«Ich bin ein Moskauer Hamlet»
Interview mit A.P. Tschechow
von Thomas Oberender
Anton Tschechow (1860-1904)
Thomas Oberender: Wenn Sie eine halbe Minute Zeit hätten, um Ihre Biographie zu schildern, was würden Sie sagen? In Stichpunkten!
Anton Tschechow: Geboren wurde ich 1860 in Tangarog. 1879 beendete ich dort das Gymnasium. 1884 beendete ich das Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Moskau. 1888 erhielt ich den Puschkinpreis. 1890 unternahm ich eine Reise nach Sachalin durch Sibirien und zurück übers Meer. 1891 unternahm ich eine Tournee durch Europa, wo ich sehr guten Wein getrunken und Austern gegessen habe. 1892 habe ich mich mit Tichonov auf einem Namenstag amüsiert. Zu schreiben begann ich 1879 in der Strekoza. Meine Erzählungsbände sind: Bunte Erzählungen, In der Dämmerung, Erzählungen, Mürrische Menschen und die Novelle Das Duell. Ich habe auch im dramatischen Fach gesündigt, wenn auch in Maßen. Bin in sämtliche Sprachen übersetzt, ausgenommen Fremdsprachen. Übrigens, die Deutschen haben mich schon längst übersetzt. Die Tschechen und Serben finden mich ebenfalls gut. Auch die Franzosen sind dem Austausch nicht abgeneigt. In die Mysterien der Liebe eingeweiht wurde ich, als ich dreizehn Jahre alt war. Mit meinen Kollegen - Medizinern und Literaten - pflege ich ausgezeichnete Beziehungen. Junggeselle. Möchte eine Pension bekommen. Praktiziere als Arzt, und zwar so weit, daß ich im Sommer manchmal gerichtsmedizinische Obduktionen vornehme, die ich schon zwei bis drei Jahre nicht mehr durchgeführt habe. Unter den Schriftstellern bevorzuge ich Tolstoi, unter den Ärtzten - Zacharijn. Aber das ist alles Unfug.
TO: Wenn ich oder ein anderer Autor Ihre Biographie schreiben würde, was sollte darin stehen?
AT: Was die adeligen Schriftsteller von der Natur umsonst bekommen haben, das erkaufen sich die Leute ohne Rang und Titel mit dem Preis ihrer Jugend. Schreiben Sie doch mal eine Erzählung darüber, wie ein junger Mensch, Sohn eines Leibeigenen, seinerzeit Ladenschwengel, Kirchensänger, Gymnasiast und Student, erzogen zur Ehrfurcht vor Ranghöheren, zum Küssen von Popenhänden, zur Verbeugung vor fremden Gedanken, zur Dankbarkeit für jedes Stückchen Brot, oft verprügelt, ohne Galoschen zum Unterricht gegangen, der sich geprügelt hat, Tiere gequält hat, gern bei reichen Verwandten gegessen hat, ohne Notwendigkeit geheuchelt hat vor Gott und den Menschen, nur aus dem Bewußtsein seiner Minderwertigkeit – schreiben Sie, wie dieser junge Mensch tropfenweise den Sklaven aus sich herauspreßt und wie er eines schönen Morgens aufwacht und spürt, in seinen Adern fließt kein Sklavenblut mehr, sondern echtes, menschliches…
TO: Das klingt, als hätten Sie es geschafft.
AT: So einsam wie ich in meinem Grabe liegen werde, so einsam bin ich in Wahrheit auch im Leben.
TO: Empfinden sich nicht die meisten Autoren als einsam?
AT: Mir kommt es dauernd so vor, als trüge ich abgewetzte Hosen, schriebe nicht das, was ich sollte, und als gäbe ich den Patienten die falschen Pulver. Wahrscheinlich eine Psychose.
TO: Während Sie 1895 die Möwe schreiben, realisieren Sie gleichzzeitig den Bau einer Dorfschule, der ersten von dreien, nach Ihren Plänen, von Ihnen selbst finanziert. Wie bleibt Ihnen denn da noch Zeit zum Schreiben?
AT: Es wäre schön, wenn jeder von uns eine Schule, einen Brunnen oder etwas in dieser Art hinterlassen würde, damit unser Leben nicht spurlos in die Ewigkeit hinübergleitet.
TO: Seit 1892 leben Sie auf ihrem Landgut in Melichovo, zusammen mit Ihren Eltern, Ihrem Bruder und Ihrer Schwester - Sie sind der Ernährer Ihrer Familie und gelten als sehr gastfreundlich. Wie empfinden Sie das Landleben nach ein paar Jahren?
AT: Ich möchte schrecklich, schrecklich gern Dampfer fahren und überhaupt – Freiheit. Es ist mir zuwider, das gleichmäßige, wohlanständige Leben. Ich bin irgendwie auf dumme Weise gleichgültig geworden gegenüber allem auf der Welt … als sei mein Interesse am Leben versiegt.
