist so. Dennoch bleibt die Freude, in nächster Nähe zu den Seen, in Sichtweite der Berge und dem pittoresken Panorama der Altstadt zu leben, frisch und erneuert sich beinahe täglich, wenn ich beobachte, wie sie sich im Laufe der Jahreszeiten und mit jedem Witterungswechsel verändern, so wie die Farbe des Flusses oder der metallenen Dächer je nach Licht und Jahreszeit. Ich genieße den täglichen Weg durch den Mirabellgarten, seine regelmäßig ausgetauschten Bepflanzungen, die Üppigkeit der blühenden Ornamente seiner Rabatten, die Kühle der Laubengänge und Pracht des Rosengartens. In der Orangerie feiern die Obdachlosen den Tag am Becken der Wasserschildkröten, dazu zwitschern die Kanarienvögel und Papageien, hier, im Glashaus, hat jeder immer Zeit.
Orte wie diese schaffen in Salzburg die Inszenierungen eines besonders prächtig empfundenen Augenblicks, der ständig zwar vergeht, aber durch diverse Anstrengungen jung gehalten wird. Rund um die berühmte Salzburg-Kulisse aus Mittelalter, Barock und Gründerzeit, die das historische Zentrum prägen, liegen multifunktionelle Stadtviertel, die genauso auch im Ruhrgebiet aussehen - Agglomerationen aus Nutzbauten, Wohnkasernen und Freiflächen, die merkwürdiger Weise eine Art städtisches Ausland bilden, obgleich die meisten Einwohner Salzburgs hier leben, eher still und unauffällig, inmitten einer wuchernde, im eigentlichen Sinne urbanen und multikulturellen Grauzone rund um die Inszenierung der alten Stadt der Fürstbischöfe und Künstler.
Im Grund reist die alte und neue Welt jeden Sommer nach Salzburg nicht anders als in das sterbende Venedig – auch hier lockt die Widerbegegnung mit der alten Kultur, ein Gesamtkunstwerk aus ewigem Barock, Bergen, Seen, Mozart-Lieblichkeit und gutem Essen. Wie bei einer Reise in Thomas Manns Lagunenstadt, sind die Besucher auch in Salzburg auf den Spuren einer morbiden Schönheit, von der man jedes Jahr glaubt, man erlebe sie vielleicht zum letzten Mal. In ihrem goldenen Zeitalter eingefrorene Orte wie Salzburg, Weimar oder Venedig sterben sehr erfolgreich. Zu der Ruhe der Dinge und Werte, die sich in ihr erhält, kommt die äußerst rege Geschäftstüchtigkeit der Bürger, die sich mit Kulturtüchtigkeit paart. In dieser Residenzstadt, die immer auch zum Himmel strebte, die größte Basilika jenseits der Alpen baute, die erste Oper jenseits der Alpen aufführte und in ihren Bauten und Plänen stets aufs Große zielte so klein das Städtchen ist, entstanden im Zentrum dieser überschaubaren Gemeinde Plätze wie für eine Weltstadt. Die Welt aber, wie sie nach Salzburg kommt, erträgt man hier in der Masse für Geld, und im Besonderen, in Gestalt der Künstler und Prominenz, in alter Manier als den Besuch der Kaiser von heute.
Die Gassen und Straßen der Altstadt empfinde ich oft wie Kanäle, in denen der Besucherstrom möglichst reibungslos abgeleitet wird, hier und da über die Schwellen der Geschäfte und Lokale dringt, aber im Grunde draußen bleibt. Die Häuser sind, zumindest im historischen Kern, um Innenhöfe gebaut, in die kein Fremder eindringt. So wirkt die Stadt überschaubar, wenngleich sie nicht wirklich durchschaubar ist. Auf die Dauer weckt sie ein Bedürfnis nach Anonymität, nach der Gleichgültigkeit der Großstadt, in der man sich keinem Zirkel oder Kreis anschließen muss und nichts darstellt, als das, was man ohne Titel und Amt tatsächlich zu sein glaubt. Dabei gibt es auch inmitten von Salzburg so etwas wie einen zweiten, für Besucher eher unsichtbaren Ort, eine verborgene Stadt in der Stadt und ihn bewohne ich im Grunde wirklich.
