«Kunst der Kritik und kritische Kunst»
Überlegungen zu einer schwierigen Textform
von Thomas Oberender
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Nur wer vernichten kann, kann kritisieren, schrieb Walter Benjamin in seinem Buch «Einbahnstraße». Im Rigorismus dieser Bemerkung offenbart sich etwas von der Anwaltsrolle des Kritikers im Auftrag des Absoluten, an dem er die Werke im Idealfall misst. Das Absolute meint dem Wortsinn und Ursprung nach: «von nichts anderem abhängig, für sich bestehend». Diese Formel könnte sehr gut auch den Standort der Kritik charakterisieren. Will man die Position des Theaterkritikers darüber hinaus eingehender bestimmen, so empfiehlt es sich, das Verhältnis zum Theater zur Kritik als ein inneres und ein äußeres zu betrachten: Als Reaktion auf das Beurteiltwerden von außen und als kritische Distanzierung von sich selbst in der Endphase jeder Inszenierung.
Lange vor der öffentlichen Kritik der Rezensenten formuliert das Theater intern und an sich selbst Kritik. Diese «Kritik» im Anschluss an die ersten Durchlaufproben ist eine schöpferische Reaktion aus der Erfahrung der ersten Übersicht, ist ein korrigierendes und klärendes Besprechen nach dem erstmaligen Blick aufs Ganze, wobei man sich nun von diesem Ganzen des Werkes, dem man sich, nach Wochen der Proben am Detail, nun endlich in gewisser Weise gegenüberstehen kann, so dass man sich auch von ihm loslöst und es nun erstmals in seiner Eigengestalt betrachtet, so dass das Werk jetzt ‚für sich‘ steht, d.h. in eine Existenzform wechselt, die in gewissem Sinne ‚absolut‘ ist. Erst jetzt, in den Durchlaufproben kurz vor der Premiere, ist das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Gewerke und Etappen des Werkes zu erfahren und erst jetzt schlägt die Stunde der Kritik. Denn niemand würde am Anfang der Proben an den Angeboten eines Schauspielers ‚Kritik’ üben, auch wenn sie verworfen oder diskutiert werden. Kritik zu üben käme in diesem Stadium einem Akt der Selbstzerstörung gleich, denn noch existiert nichts, wovon sich ein Schauspieler lösen könnte, ohne persönlich oder individuell beschädigt zu werden, bzw. das Hervortreten des Kunstwerks als Ganzes zu gefährden. An dieser merkwürdig «kritiklosen» Zeit der Kreation verdeutlicht sich ein weiterer Charakterzug der Kritik: Kritik ist in gewissem Sinne immer Antwort, das Werk hingegen Setzung von etwas Primärem. Auch insofern ist Kritik ein Vorgang, der aufs «Ganze geht», wie Walter Benjamin es meinte, wenn er der Kritik die Lizenz zum Töten gab. Entweder, das kritisierte Werk erlangt den Status von etwas «absolutem» im Sinne der von nichts anderem abhängigen Existenz, oder es erweist sich, in den Augen der radikalen Kritik, als nicht lebensfähig. In diesem grundsätzlichen Sinne kann Kritik auch immer grundstürzend wirken.
