«Ein Theater neuen Typs»
Vortrag in Hildesheim
von Thomas Oberender
(…) Die Unterscheidung zwischen «traditioneller» und «freier Szene» macht kulturpolitisch keinen Sinn mehr, denn beide produzieren «Hochkultur», wenngleich dann doch noch gravierende Budgetunterschiede in den Spielräumen zwischen den klassischen Institutionen und denen neuen Typs bestehen. Der Geist des «Projekts» aber hat beide erfasst, ob aus Not oder Überzeugung. Hinter dem «Projekt» steht der Gedanke einer forschenden Eroberung. Das Projekt, und mit ihm verbunden die Idee des Festes, der Kreation, ist die Kulturform einer deregulierten Gesellschaft. Projekte versprechen Pioniergeist. Das Projekt will Erschließungsarbeit im Feld des Neuen leisten. Das Projekt ist Idee, die Tat wird. Das Projekt beruht auf der Verwirklichung des freien Individuums. Es beruht auf seiner Innovationskraft. Es beruht darauf, dass dieses Individuum souverän ist, sich selber die Form zu geben und seine Rolle selbst zu definieren, bzw. mit ihr zu spielen. Was zum Gegenstand, zum Material der Kunst wird, folgt dabei in der Logik des Projekts nicht mehr den Kriterien, die in den traditionellen Institutionen unseren Begriff vom Werk, vom Politischen, von Können und Qualität prägten. Obgleich diese traditionellen Institutionen im Grunde nach wie vor die Interpretation präexistenter Werke leisten, öffnen sie sich den neuen Werkformen und damit verbundenen Produktionsbedürfnissen. Die großen Theater und Opernhäuser kooperieren längst mit freien Ensembles, ziehen in Industriehallen, arbeiten konstant mit Gästen, öffnen sich der Kreation und anderen ästhetischen Disziplinen.
Das «Projekt» folgt dem Geist des neuen Kapitalismus und merkantilisiert bislang geschützte Bereiche des menschlichen Lebens wie den der Freundschaft, der Kommunikation, der Biologie. All dies wird «Ressource» und integriert in die zweite Landschaft des Netzes, einer Landschaft, die wir inzwischen genauso real bewohnen wie die terrestrische Welt und in der die gleichen Verteilungskämpfe, Kolonialisierungs- und Monopolisierungsbewegungen stattfinden. Die großen Projekte unserer Zeit, von der Entzifferung des menschlichen Genoms bis zur Totalkartografierung der Erde, der Bestände unserer Bibliotheken und Museen oder der privaten Familienalben, all das hat «uns» als Ressource im Blick, uns als «Projekt».
Zum Projekt gehört der Glaube an die Individualität und ihren Wert, der Innovation, der Originalität, eben weil das «Projekt» schaffen muss, was es an Vorlagen entbehrt und neuer Klassik erst schafft. Originalität ist so das Wort für den neuen Gehorsam. Michael Stallknecht zitierte unlängst in der Süddeutschen Zeitungden Soziologen Joachim Fischer mit der Bemerkung, die ««Avantgardekunst» fungiert als «Anschauungsschule für die Individualisierung der Lebensverhältnisse und Lebensstile» , d.h. das Bürgertum hält sich durch «systematischen Nonkonformismus» fit. Indem die Regisseure noch im kleinsten Stadttheater sich als originell verstehen, heißt das, sie bilden gerade das Rollenmodell der theaterbesuchenden Schicht. Die so genannte Freie Szene bildet erst recht keine Opposition, weil sie sich unmittelbar bei den Kommunen um Gelder bewirbt, die das Innovationskriterium als einziges messbares in sämtlichen Förderrichtlinien vorschreiben.»
Eine solche auf das - unstillbare - Ziel der Innovation abgestimmte Gesellschaft modifiziert also ihre klassischen Institutionen in der projektbezogenen Weise, bzw. bringt einen neuen Typus von Institution hervor. Diese neuen Institutionen neuen Typs haben in der Regel flache Hierarchien und kurze Entscheidungswege. Sie sind, verglichen mit den klassischen Institutionen, transparenter im Gefüge und oftmals geradezu angewiesen auf Partizipation. Transparenz und Partizipation – das sind die Leitworte des letzten, vielleicht noch aktuellen Kulturwandels. Ihr Leitmedium ist das Internet und eine neue Form von Wirtschaften, die in einem Moment, da es kaum noch ein Realwachstum gibt, unsere menschlichen Beziehungen ökonomisiert – nie ging die Gesellschaft tiefer unter die Haut und wurde der Mensch neben seiner Physis auch psychisch derart zur Ressource. Für den in China unter Hausarrest gestellten und vom Staat ausspionierten Künstler Ai Wei Wei ist «Transparenz» jener emanzipatorische Begriff, der an die Stelle von «Freiheit» getreten ist. Ich bin mir da nicht mehr sicher. Partizipation und Transparenz sind Begriffe, die unter dem Vorzeichen der Befreiung neben emanzipativen Effekten auch eine forcierte Form der Kontrolle menschlichen Lebens befördern. Und das schlägt sich in den Veränderungen unserer Institutionen nieder. Soziale Netzwerke kommerzialisieren das Feld der Privatsphäre, die Psychokontur von Kindern wird medikamentös optimiert und die der Erwachsenen durch Coachings modelliert. Das weiße Rauschen unserer Datenspur im Netz ist der Rohstoff der nächsten technologischen Revolution und sie wird uns zum Gegenstand haben. (…)