«Den Tanz der Welt zur Ruhe bringen»
Absorption und Theatralität im Werk von Thomas Demand
Die Verbindung von Thomas Demands Fotografien und der Welt des Theaters erscheint auf den ersten Blick wenig naheliegend. Einem simplen Verständnis von Theater zufolge spielen Menschen auf der Bühne nach, was andere Menschen tun. Zu verschiedenen Zeiten haben Menschen auf der Bühne auch Götter repräsentiert oder Tiere, in manchen Kulturen Geister von Flüssen, Ahnen oder Pflanzen, auch Roboter erschienen als humanoide Wesen zuerst auf der Bühne, aber dass Menschen im Theater in der Regel fast immer Menschen zeigen und nur das, was Menschen betrifft, ist seit gut 200 Jahren in Europa eine feste Gewohnheit.
Doch das Einzige, was Thomas Demands Bilder nicht zeigen, sind Menschen. Stattdessen sind auf ihnen Innenräume zu entdecken, Stadträume, gelegentlich sind es Naturräume, eine Grotte oder ein Wald. Die Schauplätze liegen offen vor dem Betrachter und man sieht, wie Menschen die Ordnung der Dinge in diesen Räumen in Unordnung gebracht haben, Papierstapel auf dem Boden verstreut oder eine Wanne mit Wasser gefüllt haben, aber von den Menschen selbst findet sich in den Bildern keine Spur – kein Schmutz, kein Lippenstift auf einem Glas, keine Schrift auf den Zetteln oder Büchern, kein Logo auf der blauen Cremedose. Es ist, als würden auf diesen Fotografien die Dinge ihr Leben unter sich führen. Die Klingelschilder tragen keine Namen, Demand zeigt eine Welt ohne uns.
Ein berühmtes Bild von Thomas Demand zeigt eine Badewanne in einer gefliesten Badnische. Es entstand nach einem Tatortfoto, das den CDU-Politiker Uwe Barschel 1987 tot in der Wanne seines Genfer Hotelzimmers zeigt. In Demands Bild bleibt von dieser Szene nur die Wanne und der geflieste Raum, dafür kehrt die Farbe der Fliesen und des kleinen Teppichs zurück. Unweigerlich komplettiert das Hirn der Betrachter die Szene um den Menschen, der in der Wanne lag, insofern man das Polizeifoto je zuvor gesehen hat.
Demands Bilder sind Bilder nach Bildern. Ausgehend von Tatortfotos, Fotografien aus den Medien oder Archiven baut Thomas Demand mit seinem Team im Studio die Räume Ursprungsfotos aus farbigem Papier im Größenmaßstab 1:1 nach. Wie ein Modellbauer fertigt er nicht nur die Zimmer und Fassaden aus großen Papierbögen, sondern auch Laternen, Pflanzen und Alltagsgegenstände, vom Wasserglas bis zum Radio, vom Kinderbett bis zum Kissen darin. Die so entstehenden Bildwelten sind auf zweifache Weise unheimlich real – aufgrund ihrer Referenzen zu den oft skandalösen Geschichten hinter den Fotos, aber auch unabhängig von ihnen, weil die Ästhetik seiner Aufnahmen ihnen ein eigenes Geheimnis verleiht.
Etwas stimmt da nicht auf diesen Bildern, das spürt das Auge, und zugleich wirkt etwas an tief vertraut. Nach der matten Textur ihrer Oberflächen und spezifischen Tonalität ihrer analogen Farbigkeit fallen dem Betrachter schließlich auch einzelne Stöße und Schnittflächen des Papiers auf und diese subtile Unwirklichkeit erzeugt ein uncanny valley, eine Akzeptanzlücke, die sich kurz darauf wieder schließt und zur Faszination wird. Demands Fotos nach Fotos zeigen eine nachgespielte Welt. Ihre nachgebauten Aschenbecher, Thermoskannen, Scheren oder Pflanzen sind Gebilde einer reinen Oberfläche, sie sind, wie CGI-Figuren, nur die «Haut» der Dinge, innen leer.
Für das Unbewusste sind Fotografien Tatsachenbilder und mit diesem Authentizitätsversprechen des Mediums spielt Thomas Demand. Fotografien sind eine überliefernde, reflexhafte Spiegelung der Welt zu einem bestimmten Augenblick und zugleich ihr Totenbild. Denn ein Lichtbild, das jede Fotografie bis heute ihrem Wesen nach ist, erzeugt eine Generalimpression des erblickten Lebensausschnitts und löst ihn von diesem ab. Während ein Maler die Bildfläche langsam Punkt für Punkt füllt, bannt die Fotografie das Abbild in der komplexen Gleichzeitigkeit all seiner Elemente.