Die Bühne ist eine «ausschließliche» Welt, sie gebiert in der Aufführung einen für alles Außertheatralische geschlossenen Kosmos und ist auf die Erzeugung einer in sich glaubwürdigen und dichten Präsenz angewiesen, die – wie bei jedem Kunstwerk – nur auf höchst komplizierte Weise und Wege eine Beglaubigung durch ein «Außerhalb» der Bühne erhält. Solange an der Kreation dieser inszenierten Wirklichkeit gearbeitet wird, ist also Kritik im strengeren Sinne nicht produktiv. Die Beteiligten verschwören sich im Gegenteil gegen jede Distanzierung von sich selbst, gegen jeden Einspruch von «außen», um im Purgatorium der Unsicherheiten, gegenseitigen Verletzungen und widerstreitender Ideen, aber auch der gelungenen Findungen und im bisweilen einmaligen Zusammenspiel letztlich zur Form des Werkes zu gelangen. Sobald sich dieses Ganze eines Werkes erstmals in Umrissen zu erkennen gibt, distanziert sich am Theater das Geschehen von sich selbst in der Kritik. Der Regisseur – heutzutage erster und oberster Zuschauer der Aufführung –, beurteilt im Anschluß an die Probe in der Kritik, was sich erst durch die Abläufe und weiter verzweigten Zusammenhänge erkennen lässt. Die durch diese Beobachtung entstandene «Mängelliste» ist in der Regel kein Gegenstand der Diskussion, sondern lediglich Anlaß zur Korrektur: Diese «Kritik» der Inszenierung an sich selbst, die mit den Durchläufen einsetzt, justiert die formalen und logischen Komponenten der Aufführung und dient im Grunde der Sicherung und Verdeutlichung des Entwurfs, der dieser Arbeit einmal zu Grunde lag und der in der passionierten Arbeit am Detail immer auch verloren zu gehen droht. In dieser Phase der Kritik bietet sich, kurz vor der Veröffentlichung der Arbeit, noch einmal die Gelegenheit, den «Geist des Ganzen» zu fassen. Auch späterhin versucht das Theater durch die Praxis der «Abendkritik», diesen Geist des Ganzen durch die Kontrolle und Korrektur der Formen zu bewahren. Es gibt also eine Form der Kritik, die das Theater permanent an sich selber übt. Zugleich ist aber historisch auch eine institutionalisierte Form von Kritik entstanden, die Theateraufführungen kontinuierlich von außen betrachtet und «kritisiert».
Glücklicher Weise heißt auch eine Rezension, die einer Inszenierung grundsätzlich Lob spendet, «Kritik». Dieser Umstand verweist auf den griechischen Ursprung des Wortes, der soviel bedeutet wie die ‚Kunst der Beurteilung’ und allgemeiner auch: ‚prüfende Besprechung’. Obgleich der Vorgang der Kritik gemeinhin mit der Aufzeigung negativer Aspekte verbunden wird – exemplarisch vielleicht in der Form der Selbstkritik als Praxis der Selbstbezichtigung, der Selbstanklage bzw. Entschuldigung – ist die Kritik ein Beurteilungsvorgang mit prinzipiell offenem Ausgang. Theaterleute hoffen immer auf gute Kritiken, obgleich sie den Vorgang des Beurteiltwerdens selten als etwas Positives erleben. Bedrohlich ist dieses Kritisiertwerden, da der Vorgang von einer ungleichen Machtverteilung, bzw. an der relativen Ohnmacht der Beurteilten im Hinblick auf das über sie öffentlich gefällte Urteil geprägt ist, aber schlimmer noch: Die Kritik ist in einer Zeit, da vollkommen unverbürgt wurde, was «Kunst» ist oder nicht, zur entscheidenden Instanz in dieser Gewissensfrage geworden. Und als Dienstleister am Publikum wurde die Kritik ganz im Sinne einer Stiftung Warentest zu einem ökonomischen Faktor ersten Ranges. Die Theaterkritik entscheidet auf regionaler Ebene in der Regel ganz unmittelbar über die Zahl der Zuschauer, auf überregionaler Ebene prägt sie das Image der Künstler und ermittelt ihren «Marktwert» im System der Bühnen und des Films. Ein beurteilter Künstler hat diesem landesweit verbreiteten Urteil, falls es negativ ausfällt, wenig entgegenzusetzen, und verdankt ihm zugleich unendlich viel, wenn es positiv ist. Dem Apparat der kritischen Interpreten wohnt dabei eine Art demiurgischer Gewalt inne, denn er bringt seine «Geschöpfe» genauso hervor, wie er sie auch zu vernichten droht und er agiert dabei – ebenso wie der beurteilte Künstler – kreativ, aktiv und suchend.
