«Das Spiel der Reichsbürger*innen»
Sie wollen eine «Theaterrepublik» gründen und halten die Republik für Theater.
Lieber Arne Vogelgesang, die «Reichsbürger» bauen in der politischen und sozialen Realität unseres Landes offensichtlich reale «Inseln» einer völlig anderen Welt. Was ist die Idee dahinter?
Arne Vogelgesang: Die Idee, dass die BRD eigentlich gar kein Staat ist, sondern das Deutsche Reich fortexistiert, kommt tatsächlich aus der harten nationalsozialistischen Szene. Das war der Versuch, nach der Gründung der BRD diesen Staat und sein Grundgesetz zu delegitimieren – noch vor der Zeit des Internets. Manfred Roeder oder Horst Mahler und das «Deutsche Kolleg» in Würzburg, ein neonazistischer Think Tank, waren einige der Figuren und Player, die das mitentwickelt haben.
Thomas Oberender: Horst Mahler war der Anwalt von Rainer Langhans und Fritz Teufel von der «Kommune 1» und danach auch von der RAF. Ein Linksextremist, später Holocaust- Leugner.
AV: Ja, das waren stramme Nazi-Akademiker und irgendwie ist die Reichsbürger*innen-Ideologie von da diffundiert und hat seither seltsame, fast travestierende Formen angenommen. So haben Leute angefangen, sich als Reichskanzler auszurufen, sich fiktive Adler-Orden anzuhängen und zu sagen: «Ich gründe einen neuen Staat.» Das Interessante an der Szene ist für mich, dass sie einen wahnsinnigen Glauben an und Vertrauen in Sprechakte hat. Was Liebknecht oder Scheidemann konnten, das kann sich doch jeder herausnehmen. Vielleicht stelle ich mich auch einfach mal ans Fenster und rufe etwas aus. Aber der Glaube, dass das dann auch wirklich so ist und es nicht etwa noch eine Mehrheit von Menschen geben müsste, die das akzeptieren, und vielleicht noch ein paar Freikorps, die es durchsetzen – das ist halt das Spezielle an diesen Leuten. Deswegen findet man in der Szene der Reichsbürger*innen, zu der auch sogenannte «Selbstverwalter*innen» gehören, unglaublich viele Akte der Ausrufung, der performativen Erklärung von Wirklichkeit, was als solches eine sehr theatrale Handlung ist.
TO: Mit aller Vorsicht kann man sagen, dass Schlingensief zu Teilen auch so funktioniert hat.
AV: Ja. Ich glaube, dass es in der Kunst auch vor Schlingensief viele vergleichbare Aktionen gab, und das ist den Leuten, die so was in der rechten Szene machen, nicht unbedingt bewusst. Es gab in den 1990er Jahren auch diese Mode der Ausrufung von sogenannten «Mikronationen» oder Staatsfiktionen, siehe Neue Slowenische Kunst. In solchen Fällen war es künstlerische Praxis, einen exterritorialen Staat zu proklamieren, und die existierten dann ja auch relativ lange. Was immer «existieren» in diesem Zusammenhang bedeutet.
TO: Einige gibt’s noch, in Litauen und die sogenannte Freistadt Christiania in Kopenhagen. Berühmt geworden ist der Freistaat Fiume, den der italienische Nationalist und Dichter Gabriele D’Annunzio Anfang der 1920er Jahre in der gleichnamigen Stadt gegründet hat. Sie gehört heute zu Kroatien.
