«Manufaktur Volksbühne»
Die Volksbühne war eine Bewegung, bevor sie ein Theater wurde. Bevor sie eine Spielstätte wurde, war sie bereits eine Institution und das unterscheidet sie von anderen Stadttheatern. Bevor die Volksbühne ein eigenes Haus unterhielt, mietete sie für ihre Aufführungen die verschiedensten Bühnen Berlins an, um hier ihr geschlossene Vorstellungen für ihre Mitglieder zu zeigen. Dieses neue Publikum sollte sich an und durch neue, zeitgenössische Stücke und Aufführungsstile bilden – durch einen Spielplan, der von keinem Intendanten beschlossen wurde, sondern von einem künstlerischen Ausschuss, der engen Kontakt mit den Volksbühnen-Mitgliedern hielt.
Die Volksbühnenbewegung kann man in ihrer Entwicklung gut mit der Entwicklung verschiedener Arten von Bürgerbewegungen vergleichen, die, von der westdeutschen Friedens- und Umweltbewegung bis zur oppositionellen Bewegung der DDR, von aktivistischen Kreisen gegründet wurden und zur Gründung von Institutionen führten. Wie für Die Grünen wird es immer eine Erinnerung an diese Gründung als Bewegung geben und eine Rivalität zwischen deren Idealen und der pragmatischen und geronnenen Intelligenz, wie sie in den Strukturen von Institutionen überdauert. Insofern hat auch die Diskussion über die Volksbühne heute immer zwei Ebenen: Jene der Bewegung und die der Institution. So kann die Kulturpolitik heute die Institution retten, aber wenn es ungut läuft, den Geist der Bewegung zerstören. Beides kann, aber muss nicht deckungsgleich sein.
Als zu Beginn der 90er Jahre die Volksbühne abgewickelt werden sollte, war es der Widerstand der mehrheitlich ostdeutschen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und die von ihnen öffentlich geführte Debatte um das Projekt und die Geschichte ihres Theaters, die das Blatt schließlich wendete und die Berufung Castorfs als Intendanten ermöglichte. Natürlich gab es innerhalb der Volksbühnengeschichte am Rosa-Luxemburg-Platz auch Phasen, die künstlerisch eher trübsinnig waren, kaum der Nachrede wert. Aber jene fruchtbaren Intervalle – geprägt von Piscator, Besson oder eben die langen letzten sechsundzwanzig Jahre mit ihrem belebenden Auf und Ab unter den drei Buchstaben OST – haben über die Jahrzehnte hinweg letztlich ein Zusammengehen von Projekt und Institution demonstriert, das viel mit dem Ursprungsgeist der Volksbühnenbewegung zu tun hat.
Bei den anhaltenden Debatten über die Zukunft der Volksbühne stellt sich immer wieder die Frage, aus welchem Geist heraus gerade geplant und gehandelt wird – geht es eher um die Rettung der Institution, was nahe liegt, wenn von Konsolidierung und Stabilisierung gesprochen wird, oder geht es um die Rettung eines Projekts, das in anderen Kategorien operiert – in Begriffen wie Geschichte, Gegenkraft oder Glamour, was auch anklingt, wenn alternative Leitungsformen diskutiert werden, neue Wege der Entscheidungsfindung und Beratung bei der Intendantenberufung, die Forderungen nach Transparenz und einer Öffnung für die Stadtgesellschaft.
Julius Bab, einer der führenden Köpfe der Volksbühnenbewegung, der in den zwanziger Jahren deren «Dramaturgische Blätter» herausgab, zählte die Gründung der Volksbühne zu den wichtigsten kulturellen Ereignissen des späten 19. Jahrhunderts, da hier zum ersten Mal das Publikumorganisiert wurde – es war ein neues, bisher theaterfremdes Publikum, das sich aus eigenem, freien Willen zusammenschloss[1]. Durch diese Bürgerbewegung sich gerade verbürgerlichender Arbeiter wurde die Volksbühnenbewegung schließlich in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zur größten Theaterbesucherbewegung der Welt, die in Westberlin noch bis in die 90er Jahre hinein ein eigenes Haus unterhielt. Zu den Kernideen dieser Volksbühne gehörte von Beginn an die Heranbildung eines «vorurteilslosen Verständnisses moderner, d.h. aus unserer Zeit heraus geborener Dramatik und Bühnenkunst.»[2]1890 im stuckverzierten Saal des Böhmischen Brauhauses in der Landsberger Allee im Osten Berlin gegründet, ging es bei der Volksbühne also von Anbeginn um mehr als nur um gutgemachtes Theater: Es ging um Meinungsfreiheit, Selbstentfaltung, um andere gesellschaftliche Organisationsformen und Neue Kunst. Die Konstruktion als Verein entzog die geschlossenen Vorstellungen der Zensur des Kaiserreiches, da sie nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung durchgeführt wurden. Dieser marktferne Charakterzugwar entscheidend für eine Form von Theater, das, so Julius Bab, «kein Geschäft» sein dürfe, sondern «ein soziales Unternehmen» darstellt und daher nur von «der Gemeinschaft wesensgemäß organisiert werden kann». So erschien es den Volksbühnengründern notwendig, «soziale Formen der Führung des Theaters zu finden und durchzusetzen»[3].