Die Verhältnisse, die einst zur Herausbildung der «Kritik» führten, haben sich dabei jedoch grundlegend verändert, bzw. sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Shakespeares Theater kannte keine institutionalisierte Theaterkritik im heutigen Sinne, sondern nur das Plebiszit an der Theaterkasse und die Zensoren von Hof und Kirche. Nach der Durchsetzung der bürgerlichen Verhältnisse als Kultur und Staatsform hat die Kritik nun eine Art von «Polizeifunktion» übernommen. Klassiker der bürgerlichen Dramenliteratur wie Lenz, Kleist, Schiller und Lessing waren als Kritiker visionäre Essayisten einer künftigen Ästhetik und Lebenswelt der Bürger als freie Menschen. In diesem Sinne schrieb Walter Benjamin noch in seiner Technik des Kritikers in dreizehn Thesen: «Kunstbegeisterung ist dem Kritiker fremd. Das Kunstwerk ist in seiner Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister. Die Kunst des Kritikers in nuce: Schlagworte prägen, ohne die Ideen zu verraten.» Doch Walter Benjamin schrieb auch: «Narren, die den Verfall der Kritik beklagen. Denn deren Stunde ist längst abgelaufen. Kritik ist eine Sache des rechten Abstands. Sie ist in einer Welt zu Hause, wo es auf Perspektiven und Prospekte ankommt und einen Standpunkt einzunehmen noch möglich war. Die Dinge sind indessen viel zu brennend der menschlichen Gesellschaft auf den Leib gerückt. Die ‚Unbefangenheit’, der ‚freie Blick’ sind Lüge, wenn nicht der ganz naive Ausdruck planer Unzuständigkeit geworden. Der heute wesenhafteste, der merkantile Blick ins Herz der Dinge heißt Reklame.»
Sicher, vieles an diesen oft zitierten Passagen aus Walter Benjamins Einbahnstraße wirkt heute hypertroph und antiquiert zugleich und natürlich hat sich die Kritik als Institution und eine Denkform, die nichtbefragte Internalisierung der verschiedensten Gegebenheiten bekämpft, noch immer behauptet. Aber etwas von den Einschränkungen und Ansprüchen Walter Benjamins hat dennoch an Gültigkeit behalten: Umstellt von Werbung, umgeben von Verführungen zum Konsum ist die Kritik heute scheinbar gänzlich zur Negation verdammt. Denn das Positive fand seine Heimat augenscheinlich im Reich des Konsumismus. Dass die kritische Haltung so sehr zur Verurteilung verurteilt scheint, und so wenig zur Sache des Entwurfs und der Vision, hat gewiss mit einer instinktiven Scheu der Kritiker vor der Tat der Bejahung zu tun, die eben immer auch Reklame bedeutet.
Wird das Positive aber abkoppelt vom Konsum und Konsumierbaren, verlässt die Perspektive auch schnell die Zonen des «bürgerlich Erlaubten». Denn wo Kritik die bürgerlichen Verhältnisse nicht mehr transzendieren kann wie einst die vorbürgerlichen Verhältnisse zugunsten einer gewünschten, besseren Wirklichkeit, wirken auf sie Künstler, die an diesem Versuch festhalten, eine andere Welt wenigstens zu visionieren oder auf eine bemessene Zeit hin entstehen zu lassen, bedrohlich und verstörend und werden, Einar Schleef, Heiner Müller, Botho Strauß oder Christoph Schlingensief haben es erfahren, in einer Weise bekämpft, die bei weniger modellgebenden Künstlern schlicht nie zu erleben war. Die gesellschaftstranszendierende Dimension des Schaffens ist heute also nicht mehr Bestandteil der literarischen Kritik, sondern der zeitgenössischen Kunst. Allein der akademische Diskurs gibt noch Gegenbeispiele einer schöpferisch bejahrenden, umstürzlerischen Kritik.
