«Die Oberlinder Luft»
Zum 90. Geburtstag von Tankred Dorst
von Thomas Oberender
«Über das Portal meines Theaters», sagte Tankred Dorst vor gut zehn Jahren, «würde ich schreiben: Wir sind nicht die Ärzte, wir sind der Schmerz.» Was ist es, das einen Menschen zum Schreiben bringt? Und wichtiger noch, dafür sorgt, dass er damit nicht aufhört? Über vierzig, fünfzig, sechzig Jahre seines Lebens?
Am 19. Dezember wird Thüringens berühmtester Dichter neunzig Jahre alt – seit Wochen laufen Feierveranstaltungen zu seinen Ehren unter anderem bei den Berliner Festspielen, bei der Bayerischen Akademie der schönen Künste und im Suhrkamp Verlag in Berlin. Die namhaftesten Regisseure des deutschen Gegenwartstheaters, genauso wie Filmemacher und Intendantenaus inzwischen drei Generationen ehrten den Dichter in Lesungen, Ausstellungen und Diskussionen. Tankred Dorst und seine Frau und Mitautorin Ursula Ehler, deren Stück «Merlin» auf mehreren Erdteilen ein moderner Klassiker wurde, sind inzwischen ein legendäres Künstlerpaar, das inzwischen fragil und zart wirkt in ihren späten Jahren, aber noch immer voller Neugier und Konzentration auf ihre nächsten Projekte ist. Die nächste Uraufführung des Jubilars steht wenige Wochen nach seinem 90sten Geburtstag am Düsseldorfer Schauspielhaus an und um so mehr ist es angebracht, auf diese große, beeindruckende Karriere dieses Dramatikers, Filmemachers und Regisseurs zurück zu blicken.
Mit zehn Jahren schrieb Tankred Dorst, Sohn einer vergleichsweise wohlhabenden Bürgerfamilie aus Oberlind in Thüringen, sein erstes Stück, mit vierzehn wollte er Dramaturg am Stadttheater Coburg werden. Bei Kriegsbeginn war er dreizehn, die Führerrede wurde in den Physiksaal übertragen. Er las die Weltliteratur im Hinterzimmer einer Papierwarenhandlung und schrieb verehrungsvolle Briefe an die Dichterin Lulu von Strauß und Torney. Mit sechzehn nahm er an einem Marinelehrgang der Hitlerjugend teil und prompt nach Hause geschickt, weil er auf der Nachtwache beim Lesen erwischt wurde. Mit siebzehn Jahren wurde er an die Westfront einberufen und geriet nach vier Wochen in eine Gefangenschaft, die er für mehrere Jahre in amerikanischen Lagern verbrachte. «Ich erinnere mich, wie ich in Amerika ankam. Es hieß: wir dürfen New York sehen, und so schob sich langsam eine Schlange aus den unteren Decks, wo wir viele Tage und Nächte verbracht hatten, über schmale Gänge und eiserne Treppen hinauf und plötzlich war oben die Nacht über mir und die Stadt ringsum erleuchtet, im Friedensglanz, und das Schiff glitt lautlos langsam mitten hinein.» (Der Autor stellt sich vor, S. 51) Die Lagerjahre waren für Tankred Dorst Lesejahre, Jahre der Arbeit und des Zusammenlebens mit einer bunt gemischten Gesellschaft deutscher Mithäftlinge – es war die «eigentliche Lehrzeit» des Autors Dorst. Und sein Werk gleicht einer Reise, die von der leuchtenden Küste Amerikas, das ihm Gefängnis und Befreiung zugleich war, zurück in ein Land führte, das vom Krieg am Boden und im Herz zerstört war. Den Friedensglanz New Yorks hat Tankred Dorst nie vergessen.