Zum einen ist es jene Geisterstadt, die von denen bewohnt wird, die vor uns hier waren, aber nicht wirklich verschwunden sind. Karajan oder Gerard Mortier zum Beispiel, um von Mozart und Paris Lodron zu schweigen. Zu diesen Geistern zählen auch jene Salzburger, die nach den Bombenangriffen die Trümmer beseitigt und die Toten begraben haben. Sie errichteten die Kuppel des Doms ein zweites Mal. Peter Handke geht für mich noch immer über den Mönchsberg, Thomas Bernhard steht nach wie vor todessüchtig auf den Klostermauern des Kapuzinerbergs, Stefan Zweig spielt im Café Mozart Schach und der rauschgiftsüchtige Apothekerlehrling Georg Trakl irrt durch die Gassen um den Mozartplatz. So wie Max Reinhardts Geist in Leopoldskron und seinen Festspielen fortlebt und Oskar Kokoschka auf der Hohensalzburg in der Schule des Sehens unterrichtet. Sie alle betrachten ja unser Treiben mit, wenn wir hier z.B. Stücke aufführen oder Ausstellungen besuchen – sie haben in dieser Stadt etwas zur Welt gebracht das bleibt, und als Echo der noch lebendigen Erinnerungen Ansprüche stellt.
Und auch die Niedertracht ist nicht vergangen, die Vertreibung der Protestanten, der Juden, das Lager für die Roma und Sinti, die Gefangenen beim Bau der Staatsbrücke, auch sie sind noch da. Man muss sich in dieser Stadt verhalten wie bei einer Seance, denn am Tisch sitzen immer mehr Menschen, als sich gerade an den Händen halten.
Nahe bei den Bauten von Johann Bernhard Fischer von Erlach oder Santino Solari findet man das Künstlerhaus, ein Literaturhaus, und Programmkino, oder die «Szene Salzburg» und den inzwischen legalen Piratensender der Radiofabrik. Oder Künstler wie Hubert von Goisern, Karl Markus Gauss, Vladimir Vertlib, Max Bläulich oder Georg Kreisler – sie leben in dieser Stadt, und erweitern das Bewusstsein ihrer Bürger in ganz andere Regionen der Welt, verbinden es mit Osteuropa und Italien, oder natürlich auch mit einem Salzburg der Außenbezirke und alpenländischen Region, die kein Besucher mit Mozart oder dem Sound of Music verbindet. Man kann nicht unter dem Felsen des Mönchsberges stehen, ohne an Thomas Bernhard und die vielen, von keiner Zeitung erwähnten Selbstmörder zu denken. Man kann nicht über dem Toscanini-Hof stehen, ohne das schöne Gedicht von Trakl zu lesen oder an der Salzach entlang gehen, ohne an das Erstaunen jener Journalistin zu denken, neben der Peter Handke plötzlich die Kleider ablegte und im Fluss baden ging. Und man kann nicht auf dem Kapuzinerberg an Stefan Zweigs ehemaligem Haus vorübergehen, ohne an die Verbrennung seiner Bücher in der Stadt zu denken, an Hitler in Sichtweite auf dem Obersalzberg, und den Selbstmord des exilierten Dichters im fernen Petrópolis.