AV: In der Reichsbürger*innen-Szene kommt nun die Legende hinzu, dass es einen Unterschied – der ist den Aktiven in der Szene wirklich unglaublich wichtig – zwischen Menschen und Personen gibt. Die reden also nicht von Figuren, sondern von Personen und von Personalausweisen und so weiter, die bewiesen, dass wir nur das Personal des Staates wären und diesen Arbeitsvertrag kündigen könnten. Das heißt, durch das Gesetz werden wir nur als eine juristische Fiktion angesprochen, was innerhalb des Rechtsvokabulars auch völlig richtig ist. Aber die Reichsbürger*innen übertragen das auf die Wirklichkeit und sagen, dass sie zu diesem Staat, der sie die ganze Zeit als Fiktion adressiert, sagen können, dass sie diese Fiktion nicht mehr sein wollen, sondern jetzt sie selbst sind. «Ich bin jetzt Mensch. Und damit kündige ich den gesamten Vertrag, den ich mit dem Staat habe, und bin jetzt frei.»
TO: Wahnsinn. Das ist wieder so ein bizarres Stück.
AV: Im Grunde auch eine Variante der Matrix-Story, nur dass die Fiktion rein sprachlich ist. In dieser Szene steht ständig ein Begriff von Künstlichkeit gegen einen der Echtheit. Und mit diesem konstruierten Widerspruch wird ein gigantisches Theater aufgeführt, weil die Leute – ich glaube, es hat ein bisschen abgenommen, aber vor ein paar Jahren war das ein großes Problem – jede Konfrontation mit der Staatsgewalt filmen und sich selber als die freien menschlichen Subjekte inszenieren, die mit Amtspersonen in Streit geraten, vor denen sie die unsinnigsten Forde- rungen erheben, sie völlig delegitimieren und versuchen, sie mit ihrer schrägen Logik in die Ecke zu treiben. Zugleich ist das für diese Szene auch wiederum wunderbares Unter- haltungsmaterial, das goutiert und gefeiert wird. Es gibt eine sehr schöne Aufzeichnung von einem Workshop, den Adrian Ursache gegeben hat. Adrian Ursache war einmal Mister Germany und ist dann Reichsbürger-Souveränist geworden. Hier wurde er wiederum berühmt dadurch, dass er vom SEK niedergeschossen wurde, nachdem er versucht hat, sein Haus, das gepfändet werden sollte, gemeinsam mit anderen Leuten zu besetzen. Als die Polizei kam, um ihn rauszuholen, und er mit einer Waffe rumgefuchtelt hat, hat er sich dafür ein paar Kugeln eingefangen. Von ihm gibt es also eine Aufzeichnung, die ihn bei der Durchführung eines Workshops zeigt, den er gegeben hat, nachdem er in der Reichsbürger*innen-Szene berühmt geworden ist, weil er genau mit dieser Art von Reichsbürger*innen-Theater zuvor vor seinem Gartenzaun einen Gerichtsvollzieher und ein paar Polizisten vermeintlich in die Flucht gejagt hat, indem er sie so lange zutextete, bis sie abzogen. Das war der große Beweis dafür, dass es geht – man muss nur genug magische Formeln wieder- holen und dann geht die Polizei irgendwann einfach. In seinen Workshops hat er nun versucht, diese magischen Formeln auch anderen Leuten beizubringen. In einem dieser Workshops sagt er: «Schaut, es ist alles nur ein Spiel. Es ist wie im Werbespot von Manuel Neuer, der sagt: ,Wenn du willst, bin ich nicht mehr deine Freundin, dann bin ich Manuel Neuer‘» – oder andersrum, das weiß ich jetzt auch nicht mehr. Und genauso könne er sich auch hinstellen und sagen: «Ich bin Angela Merkel und das ist jetzt so.» Es kommt für ihn lediglich darauf an, Authentizität durchzuziehen: «Ich bin jetzt nur noch Mensch und frei und unabhängig.» Daher könne jeder Mensch innerhalb des Umfelds von Ämtern und Staatsvertreter*innen immer entscheiden: «Spiele ich mit oder spiele ich nicht mit.» Denn unsere Souveränität entstehe dadurch, dass wir Kontrolle darüber erlangen, ob wir spielen oder nicht spielen. Das heißt, ich bin jetzt keine «Person» mehr und leg das einfach ab und bin nur noch ich, oder ich bin jetzt doch wieder Person – aber darüber entscheide einzig und allein ich. Und das ist eine sehr wirkungsvolle Handlungsweise.