1947 kommt der Einundzwanzigjährige zurück nach Deutschland, «ohne Abitur, ohne Geld oder Beziehungen». Er hat sich eine Zeitlang herumgetrieben, wusste nicht, was er anfangen soll und hatte das Gefühl, «dass ich das ganze weitere Leben, das doch, wenn ich es von heute her sehe, erst angefangen hatte, in Kellern verbringen würde. Es war ja alles kaputt.» In der Gegend von Dortmund war er von einem übervollen Zug gesprungen, suchte das Haus seiner Tante, zwei Zimmer bewohnte sie noch, alle anderen Zimmer und Flure waren mit Flüchtlingen belegt. Er bezog «ein notdürftig eingerichtetes Kämmerchen unterm Dach. Da, wo früher Koffer und kaputte Möbel gelagert waren, da oben verbrachte ich eine konturlose Zeit, hörte das Pausengeschrei der Schulkinder von gegenüber, hörte die mächtige katholische Glocke läuten und das Klappern der Milchkannen von der Molkerei nebenan. Da begann ich mein geschenktes Leben, fühlte mich fremd, konnte mit mir nichts anfangen, trieb mich herum, ging in die Ostzone nach Thüringen und wieder zurück, ohne eine Vorstellung von Zukunft. In den Trümmern von Wuppertal suchte ich bei einem Freund Obdach, den ich aus der amerikanischen Gefangenschaft kannte: Wir waren beide gierige Leser, süchtig danach, etwas über die Welt zu erfahren, die uns nicht liebte.» (Noch einmal Öderland, S. 72) Dem Schmuggel und Schwarzmarkt folgt das nachgeholte Abitur in Münster, ein Studium der Germanistik und Philosophie in Bamberg. In Wuppertal versuchte der mittellose junge Mann über die Runden zu kommen, indem er eine veraltete Seifenfabrik aus dem Familienbesitz übernahm, um sie kurz darauf zu schließen. Er besucht bis Mitte der fünfziger Jahre die Universität in München, «fertig studiert habe ich nicht. Ich blieb in meinem kahlen Zimmer, deckte mich mit dem Teppich zu und hatte keine Vorstellung davon, wie ich mein Leben weiterbringen sollte.» (Der Autor stellt sich vor, S. 52)
In seiner Büchner-Preis-Dankesrede zitiert er Georg Büchner mit dem Satz: «‹Manche Menschen sind unglücklich, unheilbar, bloß weil sie sind.› Büchner kennt ihre Melancholie, sie hat ihn selbst mitten im revolutionären Aufbruch befallen.» (Phantasie über ein verloren gegangenes Theaterstück von Georg Büchner, S. 67). Inmitten des Wirtschaftswunders lag Tankred Dorst wie ein Oblomow auf seiner Bettstatt und hier empfing, wie Jon Fosse das einmal nannte, das Geschenk der Traurigkeit, das auch eines der Fremdheit ist, etwas, das ihn zum wirklichen Autor werden ließ: Draußen hörte er die mächtige, katholische Glocke, das Klappern der Milchkannen von der Molkerei, und plötzlich war mitten darin – er. Ohne eine Vorstellung von der Zukunft wurde ihm seine Gegenwart in dieser Lage zur Offenbarung. Hier, unter dem dicken Teppich, zwischen den Koffern, empfing er den Blick, der sein Sehen mit seinem Dasein kurzschloss. Von da an war er in der Welt. In seiner Kammer. Nicht mehr Strandgut auf den Wellen der Weltgeschichte, sondern zum Sehen befähigt. Weil er im Bett blieb. Reglos, arm und unversehens doch einer reicher Mensch. Irgendeine besondere Dickköpfigkeit, Trägheit oder Trostlosigkeit hat ihn dazu befähigt, die Welt zu ihm kommen zu lassen. Das klingt ein wenig nach Erlösung, nach dem Anbrechen guter Tage, obwohl doch das bisher Gesagte eher das Gegenteil zeigt: Die Geschichte eines jungen Mannes, der seine Heimat verlor, sein Kapital, seine Verbindungen, einsam war bis zum Verstummen. Und der bemerkte, wie sein Mitstudent, der im Krieg ein Bein verloren hatte, sich irgendwann genierte, in die Uni zu gehen, weil die Einbeinigen aus den Hörsälen verschwunden waren. Er war wie dieser Student hungrig darauf, etwas über die Welt zu erfahren, die ihm gezeigt hatte, dass sie ihn nicht liebt. Aber eben das wurde sein «geschenktes Leben», das Geschenk der Traurigkeit und Fremdheit, das ihn zu sich kommen ließ. Und zum Schreiben. Dreißig, vierzig, fünfzig Jahre lang. Und dieses Schreiben blieb sein Weg, sich vom Albtraum der Geschichte, der Erfahrung der Niedertracht und des Bösen, in eine andere Existenz hinüber zu retten und von ihr Zeugnis zu geben. Ohne die Suche nach dem Gral, dem Licht der Friedensstadt, wäre ihm das nicht gelungen.