Die spezifische Produktionsweise von Demands Fotografien kehrt diesen Vorgang um und erstattet den Bildern ihre Zeit zurück, in dem er den fotografierten Raum entsprechend des Quellfotos von Hand sukzessive aufbaut. 1964 in München geboren studierte Thomas Demand zunächst Innenarchitektur und dann Bildhauerei und Kunst in München, Düsseldorf und London. Aus praktischen Gründen begann er als Student seine Skulpturen zu fotografieren und entwickelte bald ein Interesse nicht nur an der spezifischen Realität dieser Aufnahmen, sondern am Phänomen der Oberfläche selbst.
Softwareprogramme schaffen Oberflächen. Jedes Mobiltelefon bietet eine Oberfläche an, die in die Tiefe führt, in soziale Beziehungen, die technologisch geprägt und kapitalistisch extrahiert werden. CGI-Figuren sind ihrem Wesen nach Text, geschrieben auf einer bilderzeugenden Software. Die menschenähnliche Figur, genauso wie CGI-Objekte oder Räume sind reine Oberflächen, innen leer, nur Hüllen, die mit Aufgaben, Ideen und Gefühlen «gefüllt» werden. Ähnlich schaffen auch die Architektur, Mode oder Design reine Oberflächen, die Modelle sind, hüllenhaft wie die Kostüme von Theaterfiguren, in die das Leben einzieht.
Sogar die Figur selbst, wie sie in Theatertexten angelegt ist, lässt sich als eine reine Oberfläche begreifen, als ein literarischer Code bzw. analoges Skript, das die Gestalt einer Figur als die Matrix ihres äußerlichen Verhaltens, ihrer Worte und Gesten notiert und für ihre «Anwendung» bereithält. In den Proben lesen die Schauspieler diesen Code und schlüpfen in diese Hülle, die er bereitstellt.
Sie orientieren dabei nicht nur an ihren persönlichen Gefühlen, sondern genauso an Formelementen, aus denen sich das Verhalten der Figuren zusammensetzt: Aus den Codes und Konventionen sozialer Welten, vertrauter Gesten oder Attitüden, die sie bei anderen Menschen beobachtet haben, in Filmen, Reden von Politikern oder schlicht bei dem, was im Dispositiv des Theaters selbst als Manierismus und Technik überliefert wird, fügen die Schauspieler ihre Figur. In jeder Figur geistern daher die Ahnen früherer Figuren.
So wie in jedem Foto Thomas Demands die Echos älterer Bilder der Welt auftauchen. Durch den Nachbau der ursprünglichen Fotos im Studio verwandelt sich deren ursprünglicher Gehalt in etwas Abstraktes, das eine Kettenreaktion von Referenzen auslöst – Erinnerungen an die originalen Geschichten und Fakten, aber auch ästhetische Reminiszenzen zu Werken der Kunstgeschichte, die durch seine Fotografien dem Betrachter wieder zu Bewusstsein kommen. Wie die Spieler in ihre Rollen schlüpfen, schlüpft Demand in seinem Atelier in Bilder.
Und so wie die Spieler und Spielerinnen im szenischen Skript eine verborgene Logik und Stimmung aufspüren und durch ihre Verkörperung in ein reales, und zugleich formales Verhalten zwischen Menschen überführen, bringt Demand in seinen Studio-Inszenierungen die Dinge und Räume des ursprünglichen Bildes zurück in die physische Welt, um sie vollständig in ein anderes Medium zu überführen. Das Papier, auf dem der fotografische Abzug erscheint, zeigt in seinen Arbeiten eine Welt, die komplett aus Papier besteht – ihr «Gegenstand» ist ihr Medium. Demands tiefere Beziehung zum Theater beruht für mich vor allem auf drei Aspekten: Stil, Aufführung und Absorption.
Sein Verfahren der Bildentstehung erzeugt einen bis ins kleinste Detail kontrollierten und extrem wiedererkennbaren Look: Die dunkel leuchtende Farbigkeit ohne jede Bildkörnung, die Perspektive der normalen Augenhöhe, das Licht ohne kantige Schatten, die matte Textur der Oberflächen – all das setzt ein papiernes Bauwerk ins Bild, das wie die Erscheinung einer Figur aus kleinsten Details gefertigt und gefügt ist und darin die Muster, Logik und Entwicklung sozialer Beziehungen entdeckt. Demand baut in einem handwerklich unmittelbaren und zugleich im übertragenen Sinne Modelle, lebensgroße Skulpturen aus Papier, die auf Recherchen, Know How und Experimenten beruhen. Wie jedes Modell zeigen seine Bilder einen Testraum unseres Wissens und ein stellvertretendes Objekt, das Prinzipien anschaulich macht.