TO: Und diese Person, die ich dann vorgebe zu sein, bin natürlich auch nicht ich, sondern eine Rolle, die anzunehmen ich mich entschieden habe.
AV: Ja, oder ich nehme eine an und sage: «Jaja, genau der bin ich», und eine Sekunde später sage ich: «Ach nee, der bin ich doch nicht. Das ist nicht mein Name, mein Name ist ein ganz anderer.» Das ist eine extreme Form von Theater – aus der Rolle fallen, in eine andere hinein, selbst Regie führen. Während gleichzeitig in dieser Szene – aber nicht nur dort – eine unglaubliche Abschätzigkeit gegenüber allen Theaterbegriffen vorherrscht, denn «Theater», das ist die Politik, das Polit-Theater, die Politikdarsteller*innen, die gewählten Politiker*innen. Der Theaterbegriff wird die ganze Zeit benutzt, um die eigene Verachtung gegenüber der parlamentarischen Demokratie zu erklären und sich selbst als das authentische Volk zu reinszenieren. Und gleichzeitig spielt man, dass sich die Balken biegen, ohne das so zu benennen.
TO: Wenn ich alte News & Stories-Sendungen von Alexander Kluge anschaue, in denen sich Helge Schneider eine Kapitänsmütze aufsetzt und einen U-Boot-Kommandanten spielt, der die Fragen von Alexander Kluge zum U-Boot-Krieg im Ersten Weltkrieg beantwortet, hat das natürlich auch etwas davon. Das ist ein vor allen Augen absurdes und trotzdem geistvoll oder befreiend wirkendes Theaterspiel, aber mit dem Unterschied, dass der Rest der Wirklichkeit nicht denunziert wird. Für die Reichsbürger*innen ist das eigentliche Theater hingegen der gesamte politische und administrative Alltag unseres Landes. Und Leute wie Adrian Ursache sind sich darüber im Klaren, dass ihr Reichsbürger*innen-Theater ein Trick ist, mit dem man die amtliche Öffentlichkeit verblüffen und sich Freiräume verschaffen kann. Das ist schon eine unglaubliche Reflexion von dem, was Leben an sich ist – eben ein viel größeres, unendliches Spiel.
AV: Was die Reflexion begrenzt, ist jener Glaube, dass die eigenen magischen Formeln wirklich griffen und man irgendwann gewänne. Man könnte quasi allen anderen diktieren, was die Wirklichkeit sein soll. Und das funktioniert eben nicht.
TO: Das ist der eigentliche Unterschied zwischen Leuten wie Helge Schneider und Adrian Ursache.
AV: Aber die Einführung von derart magischen Praktiken ist die konkrete politische Strategie, die in dieser Szene entwickelt wurde. Sie wurde deren Beitrag zur politischen Praxis. Und sie beinhaltet, dass man in einer Diskussion mit anderen Leuten enorme Vorteile erzielen kann, wenn man einfach eine andere Realität behauptet, unsinnige Formulare verlangt und sagt: «Nein, aber da muss eine Unterschrift sein, das ist ja nur ein Stempel, dann ist das nicht gültig.» Oder man sagt: «Nein, ich brauche einen Fingerabdruck mit blauer Tinte. Tut mir leid, so ist das nicht gültig, da kann ich Ihnen nicht helfen.» Oder: «Nein, das ist nicht mein Name, der steht da nur.» Mit solchen Manövern ist es ziemlich lange Zeit gelungen, Vertreter*innen der Exekutive komplett zu verwirren und zu entwaffnen, weil sie darauf angewiesen sind, dass die anderen nach ihren Regeln spielen.
TO: Das delegitimiert die andere Seite vollkommen. Während Theater ja auch viel mit Legitimation zu tun hat: Ich bin auf der Bühne jetzt ein anderer und ihr im Saal gestattet mir das – diese Erlaubnis ist die Grundlage jeder Aufführung im Stadttheater.
