«Die Ausstellung aus Kunstwerk»
Zu Yayoi Kusamas Werkschau am Gropius Bau
Für Künstler*innen ist es von großer Bedeutung, wie ihre Arbeiten präsentiert werden. Die Hängung ihrer Arbeiten in einer Ausstellung lenkt Blicke und formt Erzählungen. Für einige Künstler*innen ist jedoch die Ausstellung nicht nur ein rahmendes Format, sondern selbst ein Kunstwerk. Wenn, wie bei Yayoi Kusama, der Ausstellungsraum zur eigenständigen künstlerischen Arbeit wird, angefüllt mit Objekten, Figuren und Aktionen, ist es normal, dass viele dieser vergänglichen, ortsgebundenen Kreationen mit dem Ende der Ausstellung verschwinden und nur auf Fotos überdauern. Um so erstaunlicher ist es, wenn diese Kreationen nach Jahrzehnten wieder auferstehen und den Begriff vom «Werk» einer Künstlerin so noch einmal ganz anders und umfassender erlebbar machen.
Die Berliner Kusama-Retrospektive rekonstruiert mehrere der historischen Ausstellungsräume der Künstlerin, die Wegmarken ihres Schaffens sind, aber auch Schlupflöcher in der Zeit, um in diese verschwundenen Welten noch einmal einzutauchen. Kusamas bildnerische Werke sind Inszenierungen der Entgrenzung, sind holistisch wie Lovelocks Idee von Gaia, nicht nur die Addition einzelner Objekte, sondern ein offenes System. Zugleich erzählt die Ausstellung aber auch vom Auftauchen der Künstlerin, den individuellen Bedingungen und Beziehungen des Werks zur sie umfassenden Zeit. Man geht also auf mindestens zwei Reisen beim Besuch dieser Ausstellung.
Heute, da unser Empfinden für die Verletzlichkeit der Biosphäre durch Corona, Klimawandel und Artensterben erheblich zugenommen hat, wirkt um so verblüffender, wie organisch, ganzheitlich und von biologischen Lebensformen durchtränkt die Formen- und Arbeitsgeschichte der Künstlerin wirkt. Es ist, als könne Yayoi Kusama in die Matrix des Lebens schauen, in das Gitter- und Punktenetz vegetativer Strukturen. Yayoi Kusamas Halluzination der Welt als durchlässige Oberfläche und allverbundenes Geflecht, das schier endlos in die Tiefe und Weite führt, ist ein Abenteuer, dass taumeln macht und zugleich eine Welt hinter der Welt öffnet.
Die Berliner Festspiele erforschen in ihrer Programmreihe «Immersion» das Phänomen der Grenzauflösung im Bereich der bildenden Kunst, des Theaters, der Virtual Reality und politischen Realität. Die Künstlerin Yayoi Kusama gehört zu den Pionierinnen von Werk- und Erlebnisformen, denen wir nicht nur gegenüberstehen, sondern in denen wir Einbezogene sind. Sie hat bereits in den 60er Jahren Infinity Mirror Rooms geschaffen und diese bis heute in ihrer Dichtheit und Weite perfektioniert. Spiegel lassen virtuelle scheinbar unendlichen Räume entstehen, eine Reise in den Kosmos, galaktische Bilder eines uns umgebenden Sternenmeers. Ich freue mich daher besonders, in Kusamas Einzelausstellung im Gropius Bau in einen neuen Infinity Mirror Room einzutauchen.
Ich freue mich, dass die Berliner Festspiele in ihrem Ausstellungshaus eine große Retrospektive der Künstlerin Yayoi Kusama entwickeln, die selbst einen ungewöhnlichen konzeptionellen Zugang bietet. Ich möchte Stephanie Rosenthal besonders danken, als Direktorin des Gropius Bau und Kuratorin diese einflussreiche Gegenwartskünstlerin in dieser groß angelegten Einzelausstellung nach Berlin zu bringen, die mit einer solcher Spannweite von frühen Rekonstruktionen bis neuen immersiven Werken diese wichtige künstlerische Position vorstellt.
(Der Text erscheint im Kusama-Katalog der Ausstellung im Gropiusbau 2021)