TO: Sie haben aus diesem Grunde immer wieder Reisen unternommen. Im Oktober 1896 sind Sie nach einem Aufenthalt in Moskau weiter nach Petersburg gefahren, um der Uraufführung der Möwe am Alexandrinskij-Theater beizuwohnen. Man sagt, die Probenbesuche einige Tage vor der Premiere haben Ihnen Alpträume beschert?
AT: Ich träumte, daß man mich mit einer Frau verheiratet, die ich nicht liebe, und daß man mich in den Zeitungen beschimpft.
TO: Fünf Tage vor der Uraufführung hat die Darstellerin der Nina nach Auseinandersetzungen ihre Rolle zurückgegeben.
AT: Ich habe mit dem Theater so wenig Glück, daß wir, wenn ich eine Schauspielerin heiraten würde, sicherlich einen Orang-Utan bekommen würden oder ein Stachelschwein.
TO: So unglücklich Sie mit den Aufführungen der Möwe auch waren, immerhin haben Sie an Stanislawskis Theater in Olga Knipper Ihre spätere Frau kennengelernt.
AT: Ich habe ihr aus dem Ausland Parfum mitgebracht, ein sehr gutes. Sie ist die letzte Seite meines Lebens, eine große Schauspielerin des russischen Landes.
TO: Sind Sie ein religiöser Mensch?
AT: Wir haben keine Politik, an eine Revolution glauben wir nicht, wir haben keinen Gott, haben keine Angst vor Gespenstern, ich persönlich habe nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem Erblinden. Ich werde mich nicht in einen Treppenschacht stürzen, aber ich werde mir auch nicht schmeicheln mit Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, für unsereinen ist diese Zeit brüchig, sauer, langweilig. Die Gründe dafür liegen in einer Krankheit, die für einen Künstler schlimmer ist als Syphilis oder Impotenz. Uns fehlt das »Etwas”, das ist wahr, und das bedeutet, daß, wenn Sie unserer Muse den Rocksaum hochheben, sie dort eine flache Stelle sehen werden.
TO: Kann man diese Krankheit als »Hamletismus” beschreiben?
AT: Ich bin ein Moskauer Hamlet.
TO: Wie bitte?
AT: Ja. Ich gehe in Moskau von Haus zu Haus, gehe ins Theater, in Restaurants und Redaktionen und sage überall nur das eine: O Gott, welch eine Langeweile. Welch erdrückende Langeweile! Ich bin ansteckend wie Influenza. Ob ich über Langeweile klage, ob ich mich wichtig mache oder aus Neid meine Nächsten und Freunde verleumde – siehe da, ein kleines Studentchen hat aufgehorcht, fährt sich gewichtig mit der Hand durch die Haare, wirft sein Buch weg und sagt: »Worte, Worte, Worte … O Gott, welch eine Langeweile!” Er fängt an zu schielen, schielt wie ich auf beiden Augen und sagt: »Unsere Professoren halten derzeit Vorträge zugunsten der Hungernden. Aber ich fürchte, die Hälfte des Geldes stecken sie doch in die eigene Tasche.” Dabei hätte ich alles studieren können; hätte ich den Asiaten abgestreift, so hätte ich alles studieren und lieben lernen können – ja, ich hätte können! Hätte! Aber ich bin ein fauliger Lappen, ein Stück Dreck, ein Sauertopf, ich bin der Moskauer Hamlet.
TO: Diese Satire meint wahrscheinlich weniger Sie selbst als Person denn einen bestimmten Typus der russischen Intelligenz. Oder ein bestimmtes Milieu der russischen Kultur. Wird sich das nicht sehr bald verändern? Streben die Menschen nicht nach Gerechtigkeit?
AT: Die träge, apathische, faul vor sich hin philosophiernde, kalte Intelligenz, die nicht einmal fähig ist, ein anständiges Muster für Banknoten zu entwerfen, die unpatriotisch, deprimiert und farblos ist, die von einem Glas betrunken wird und Fünfzigkopeken-Bordelle besucht, die herumnörgelt und gern alles ablehnt, was ein träges Hirn leichter ablehnen als bestätigen kann; die nicht heiratet und es ablehnt, Kinder aufzuziehen usw. Träges Herz, träge Muskeln, Mangel an Bewegung, Unbeständigkeit des Denkens – und all das nur, weil das Leben keinen Sinn habe, die Frauen Leukorrhöe haben und das Geld etwas Böses sei. Wo Degeneration und Apathie herrschen, da herrschen auch sexuelle Perversion, Unzucht, Abtreibung, frühes Alter, nörglerische Jugend, da herrschen Niedergang der Kunst, Gleichgültigkeit gegenüber der Wissenschaft; da herrscht Ungerechtigkeit in jeder Form. Eine Gesellschaft, die nicht an Gott glaubt, aber Angst hat vor bösen Vorzeichen und dem Teufel, die alle Ärzte ablehnt und die gleichzeitig Trauer heuchelt, darf nicht einmal im Traum daran denken zu sagen, sie wisse, was Gerechtigkeit sei.
TO: Gott spielt in Ihren Stücken also doch eine Rolle?