AV: Ja, genau. Aber an die Kraft dieser Delegitimierung über den Moment hinaus wird in dieser Szene geglaubt, das ist die Schwäche des Ganzen. Man hat den Staat ausgerufen und erklärt die Polizei jetzt für aufgelöst, aber dann kommt sie trotzdem und verhaftet einen, und man kann nichts dagegen machen.
TO: Reichsbürger*innen funktionieren, bis es zur Probe aufs Exempel kommt. Oder die Wirklichkeit blutet irgendwann wirklich.
AV: Es sind ja auch Leute gestorben. Oder – und das ist, glaube ich, letztlich die Idee und deswegen gibt es diese enorme Aktivität und Propaganda – man überschreitet irgendwann so etwas wie eine kritische Masse. In den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen waren viele Reichsbürger*innen vertreten. Es geht einfach darum, dass genug Leute die eigene Fiktion glauben. Und das verbindet sich sehr gut mit QAnon – wenn die Masse groß genug ist, dann ist der Staat einfach da und real, sobald er ausgerufen wird.
TO: Das heißt, es wächst mitten in unserer Republik eine Theaterrepublik heran, die sich nicht mehr als Teil des offiziellen Landes begreift, sondern das offizielle Land als Theater begreift und gar nicht mehr ernst nimmt, also für nicht mehr legitim erklärt.
AV: Ja, genau. Das Gute ist: Dadurch, dass in der Reichsbürger*innen-Szene alle selber gerne Führer*in sein wollen, entsteht ein neo-historisches Deutschland, ein
Flickenteppich von lauter sich überlappenden kleinen Staaten – oder auch großen Staaten –, die sich gegenseitig ihr Territorium streitig machen, weil alle wollen, dass ihr Staat der richtige ist. Das vermindert die Gefahr, weil sich diverse Reichsbürger*innen und Reichsregierungen ständig untereinander bekämpfen. Aber was man daraus lernen kann, ist die reale Wirkung, die der Glaube an die Macht der Fiktion und von theatralen Akten haben kann.
TO: Sie haben vorhin beschrieben, dass es QAnon gelungen ist, anschlussfähig für diverse Verschwörungstheorien zu werden, was das Spiel auf eine ganz andere Ebene gehoben hat. Wenn es diese Person gibt, die das Diverse, dieses Pluriversum unterschiedlicher Verschwörungstheoreme und Stimmen zusammenfasst wie dieser ominöse Q, und er zum Beispiel den Flickenteppich der Reichsbürger*innen in eine größere Narration integriert, kann es doch sehr gefährlich werden.
AV: Ja.
TO: Wenn all diese «natürlichen Personen», «Selbstverwalter*innen» und Querdenker*innen auf Q’s Fragen reagieren würden und anfingen, ihre Recherche entsprechend diesem master script auszuführen, wäre das gefährlich.
AV: Ja. Andererseits sind ganz normale Bürger*innen ja auch gefährlich, wenn sie die richtige Erzählung bekommen.
TO: Zum Beispiel?