Salzburg ist ein Bollwerk. Ist eine Bühne, ein Dorf und Freilichtmuseum. Salzburg ist himmlisch und ein Klüngel. Die Stadt ist obszön ob so viel Reichtum und derart großer Angst. Wovor eigentlich? Den Fremden? Den Sandlern mit Bettelverbot? Die Stadt: ist die Audiflotte, Hermes und Montblanc, ist eine Marke und Musik. Ist der Fluss und seine wechselnden Farben, die kroatische Großgemeinde in der Kirche St. Andrä, samt der italienischen Wohnmobilkolonie in der Weihnachtszeit davor. Die Stadt sind die Straßenkünstler und der rote Festspielteppich auf braunem Asphalt. Ist ein hohler Berg, der Fluss unterm Festspielhaus und die Pferdescheiße auf dem Pflaster. Die Stadt ist das «Herz Europas» und der Pilgerort von achtzigtausend Japanern im Jahr. Sind Mozartkugeln, Rehrücken, Schatz und Demel, und das Priesterseminar. Die Stadt, das sind die Polizeipatrouillen am Schwulentreff im Garten von Schloss Mirabell und die weiß gekleideten Gäste der Welt-Milch-Nacht im Park nebenan. Die Stadt sind die betrunkenen Jugendlichen am Rudolf-Kai und die pittoresken Türmchen der Kapuzinerbergmauer, besetzt von Sandlern.
Salzburg sind Maibaumerkletterer und Benediktiner und Stadtführer mit Mikro und Schirm. Thaddaeus Ropac ist die Stadt und ist sie nicht. Die Stadt ist der Flohmarkt in der Merkurhalle und das Waldbad in Anif. Die Stadt sind die Rotaryclubs, Reichelts und Kölbels und Fürsts. Die Stadt ist Red Bull und seine Arena und die Tänzer im SEAD, sind Laien und Profis, Tangokurse und das Bergfilmfestival. Die Stadt ist das alte Panorama in der Neuen Residenz und der Bildschirm darüber. Ist die Schranne, das Mozartheum und verborgene Heckentheater.
Die Stadt ist etwas, das vor allem Amerikaner lieben. Und Japaner. Und seit kurzem auch Russen. Sind ein versteckter See an der Salzach, der Würstelstand an der Brücke und ein lebender Baum überm Dach eines Fischrestaurants. Die Stadt ist eine ewige Baustelle und der Alptraum der Alpenstrasse. Die Stadt ist der Regen. Der Regenstau und Blick auf die Paraglider am Geisberg. Die Stadt sind die Altstadtgesetze, McDonalds-Schilder im Barockstil und die verschlossenen Passagen ab abends halb neun.
Die Stadt ist Mozarts nachgebaute Laube und sein weg gebombtes Wohnhaus, das jetzt wieder steht. Die Stadt ist Hitlers Balkon vor dem Landestheater und das Schloss Leopoldskron, verkauft von der Witwe Max Reinhardts. Die Stadt ist die Irre im Wollrock, die täglich heimlich die Tauben füttert, und die japanische Verkäuferin des Obdachlosenblattes. Die Stadt ist Karajans Porsche und das Salz aus Hallein. Ist der Selbstmord des Dichters Dirk Ofer und seine Meldung in einer Zeitung aus Wien. Die Stadt sind Münchner Mieten, Rentnerresidenzen und der Familienpass. Sind im Sommer die Taxifahrer aus Deutschland und die vermieteten Wohnungen der festspielflüchtigen Bürger.
Vielleicht ist das Geheimnis der Prosperität dieser Stadt ihr humanes Maß im Hinblick auf die Bevölkerungszahl, ihre Proportionen und das milde Klima. Begünstigt von der Natur und besucht von den Reichen spielt sie zudem «Theater» wie man es tun muss, um sich nicht ganz hinzugeben, nicht ganz zu verkaufen und es ist, als ob die Bewohner die Stadt für sich selber aufführen auf ihren Märkten, Festen, Festivals, ganz so, als sei der Sache sonst nicht zu trauen, ausser, man spielt sie. Diese Unwirklichkeit, die über allem liegt, vor allem der Sterblichkeit, die sich hier im gelungenen Augenblick immer wieder zu vergessen sucht, macht, dass die Realität der Stadt für viele so anziehend wirkt und herausfordernd. Ihre «perfide Fassade», von der Thomas Bernhard in «Die Ursache» sprach, führt nicht nur zu Selbstmordgedanken, ihre Schönheit ist nicht nur erdrückend, sie hat, durch das Stück, dass sie der Welt aufführt, eine andere Stadt herausgebildet, in der alle das Stück kennen.