Auch Theaterproduktionen errichten auf der Bühne eine Welt in der Welt. Jedes Stück ist der Modellfall einer spezifischen Wirklichkeit, etwas Nachgebautes, das nicht nur seinen Ursprung reproduziert, sondern etwas Originales kreiert. Die Kostüme der Figuren, ihre Maske und das Bühnenbild sind im Theater in ähnlicher Weise «aus Papier», auf den Moment und die Situation ihres Erscheinens im Bild der Aufführung hin entworfen und verschwinden nach der letzten Vorstellung auf Nimmerwiedersehen wie Gebrauchsgüter. Auch sie entstanden aus Bildern, übersetzten Oberflächen in den Raum, um sie wieder zum Bild werden zu lassen und verschwinden nach dem Klick des letzten Vorhangs.
All der Substanzwandel, der die Dinge im Alltag mit sprechenden Krusten überzieht, mit Gebrauchsspuren und Anzeichen von Verschleiß, die ihrerseits Rückschlüsse auf Menschen erlauben – Kaffeetassenränder, Schmauchspuren von Zigaretten, Schnipsel verbrauchter Dinge, wurde auf Demands Bildern eliminiert. Seine bereinigten Objekte erscheinen als Archetypen der Dinge an sich. Und obgleich Demands Bildquellen so oft auf den für unsere Zeit signifikanten Geschichten beruhen, evakuiert seine Arbeit sie scheinbar in einen Raum außerhalb der Zeit. Was in Demands Welt aus Papier Aufnahme fand, sah als Bild vor zwanzig Jahren nicht anders aus als gerade gestern.
Theatralisch ist zum anderen von Anbeginn auch die Art und Weise der Ausstellungsgestaltung selbst, bzw. die von Thomas Demand gestaltete «Aufführung» seiner Fotografien. So umgeben in den Museen seine Fotografien oft von ihm gestaltete Vorhänge, Stellwände, Kabinette, illusionistische Tapeten, Vitrinen oder Lampen, die durch dezente Eingriffe die Umgebung seiner Bilder sanft an deren ästhetische Wirklichkeit heranführen. Demands von der Decke herabhängenden Kinoboxen in seinen Ausstellungen in Moskau und Santander sind neofuturistische Skulpturen, obgleich sie nur dem praktischen Zweck dienen, scheinbar frei im Raum schwebende Hör- und Sehräume für drei, vier Menschen zu schaffen. Die zahllosen Interieur-Objekte und ortsspezifischen Architekturen, die Demand für seine Ausstellungssituationen entworfen hat, bilden so inzwischen einen eigenen Bereich im Oeuvre des Künstlers.
In dem transmedialen Ausstellungsprojekt «THE CAPTAIN LIED THE BOAT IS LEAKING» 2017 der Fondazione Prada in einem venezianischen Palast haben Thomas Demand und der Kurator Udo Kittelmann durch aufwändige Einbauten von Räumen, Wänden, künstlichen Bühnen und Treppen diverse Übergangsräume zwischen den ineinander verschachtelten und miteinander verbundenen Werk-Welten von Anna Viebrock, Alexander Kluge und Thomas Demand geschaffen. Zum Teil wurden Erinnerungsräume aus Filmen von Alexander Kluge als begehbare «Bühnenbilder» nachgebaut, die wiederum in Räume führten, in denen ein reales Bühnenbild von Anna Viebrock wie eine Skulptur präsentiert wurde, begleitet von Fotografien Thomas Demands, der seine Bilder in scheinbar historischen Räumen des Palazzo zeigt, die allerdings ihrerseits eine Scheinarchitektur waren, die es in diesem Gebäude so nie gab.
Diese Venediger Ausstellung ermöglichte ein permanentes Ineinanderfließen von Fiktion und Fakten in einem Raum, der als Palazzo selbst Teil der Erzählung wurde. Die Idee des Modells, auf dem Demands Bilder beruhen, griff hier erstmals über auf eine immersive Gesamtarchitektur des Erlebens seiner Kunst, in der es kein Außen gab, sondern nur ein sich immer weiter nach Innen verschachtelndes Labyrinth der ästhetischen Bezüge.