Wie das Kunstwerk in den Händen der Kritik wieder zur Waffe im Kampf der Geister werden kann, demonstrieren gegenwärtig (und wahrscheinlich auf längere Sicht) nur die Künstler: z.B. Michel Houellebecq in seinem Essay «Gegen die Welt, gegen das Leben», das sich dem Werk von H.P. Lovecraft widmet. Sein Buch ist ein leidenschaftliches, im Grunde mit Becketts Essay «Proust» eng verwandtes Plädoyer für das Positive im Werk eines im Leben gründlich gescheiterten Phantasten. Das Positive, das sich in Houellebecqs differenzierter Betrachtung der Stärken und Schwächen dieses Autors zu erkennen gibt, ist der Einspruch einer künstlerischen Form und Lebensweise gegen die bestehenden Verhältnisse, ist ein Plädoyer für die escape-Taste der Kunstwerks. Nach ihr sucht und von ihr spricht die Kritik, wie ich sie beobachte, heute kaum noch, aber die Zeiten sind generell nicht mehr danach. Im übrigen auch für die Kunst selbst nicht, die – es ist kaum eine Generation her – vor allem eine «kritische» war und demzufolge auch mit den Mitteln der Kunst über die negativen (ideologischen und sozialen) Verhältnisse aufklären wollte.
Die Idee des Dokumentartheaters beruhte auf Kritik, Peter Weiss nannte das: «Kritik an der Verschleierung, Kritik an der Wirklichkeitsfälschung, Kritik an Lügen.» Das alles - die Schleier, die Wirklichkeit, die Lügen - war für ihn noch in «Modellen» demonstrierbar. Er hat sich als Autor weit hinter die Fassade des Objektiven zurückgezogen - der «Schreiber des Dramas» will in dieser Faktensammlung nicht vorkommen, aus der die Wahrheit sprechen soll, nicht er. Nein, zum Glück ist die Kunst seither nicht unkritischer geworden, doch wurde aus der Verschleierung, welche es bei Peter Weiss noch zu durchdringen galt, die grundsätzliche Erfahrung von Unschärfe und der unhintergehbaren Konstruktion des «Wirklichen». Die Kunst hat seither eine Fixierung aufs Negative und konsensbedingt Erklärbare hinter sich gelassen, der die Kritik weiterhin verhaftet bleibt. Kritisch sein im Sinne der zumindest partiellen Verurteilung bleibt in den Seminaren des Feuilletons also weiterhin Pflicht.
Das ästhetische Urteil der Kritik, mit der sich der Beurteilte in der Regel konfrontiert sieht, ist schlicht eine Frage des persönlichen Geschmacks und der weltanschaulichen Bildung des Rezensenten, die sich im Grunde jeder Diskutierbarkeit entzieht. Die Kritik stellt dabei tagtäglich den überregionalen und auch historischen Vergleich her, ist der Agent der Neuigkeiten und reportiert Ereignisse. Sie beobachtet die Künstler und da diese sich dieser Beobachtung bewusst sind, garantiert diese Beobachtung auch (in gewissen Maßen) ein selbstreflexives Verhalten der Theaterschaffenden. Jedoch: Wie beobachtet sich die Kritik? Wer kritisiert Kritiker? Es ist letztlich der «Markt» der Redaktionen, der Orte, an denen veröffentlicht wird, der den Status der Autoren bestimmt. Sind sie «gefragt»? Entwickelt ihre Stimme im Laufe der Zeit eine Bedeutung? Hier sind Kritiker in einer ähnlichen Sitution wie die Kritisierten.
Der Kritik als komplexem System entgeht im Grunde kein Talent und kein Fehlschlag und selbst wenn man die kritische Beurteilung derselben nicht teilt, werden die Ereignisse doch wahrnehmbar. Diesen dienstleistenden Aspekt von Kritik überschreiten jedoch nur die wenigsten Rezensionen und wenn, dann vor allem deshalb, weil sie, um ein letztes Mal mit Walter Benjamin zu sprechen, «in der Sprache der Artisten reden.» In diesen Glücksfällen der Kritik wird die Rezension selbst zum Kunstwerk und produziert in der Beschreibung einen eigenen Mehrwert. Denn bisweilen tritt eine eigene Sorge, ein eigenes Suchen und Assoziieren in den Text, das in der berührenden Besonderheit einer Formulierung spontan eine Erfahrung überträgt, die wohl die eines Kunstwerks ist. Dann wird die Kritik zu einer Tat, so wie auch manche Aufführungen für wenige Augenblicke zum Kunstwerk wird. Diese Augenblicke zu erfassen, das bleibt die Kunst der Kritik.