AV: Naja, auch bei den Nazis bestand der Großteil der Basis ja nicht aus gefestigten Verschwörungsideolog*innen, sondern eben aus dem Volk. Ich glaube, wenn es erst mal den richtigen Rahmen gibt, liegt das Mobilisierungspotenzial noch ganz woanders. Aber es gibt zumindest aktuell sehr diverse Szenen politischer Unzufriedenheit mit unterschiedlichen Graden von Organisation. Und die zusammenzufassen, verleiht ein großes Potenzial an Macht, das glaube ich schon. Und vielleicht ein größeres als das Potenzial, über den offiziellen demokratischen Weg zu gehen. Gerade in Deutschland, wo es eine Menge Schutzmechanismen dagegen gibt. In den USA hatte Trump es ja schon geschafft, relativ viele Mechanismen auszuhebeln, weil seine Partei so froh war, den Präsidenten zu stellen. Bis zu dem Punkt, an dem viele Leute in der eigenen Partei – zumindest sagen sie das selber so – erklärtermaßen aufgewacht sind und spätestens aufgrund der Bilder vom erstürmten Kapitol sagen: «Meine Güte, es könnte sein, dass der das tatsächlich ernst meinte mit dem Putsch, und auch das, was er vorher gesagt hat, vielleicht meinte er das ja wirklich.» Ich fürchte allerdings, dass dies kein nachhaltiger Lerneffekt sein wird. Es ist eine beunruhigend persistente Eigenschaft von vielen Menschen, dass sie Faschist*innen nicht glauben, was sie sagen. Sie denken: «Die meinen das nicht so.» Das war in der Berichterstattung vor Hitlers Machtergreifung bereits genauso – exakt in der Form, in der man es wieder hören kann. Inklusive des Glaubens, es gäbe Momente, in denen Leute, die faschistische Versprechen machen, sich «entlarven» und deswegen ihre Attraktivität verlieren würden. Auch eine Theatermetapher. Es wird dabei vernachlässigt, dass Faschismus – je nachdem, wie die historische Situation ist – für sehr viele Menschen auch eine attraktive Option sein kann.
TO: Wie schätzen Sie die medialen Fähigkeiten der Reichsbürger*innen ein? Ist das vergleichbar mit der Attraktivität von QAnon?
AV: Es ist sehr viel diffuser und unorganisierter, aber es gibt eine eigene Sprache und es gibt auch gewisse Regeln und eine große Hartnäckigkeit, das eigene Paralleluniversum scheinbar größerer Selbstmächtigkeit nicht mehr zu verlassen. Und es gibt einen regen Transfer aus den USA in den deutschsprachigen Bereich, was den Souveränismus angeht. In den USA nennen sich die Leute, die sich auf das «Naturrecht» berufen, sovereign citizens.
TO: Schillers «Don Carlos» handelt eigentlich durchgehend von der Differenz zwischen dem, was man damals pathetisch als den Menschen entdeckte, der in jedem Katholiken, Protestanten, Bürger, Aristokraten, Niederländer oder Spanier gleichermaßen vorhanden ist, also in dem, was in der Reichsbürger*innen-Szene als Ebene der bloßen «Person» abgelehnt wird. Schon seltsam, in welch traves- tierter Form das wiederkehrt. Für Schiller ist eine der großen Fragen ja die, wie man unter all den Höflingen und Rollenspieler*innen am Hof, in der Kirche und auf dem erotischen Parkett einen Menschen entdecken kann. Denn wenn man den Menschen in der Person zum Vorschein bringt, kann man zum Beispiel auch Frieden schließen zwischen Katholiken und Protestanten. Don Carlos’ Vater, König Philipp, fragt ihn spöttisch, ob er ihm denn wenigstens einen Menschen an seinem Hof zeigen könne. Für ihn gibt es da nur Höflinge im unguten Sinne. Der «Mensch» ist bei Schiller unlösbar mit Pathos verbunden. Er entwickelt in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung sogar die Idee eines idealen Staates, der zur Befreiung des Menschen durch die Mittel der Kunst beitragen soll. Diese Idee des «Menschlichen» war einmal sehr progressiv besetzt.
AV: Ja. Es ist ein bisschen deprimierend, dass momentan die rechten oder reaktionären Kräfte so viel erfolgreicher damit sind, die Resterampe der Ideen zum Rohstoff ihrer politischen Bewegung zu machen. Es könnte ja auch die Linke sein, aber irgendwie kriegen die das gerade nicht so gut hin. Obwohl ich selbst diesem «Menschen»-Idealismus auch nicht viel abgewinnen kann. Mich hat es immer eher genervt, wenn das Theater sich überanstrengt, um diese Fiktion auf der Bühne zu dramatisieren. Aber lieber im Theater als vor dem Reichstag.