Das unerklärt Böse wird zum Leitmotiv im Werk von Tankred Dorst. Dass es sich nicht gänzlich ins Gesellschaftliche oder Psychologische auflösen lässt, teilt dieses Phänomen mit jener positiven anderen Kraft, die Menschen aufbrechen lässt in die großen Abenteuer der Menschheitsgeschichte, die zur Entdeckung neuer Kontinente führen oder zu Revolutionen. Auch woher diese Kraft stammt, bleibt im Tiefsten unerklärt wie das Böse. Ihr reinster Ausdruck sind die Werke der Kunst. Und so zieht auch die Begegnung mit großen, enigmatischen Künstlern, Bildern und Kompositionen eine stete Spur durch das Werk des Dichters. Als Kehrseite des Bösen, bisweilen mit ihm innig vermischt.
Tankred Dorst, den «die entsetzliche Komik Molières», von dem er zahlreiche Stücke übersetzt und bearbeitet hat, fasziniert, nennt sich einen «moralischen Autor». Als der WDR dem Autor 1977 droht, ihm die Realisierung seines Films Klaras Mutter zu entziehen, beharrt er darauf, dass nur er in der Lage ist, jenseits dramaturgischer Regeln, «die Geschichte einer kleinen Stadt im Thüringer Wald» zu erzählen – «von bösen Leuten, die anderen Böses tun und denen man Böses antut, die Geschichte von falschen Erkenntnissen. Klaras Mutter war […] eine Erinnerung an dunkle Dörfer, an das arme böse Leben in diesen schmucklosen Häusern.» (Brief ans Fernsehen, S. 104) Dieses Empfinden für das arme, böse Leben in jenen schmucklosen Häusern, für die Redensarten und verborgenen Triebe ihrer Bewohner, verteidigt er in einem Brief als die entscheidende Dimension seiner Erzählform – gegen die redaktionellen Aufforderung, die Produzenten mit erprobter Handwerkskunst zu überzeugen. Es ist dieser siebente Sinn für die verborgenen Wesenszüge der Menschen aus seiner Region, die Ausdünstungen des Bodens, der dortigen Lebensart und Verhältnisse, die Tankred Dorst ein spezielles Aroma der Welt entdecken ließ, das als Oberlinder Luft durch all seine Stücke zieht. Diese regionale Mitgift taucht in seinen Figuren immer wieder, weil sie in diesem sturen, sensiblen und eigensinnigen Autor selbst lebt. Nur von dort kommend, so scheint mir, konnte er dieses Aroma überall in der Welt aufnehmen, und sich derart für die weltfremden Welterkenner erwärmen, diese alles auf den Kopf stellenden Mitmachverweigerer, die lieber zugrunde gehen an ihrem eigenen Jammer und Größenwahn, im Glanz ihrer querschädeligen Revolte ohne Partei und Pardon.
Er lernte als Dichter vom Theater- und Lebenssinn des Regisseurs Peter Zadeks, wuchs als Autor in der Begegnung mit Künstlern wie Robert Wilson und Wilfried Minks. Während der Arbeit am Fernsehfilm Sand lernte er 1971 Ursula Ehler kennen, mit der er bis heute gemeinsam schreibt und lebt. Sie haben gemeinsam ein Kind aufgezogen und viele Texte geboren. Sie ist nicht die Muse seiner Werke, sondern ihre Co-Autorin, und auch sie ist Fränkin, kennt den Zungenschlag und die verborgenen Herzenswinkel ihrer Leute, und natürlich ihres Mannes. Er ist ein Autor ohne Skandal. Ein Dichter, der den Deutschen nach dem Krieg half, zu ihrem eigenen, zeitgenössischen Theater zu finden, und ihnen poetische Beispiele für ein Nachdenken über das Böse stiftete, die beispiellos in der deutschen Literatur bleiben. Genauso wie seine beharrliche Suche nach dem mythischen Gral, der das «Ich» mit der Welt versöhnt.
Es gibt wenige Dichter, deren Werkgeschichte noch zum 90sten Geburtstag unabgeschlossen und im Werden befindlich ist. Und es gibt wenige Dichter, die nach einem derart langen Weg noch immer neue Freunde sammeln und alte hinter sich wissen – Dorst ist ein eigenwilliger, noch längst nicht zu Ende verstandener Humanist, ein Ehrenbürger Sonnebergs und großer Künstler unserer Zeit, der niemand hinterher lief und dem wir deshalb gerne folgen. Alles Gute!