«Wenn die Nacht zum Tage wird»
Ein Theater des Tages und eines der Nacht.
von Thomas Oberender
Die Fenster des Probenraums wurden mit Holzplatten licht- und schalldicht verschlossen und die Oberlichter mit schwarzer Folie beklebt. Kein Ton, kein Sonnenstrahl dringt von draußen herein. Was immer auf den Bühnen unserer Stadttheater zu sehen und hören ist, wird in diesen Häusern der künstlich erhaltenen Nacht zur Erscheinung gebracht. Wie vieles muss ausgeschlossen werden, um ein wenig zu zeigen – die Gesichter der Schauspieler sind überformt von der Maske, die Körper von Kostümen, die Alltagssprache von Sprachformen der Literatur und tragenden Bauchstimme der Darsteller. Diese Theater wurden von Menschen gebaut, die der Überzeugung waren, dass in diesen Räumen der künstlich erhaltenen Nacht das Wort »Gegenwart« eine andere Bedeutung besitzt – dass hier etwas zu finden sein sollte, das so und sonst unter uns nicht anwesend ist: Eine Sprache, ein Wissen und Empfinden, das aus anderen Zeiten und Welten der unseren hinzutritt, ohne in ihr aufzugehen.
Im Theater des Tages hingegen wird ans Licht geholt, was das Theater der Nacht zum Verschwinden bringen muss. Im Theater des Tages spielen die Schauspieler scheinbar oder tatsächlich in ihrer Alltagskleidung. Sie sprechen sich mit ihren Taufnamen an, wirken ungeschminkt und spielen mit der Realität von Spielorten, die keine Theater waren – in Zechen oder Industriehallen oder im eigenen Wohnzimmer. Auch der Mann der Straße, der Politiker, der Experte wird dort auftreten. Dieses Nonfiction-Theater wird nicht dokumentarisch sein, sondern so fiktional wie nie zuvor. Und eben dafür wird dieses Theater mit allem spielen, das normalerweise keine Rolle spielt – mit Laien und der schönen Hässlichkeit des Banalen, der Sprache der Straße, der Dokumente, Medien und privaten Bekenntnisse. Auch das Theater des Tages lügt, um die Wahrheit zu sagen. Es sammelt ein und auf, als Rohstoffe, was im Theater der Nacht im Text geläutert wurde. Denn das Theater des Tages sucht die Suggestion der Unmittelbarkeit, der außerkünstlerischen Realität einer Biografie und Geschichte jenseits des Theaters, einer Gebärde, die nie für die Bühne trainiert wurde und eben daher auf ihr so künstlich und interessant wirkt.
Im Theater der Nacht leben die Vampire – lichtscheu. Fern des Tageslichts saugen sie das alte Blut der Texte und lauern lüstern auf frisches. Was privat und persönlich ist an ihnen, verbergen sie aristokratisch, und natürlich wissen sie, dass, wer einmal von ihnen gebissen wurde, ihrer Welt auf immer angehört. Was dieses Theater der Nacht zeigt, kann nicht weit genug entfernt von uns sein, um uns nahe zu kommen. Worte, die vor 2000 Jahren geschrieben wurden, oder in einem anderen Land gerade unlängst, leben im Theater der Nacht im Versprechen und Fluch der Unsterblichkeit, der endlosen Wiederholung und Wiedergängerei, bis ein jähes, plötzliches Jetzt die Wesen der Nacht erlöst. Dafür wird es sich in die Nacht dieser Texte versenken, die Augen an den Dämmer der anderen Welt langsam gewöhnen, um in ihm Schemen zu entdecken, die uns an Menschen erinnern – die da, oben, auf der Bühne, im Rampenlicht, sind keine von uns. Vor ihrem eigenen Spiegelbild stehend, sehen sie im Spiegel nichts. Sie brauchen zwischen sich und ihrem Bild das Papier ihrer Rolle, damit sie sich sehen. Und daran erkennen wir sie, die Händler der Unsterblichkeit.
Wann immer ich in diesen Theatern der Nacht sitze, denke ich an die Bürger, die sie einst erbaut haben. Speziell in Deutschland waren diese Theater Orte, an denen, in Helmuth Plessners Sinne, eine Identität der Kultur berufen wurde, anstelle eines Staates oder einer nationalen Wirklichkeit. Sie waren Identifikationsorte, an denen sich eine Kultur etablierte und nobilitierte, die grundverschieden von der politischen Realität sein konnte, ja – sie sogar ersetzte und zugleich auf die mentale Höhe ihrer eigenen Aktualität gelangen ließ. Dafür entrückten die Erbauer dieser Häuser sich ihrer Gegenwart, schufen sie sich diese Höhlen, ließen sie Gestalten wiederkehren, an denen sich ihre Eltern bildeten und sie ein anderes Verständnis von Macht etablierten. Ist ein solcher Geist wieder erweckbar? Oder verhält es sich mit diesen Häusern der Nacht wie mit den Kirchen in Ostdeutschland? Sind diese Theater unsere letzte Mahnung an jene Bürger, die unsere Großeltern einst waren? Oder werden diese Häuser irgendwann ganz vom Theater des Tages übernommen, von der Mentalität des Kinos, das nicht wiederholt, sondern originär produziert. Das Überleben unserer Theater in ihrer luxuriösen, tradierten Form wird unabänderlich an dieses Auseinanderdriften von Tag und Nacht, von Vergegenwärtigung und Gegenwart gebunden sein. Das deutsche Theatersystem, von dessen Krise ich nicht sprechen möchte, ist nur ein Symptom dieser Drift, die auch sein Publikum erfasst. Es wird sich mit seinem Verhältnis zum Licht beschäftigen müssen, wenn es in seiner jetzigen Form überleben will. Und es wird untergehen, wenn es seine Nacht zum Tage macht.