TO: In Ihrem Film beschreiben Sie, wie QAnon von der Spiritualität bis zum Staatsstreich alles innerhalb eines verschwörungstheoretischen Widerstandsszenarios vereint, das sich gegen Aufklärung völlig abdichtet. Ich war schockiert von den Bildern der Erstürmung des Kapitols – nicht weil die Täter*innen so surreal anmuteten, sondern im Gegenteil: Da gab es diese Milizentypen, aber auch die Hipster und Leute, die aussehen wie Performancekünstler*innen. Es ist keine Loser-Szene, die da aufmarschiert. Ähnlich wie bei den deutschen Hygienedemos.
AV: Das stimmt.
TO: So viel Theater war nie.
AV: Die Hygienedemos, also die tatsächlichen Hygienedemos von «Nicht ohne Uns» und der «Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand», sind ja nicht zufällig zuerst vor der Volksbühne in Berlin aufmarschiert, sondern teils als Theatermachende einige Jahre vorher bei der Besetzung des Hauses mit dabei gewesen. Die sind also natürlich mit einem Theaterbewusstsein aufgetreten.
TO: Bei den «Staub zu Glitzer»-Leuten kann ich mir das schwer vorstellen.
AV: Die haben sich recht schnell von diesem kleinen Flügel distanziert, der bei den Hygienedemos beteiligt war. Nichtsdestotrotz – das ist jetzt ein bisschen despektierlich, aber ich war bei der Volksbühnenbesetzung 2017 vor Ort, als wir gerade an dem Reichsbürger*innen-Stück gearbeitet haben, und habe da ein bisschen mitgefilmt und mir das angeschaut und fand es frappierend, weil es so ähnlich war.
TO: So ähnlich mit den Reichsbürger*innen?
AV: Genau. Die Proklamationen, diese Kultur der Ausrufung und so eine seltsame Besetzung – auch im psychologischen Sinne – des Gebäudes und der Glaube daran, mit der Ausrufung von etwas anderem wäre jetzt schon die Wirklichkeit verändert. Und dann an der tatsächlichen politischen Realität zu scheitern und sich einwickeln zu lassen, um mit dieser Besetzung so kläglich zu enden – das hatte ein ähnliches Feeling. Andere Motive, andere politische Zusammensetzung, aber die Stimmung war ähnlich. Natürlich lange nicht so krass wie bei der Erstürmung des Kapitols. Dort hatte man bei manchen Leuten das Gefühl, dass sie komplett in einem ganz seltsamen Film sind und überhaupt nicht verstehen, was sie da gerade tun und was passiert. Aber es lag eine ähnliche Stimmung in der Luft. Und vielleicht vermittelt das zumindest eine Ahnung oder einen Geruch davon, dass sich in unserem Verhältnis zur politischen Wirklichkeit oder in der Art und Weise, wie wir in Aktion treten, gerade etwas ganz grundlegend verändert – unabhängig von politischen Ambitionen. Wobei ich glaube, dass die politische Rechte sich damit leichter tut, weil sie in den meisten Fällen ein instrumentelleres Verhältnis zur Wahrheit hat.
TO: Wutreden von Menschen, die sich im Netz über etwas aufregen, sind ein Theater, das von vielen Menschen leidenschaftlich angenommen wird. Sie haben in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass politische Propaganda im Netz immer auch eine Form von Entertainment-Charakter besitzt, da sie sich auf Platt- formen abspielt. Sie spricht Leute direkt an, wirbt um deren Aufmerksamkeit und Likes und will sie auf eine emotionale Reise mitnehmen, für die man den Anlass schaffen muss. Diese Reise ist in der Regel ein geschickt produzierter Flow von Bildern und Informationen, der unterhält, aber auch tödlich enden kann, wenn die ultimative Unterhaltung das ist, was kein Spiel mehr ist. Sie beschreiben diese Verschiebung des Entertainments ins Tödliche als eine Weiterführung der digitalen hate speech als live gefilmte Anschläge oder Amokläufe in der analogen Welt. Diese ultimative Variante des Spiels kann man eigentlich gar nicht Amoklauf nennen, sondern mediales Mordtheater. Anschläge wie von Stephan Balliet auf die Synagoge in Halle werden im Internet für Menschen aufgeführt, die live verfolgen, wie man das in der echten Welt tut, mit Helmkamera und bereits vorher gebasteltem Soundtrack. Was zu einer sehr problematischen Form von Zeug*innenschaft führt. Was bedeutet das für ein Theater, das so direkt mit dokumentarischem Material arbeitet?