Von hier führt 2022 der Weg in drei Pavillons, die Thomas Demand für die dänische Textilfirma Kvadrat gebaut hat, lichte Gebäude, die so gestaltet wurden, als sei alles an ihnen aus Papier gefertigt worden - das blattartig gefaltete Dach des mittleren Baus, die wie aus Papierstreben gebaute Metallstühle, Türklinken, Tische, Tapeten und Lampen: All diese Dinge erscheinen in diesem Park in Ebeltoft wie Gebäude aus einem Kinderspiel, leicht und ernst zugleich, abstrakt und konkret in ihrer funktionalen Gestalt.
Die lichten Räume, Lüftungsgitter, Kacheln, Säulen, Möbel, das Geschirr, die Teppiche – alle dies könnte aus den Bildern eines seiner Animationsfilme in den Raum geglitten sein. Die stille, abstrakte und doch warme Bildwelt Demands wird in den Ebeltofter Pavillons zu einem gesamtkunstwerkhaften Kosmos, in dem jedes Foto, das von den Besuchern hier aufgenommen wird, wie aus dem Inneren von Demands Studio wirkt.
Es ist ein seltsamer Sog, der von Demands Bildern ausgeht und den Betrachter ins Innere seiner Bildwelten führt. Seine Aufnahmen besitzen keine Tiefe hinter den Räumen, sie lenken den Blick nie in die Ferne, sondern immer ins Innere seiner Grotten, Büros, Wohnräume oder Labore. Sie geben dem Betrachter Zugang zu einem magischen Nahraum, der anziehend und beruhigend wirkt. Wie jenseits der Zeit und von den physischen Spuren des Menschen bereinigt, kommt in Demands Bildern der wilde Tanz der Welt zur Ruhe.
Thomas Demands Bilder zeigen eine menschenbefreite Zone und Dinge, die für sich selbst sprechen. Das Künstliche ihres Seins ist in Demands Papierwelt die Realität ihres Seins ohne uns – die Welt, wie sie ist: abstrakt, reine Oberfläche, eins wie das andere.
Der Künstler hat von diesen Dingen unseren Schweiß und Schmutz entfernt, ihre Beschriftung und Geschichte. So entsteht eine reine Sprache der Sachen, des Dinglebens. Philippe Quesne hat es im Theater zum Leben erweckt in seiner «Phantasmagoria», die Künstler des Bauhaustheaters gingen diesen Weg, genauso Mette Ingvartsen in ihren Animationen des Waldes, des Nebels oder Feuers.
Für den amerikanischen Kunsthistoriker Michael Fried gibt es zwei Bildtypen, die er 1980 in seinem gleichnamigen Buch mit den Begriffen «Absorption» und «Theatralität» beschrieb. Die Gemälde von Jean-Baptiste-Siméon Chardin und Jean-Baptiste Greuze schaffen für Michael Fried eine intime Situation ihrer Betrachtung. Die Situation der Ausstellung tritt hinter das Kunstwerk zurück und die Wahrnehmung der Betrachter gleitet in die Welt des Bildes und dieses nimmt ihn auf. Es absorbiert die Realität des Betrachters. Dem entgegen steht für Fried die Kunst des Minimalismus, in dem die Situation der Ausstellung selbst zum Ereignis wird und ostentativ auf sich aufmerksam macht.
Thomas Demands Werk besitzt beide Aspekte. Jedes Bild für sich hat durchaus den Charakter eines Stillebens, einer beruhigten Situation, die den Blick des Betrachters absorbiert und ihn in den Innenraum des Bildes lenkt. Gleichzeitig erscheinen Demands Werke in seinen eigenen Ausstellungskonzepten eingebettet in Umgebungen, die subtil inszeniert sind. Nicht wie in der Minimal Art, sondern eher als Erweiterungen des Stimmungsraums seiner Fotografien in den Ausstellungsraum selbst.
In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft und -kritik ist Michael Frieds berühmtes Buch «Absorption and Theatricality: Painting and Beholder in the Age of Diderot» kaum rezipiert worden. Im Sinne einer Strategie der Absorption ist es auch nicht verwunderlich, dass Anna Viebrock die Fotografie «Treppenhaus» von Thomas Demand für eine Inszenierung von Christoph Marthaler adaptiert hat, in der die Menschen sich in einem Innenraum der Gefühle und kleinen Rituale bewegen, den sie nie verlassen werden. Michael Frieds Konzept von «Absorption» und «Theatralität» eröffnet eine interessante Perspektive auf die jüngere Theatergeschichte und ohne die Sphäre des Theaters bislang in direkter Weise berührt zu haben, ist Thomas Demand ein Künstler, dessen ästhetischen Strategien und Erfindungen mit der Entwicklung des zeitgenössischen Theaters eng und fruchtbar verbunden sind.
Theater der Zeit 6/2023, S.25-31