AT: Sache des Schriftstellers ist es darzustellen, wer, wie und unter welchen Umständen über Gott oder den Pessimismus gesprochen oder gedacht hat. Der Künstler soll nicht Richter seiner Personen und ihrer Gespräche sein, sondern nur ein leidenschaftsloser Zeuge.
TO: Aber doch auf ästhetisch angenehme Weise?
AT: Einverstanden, eine »Perle” ist eine schöne Sache, aber ein Schriftsteller ist doch kein Konditor, kein Kosmetiker, kein Alleinunterhalter; er ist gebunden durch sein Pflichtgefühl und sein Gewissen. Der Schriftsteller muß genauso objektiv sein wie ein Chemiker; er muß sich freimachen von der Subjektivität seines Alltags und wissen, daß die Misthaufen in der Landschaft eine sehr beachtliche Rolle spielen.
TO: Muß der Schriftstller also das Leben wahrheitsgetreu zeichnen und dabei zeigen, wie weit dieses Leben von der Norm abweicht?
AT: Die Norm kenne ich nicht, niemand von uns kennt sie. Wir alle wissen, was eine ehrlose Handlung ist, aber was Ehre ist, wissen wir nicht. Ich werde mich an jenen Rahmen halten, der dem Herzen näher und bereits von Menschen erprobt worden ist, die stärker und klüger sind als ich. Dieser Rahmen ist – die absolute Freiheit des Menschen, die Freiheit von Gewalt, von Vorurteilen, von der Ignoranz, vom Teufel, die Freiheit von Leidenschaften usw.
TO: Fühlen Sie sich als Schriftsteller geliebt?
AT: Wir lieben die gewöhnlichen Menschen; wir werden geliebt, weil man in uns außergewöhnliche Menschen sieht. Niemand will in uns den gewöhnlichen Menschen lieben. Daraus folgt, daß, wenn wir uns morgen in den Augen unserer guten Bekannten als gewöhnliche Sterbliche erweisen, man aufhören wird, uns zu lieben und nur noch Mitleid empfinden wird. Und das ist schlecht. Schlecht ist auch, daß man das an uns liebt, was wir an uns ganz offen nicht lieben und nicht achten.
TO: Lieben Sie Ihre Figuren?
AT: Alle haben sie Ähnlichkeit mit Menschen und erwecken Mißtrauen.
TO: Sie haben keine Kinder?
AT: Die Frauen halten mich für einen Spötter, einen Humoristen, und das wirkt nicht vertrauenerweckend.
TO: Erinnern Sie sich an Ihre letzte Reise in den Schwarzwald – nach Badenweiler? Sie lagen eines Nachts im Fieber und sprachen von Japan und von einem Seemann. Und da hat Ihnen Ihre Frau Olga Knipper einen Eisbeutel auf die Brust gelegt. Sie sagten –
AT: Warum Eis auf ein leeres Herz legen?
TO: Der Kurarzt kam um zwei Uhr morgens. Sie sagten zu ihm auf Deutsch: »Ich sterbe.” Er wollte nach einer Sauerstoffflasche schicken. Aber Sie hielten ihn davon ab: »Es ist sinnlos. Bis sie sie herbringen, bin ich schon tot.” Der Arzt ließ Champagner kommen.
AT: Ich habe schon so lange keinen Champagner mehr getrunken.
TO: Das waren Ihre letzten Worte. Sie haben Ihr Glas ausgetrunken und sich hingelegt. Kurz darauf waren Sie tot.
AT: Tolstoi sagt, der Mensch braucht nur drei Arsin Erde. Das ist Unsinn – drei Arsin Erde braucht ein Toter, aber der Lebende braucht den ganzen Erdball, insbesondere ein Schriftsteller.
TO: Herr Tschechow, wir danken für dieses Gespräch.
Interview: Thomas Oberender
Dieses hundert Jahre nach Tschechows Tod geführte Interview wurde erstmals im Programmheft zur Inszenierung der »Möwe” am Bochumer Schauspielhaus, Premiere am 2. April 2004 abgedruckt. In der hier vorliegenden Fassung wurde es gekürzt und neu überarbeitet. Die wörtlichen Äußerungen Tschechows entstammen seinen Briefen, Notizbüchern und den Memoiren seiner Zeitgenossen. Verwendete Literatur: Gerhard Bauer: Lichtstrahl aus Scherben. Tschechow. Frankfurt a.M. und Basel 2000. Ginzburg, Natalia: Anton Tschechow. Ein Leben, Berlin 1990. Franz-Josef Leithold: Studien zu A.P. Tschechows Drama »Die Möwe”, München 1989. Siegfried Melchinger: Anton Tschechow, Velber 1974. Henri Troyat: Tschechow. Leben und Werk, Stuttgart 1987. Anton Tschechow: Briefe in 5 Bänden sowie Tagebücher / Notizbücher, Hg. und Ü. Peter Urban, Zürich 1985. Peter Urban: Anton Tschechow. Sein Leben in Bildern. Zürich 1987. Anton Tschechow: In Moskau. Zwei Betrachtungen über bessere Menschen. Hg. und Ü. Peter Urban, Berlin 1995. Elsbeth Wolffheim: Anton Tschechow, Reinbek 1982.