AV: Die Frage, was man repräsentiert, zu welchem Zweck und für wen – und repräsentiert auch in dem Sinne, dass man etwas reproduziert, das bereits woanders politische Ziele hatte, die ganz andere sein können –, ist eine Frage, die man immer wieder neu anschauen und beantworten muss. Ich glaube, dass sich mit der Zeit ändert, welche Entscheidungen man trifft und welche nicht. Bei Milo Rau war es ja die Schauspielerin, die die Distanz zum Text hergestellt hat oder zumindest herstellen sollte. Es hängt auch vom Kontext und dem Publikum ab, ob solche Distanzierungen gelingen oder nicht – und darüber wird wahrscheinlich auch immer gestritten werden.
Wir haben, nachdem wir ein Reichsbürger*innen-Stück gemacht haben, eine Gastspiel-Anfrage aus Bautzen bekommen. Bautzen ist eine Stadt, die in mehrfacher Hinsicht akute politische Probleme hat, auch mit Reichsbürger*innen-Ideologie. Ich habe damals schweren Herzens eine Absage geschrieben, in der ich sinngemäß sagte: «Wir haben dieses Stück für ein Publikum in einem Berliner freien Theater entwickelt, bei dem wir ziemlich genau wissen, wer da hinkommt und wer nicht. Unser Stück besteht nur aus Originalmaterial, das collagiert wurde, und rechnet damit, dass das Publikum eine kritische Distanz zu den Materialien einnimmt und vielleicht eher den beunruhigenden Effekt erlebt, dass ihnen manche Dinge, die gesagt werden, gar nicht so fremd sind. Es ist für einen Ort geschrieben, an dem Theater eher eine Art Verständniskunst betreibt, was aber für ein Publikum in einer Stadt, wo die Hälfte der Leute mit diesen Ideen sympathisiert, eine grandios falsche Aktion wäre, denn dort bräuchten wir ein völlig anderes Stück.» Ich denke also, man muss nicht nur klären, was man produziert und reproduziert, sondern auch für wen und was die Vorannahmen über das Publikum sind – weil diese zwangsläufig eine Auswirkung darauf haben, wer ein Stück zu sehen kriegen wird und wer nicht. Weil all die Leute, mit denen man nicht rechnet, dann auch nicht kommen werden. Oder erst recht – aber als Feinde. Das sind Überlegungen, die man, wenn man mit dokumentarischem Material umgeht, vor allem dann immer wieder anstellen muss, wenn man den Anspruch hat, das Material als Dokument mit nicht zu viel Wertung zu versehen, wofür es gute Gründe geben kann.
Manchmal mag Agitprop-Theater das Richtige und Nötige sein. Aber Theater kann auch ein Raum sein, in dem Dinge befragbar werden, in dem man es erst mal eine Weile aushält, dass man nicht genau weiß, was man davon hält. Politische Haltung soll ja kein Reflex sein, sondern auch Ergebnis von Reflexion. Dadurch dass die politische Belagerung oder zumindest die Belagerungsmentalität in der letzten Zeit zugenommen hat, werden diese offenen Räume gefühlt seltener. In dieser Situation kann Kunst ein Raum sein, in dem man sich ein bisschen freischaufeln kann, obwohl es kein unpolitischer Raum ist. Welche Politiken hätte Kunst in diesem Zusammenhang anzubieten? Über solche Politiken nachzudenken, muss on the fly bei der Arbeit stattfinden. Manchmal gelingt das, manchmal nicht.
Arne Vogelgesang recherchiert seit mehreren Jahren intensiv zu rechten Netz-Communitys, die sich auf digitalen Plattformen wie Reddit oder 8chan organisieren, austauschen und einen gemeinsamen Nenner in verschwörungstheoretischen, demokratiefeindlichen und misogynen Ideologien finden. Die Vernetzung und Politisierung von Gruppen wie den Reichsbürger*innen oder dem QAnon- Netzwerk hat die Grenzen des digitalen Raums längst verlassen und wirkt in die analoge Gegenwart zurück: Attentate, Demonstrationen und Angriffe auf staatliche Institutionen wie das Washingtoner Kapitol oder den Berliner Reichstag im Zuge der Corona-Proteste sind die medienwirksame Spitze eines Eisberges, der sich aus den Echokammern und Filterblasen des Netzes und der sozialen Plattformen erhebt. Arne Vogelgesangs Interesse an diesen Gruppen und Phänomenen reicht über deren politische Implikationen hinaus: Er betrachtet sie aus einer theatralen Forscherperspektive. Denn Rollenspiel, Inszenierung, Narration und ästhetische Transgression sind Kategorien, ohne die ein Phänomen wie QAnon, das einem überlebensgroßen, labyrinthischen Live-Rollenspiel gleicht, nicht auskommt. Gerade der Spielcharakter ist für viele dieser Gruppen zentral, unabdingbar und gemeinschaftsstiftend: Sei es die aggressiv-misogyne «Flirttechnik» der sogenannten Pick-up-Artists, die nach einer konkreten Handlungsanleitung agieren, oder die Schnitzeljagd der Q-Anhänger*innen nach der Super-Weltverschwörung, die sie immer tiefer in ihre wahnhafte Fiktion treibt – Phänomene wie diese lassen sich als alternative Theaterkonzepte begreifen und lösen unser herkömmliches Verständnis von «Bühne» auf.
In Vorträgen und Bühnen- und Film-Essays arbeitet sich der Regisseur und studierte Ethnologe Arne Vogelgesang an diesen games ab und sucht nach den Strukturen eines Phänomens, das ohne die Einbettung in den Plattformkapitalismus und die digitale Feedback-Kultur nicht existieren könnte. Nur langsam baut sich in unserer Wahrnehmung des zeitgenössischen Theaters ein neues Verständnis davon auf, was in diesem Kontext heute eine Figur, ein Stoff und eine Vorstellung ist, denn all dies verändert sich durch die Erfahrungen im Netz und in digitalen Spielwelten.
Ein Beispiel für andere Betrachtungsweisen und andere Quellen des sozialen Rohstoffs, aus dem Theater heute entsteht, beschreibt Arne Vogelgesang in seiner Auseinandersetzung mit dem theatralen Milieu der Reichsbürger*innen und ihrem Versuch, mitten in unserem Land eine «Theaterrepublik» zu gründen, also einen von ihnen selbst ausgerufenen Staat, den sie mit Theatermitteln inszenieren und für «echt» halten, weil die Reichsbürger*innen die politische Realität der Bundesrepublik ihrerseits für Theater halten. Vogelgesang entdeckt in diesen Netz-Milieus neue Figuren wie «natürliche Personen», «Selbstverwalter*innen» oder «Querdenker*innen», die spezifischen Narrationen und Spielszenarien folgen, ohne sie selbst für ein Spiel zu halten. Seine Theaterprojekte bringen die Theatralität dieser Videodokumente auf der Bühne wieder in eine Verbindung mit dem physischen Körper des Performers. Über seine Entdeckungen im Reichsbürger*innen und QAnon-Milieu der Netzcommunities sprach ich mit ihm für unser Buchprojekt «Hybrid-Theater» (Theater der Zeit, 2022).
«Hybridtheater», Theater der Zeit, Berlin 2022