Nach dem Scheitern der kollektiven Mitbestimmungsmodelle in den 60er und 70er Jahren am Theater Frankfurt und der Berliner Schaubühne sind mir keine Versuche, große Betriebsstrukturen kollektiv zu programmieren, mehr bekannt. Um so verblüffender ist, dass dieses Arbeitsmodell aus der Geschichte der Volksbühne, die oft nur als Geschichte der großen Autoren- und Regienamen erzählt wird, weitestgehend ausgeblendet wird. Die Volksbühnenbewegung wollte nicht nur die Stoffe und Erzählformen des Theaters revolutionieren, sondern hielt in ihrer Gründungsphase auch einen kollektiven Betriebsmodus für unverzichtbar. Sie blieb der Idee verpflichtet, eine neues Publikumzu prägen – ein Publikum, das der Vorschein einer anderen, künftigen Gesellschaft sein sollte, die man im Labor des Theaters testweise formieren und erleben konnte. Und so empfand die Volksbühne ihren eigenen Organismus als ein soziales Unternehmen, eine Testgesellschaft im Kleinen – etwas, das auch heute noch spürbar ist im Geist der Belegschaft, wie sich in ihren Wortmeldungen in der Intendanz Dercon zeigte.
Aber wie zahm und betriebsbedingt denken wir heute über die Zukunft der Volksbühne nach, wenn wir sie mit ihrem experimentellen Ursprung vergleichen. Die ursprüngliche Konstruktion der Volksbühne, die sich ja einer Initiative von Arbeiterlesevereinen, Sozialdemokraten und Mitgliedern freier Gewerkschaften, Intellektuellen und Dichtern verdankte, diente – in den Worten Franz Mehrings – «der Selbstbefreiung und Selbsterziehung der Arbeiter»[4]. Und das beförderte sie bereits in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mit der Herausgabe von Zeitschriften, durch Führungen in Kunstausstellungen, durch Vorträge, Leseabende, Kleinkunst- und Filmveranstaltungen, Studio- und Konzertveranstaltungen. Wer immer sich an die Volksbühne von Castorf und Bert Neumann, Schlingensief und Pollesch, Marthaler und Kresnik, Fritsch und Ragnar Kjartanson erinnert, wird sich an das durchgehende Leuchten und Senden dieses Hauses auch noch hundert Jahre später erinnern.
Ich glaube, die Volksbühne sucht heute keinen neuen Intendanten, sondern ein neues Projekt. Wenn wir von der Zukunft der Volksbühne sprechen, dann schauen wir nach vorne, und unwillkürlich fragt man sich dann, wo heute «vorne» ist? Fortschritt oder Modernisierung sind Vokabeln und Denkmodelle, die wie die Volksbühnenbewegung aus dem 19. Jahrhundert stammen und heute merkwürdig altertümlich klingen. Dieses Vorwärtsmarschieren, das andere Lebens- und Zeitformen in seinen Takt hineinzieht, erscheint uns heute eher gewalttätig und als Triebfeder der Zerstörung unseres Planeten. Ich denke, dass die jüngere Geschichte der Volksbühne viel damit zu tun hat, dass an diesem Hause immer die Augen aufgehalten wurden nach «Dingen, die der Zeitachse des Fortschritts nicht entsprochen haben und stets übergangen worden sind»[5].
Wer sind denn heute die Bürgerbewegungen in dieser Stadt, welche Gefüge von Text, bildender Kunst, Musik und Tanz bilden heute eine andere Erzählung als die des weißen Westens, setzen andere Akteure ins Recht und finden neue Sprachen? Was sind heute Lebenswelten mit einer anderen Zeitlichkeit, geprägt von anderen Formen der Kollaboration? Wer gründet Institute, Laboratorien, Vereine, die auf die Erfahrung des Prekären anders und frisch reagieren? So wie the institute for political Murder, oder das Institut für politische Schönheit – die Stadt ist voller Zentren für Kunst und Urbanistik, Staub und Glitzer. Warum haben wir, sobald wir aus den Fenstern der großen Apparate blicken, die aus diesen Bewegungen wurden, eher Angst vor solchen Akteuren, wo doch die Volksbühne als Verein der Selbstbefreiung und Selbsterziehung von mündigen Staatsbürgern begann? Ich will das nicht vertiefen, aber Spaß und Sinn macht es schon, hier anzusetzen, wenn man darüber nachdenkt, wo «vorn» ist. Vorn in einer Zeit, da plötzlich konservative Modelle von Identität, Heimat, Kultur wieder zurück weisen, als hätte es die Bemühungen der Volksbühne um die Förderung zeitgenössischer, engagierter und oft auch sperriger Ästhetiken nie gegeben.
Angesichts eines gesellschaftlichen Risses und der Kränkungs- und Enttäuschungsgeschichte des widervereinten Deutschlands wirken die Castorf-Jahre längst als frohe, klare Vorzeit. In diesen 26 Jahre unterm Räuberrad wurde die Volksbühne Deutschlands bestes Beispiel einer gelingenden Wiedervereinigung – unter dem Thema «Ost» arbeitete ein ost-westliches Team und zeigte, dass es besser ist, auszuhalten, dass Zustände nicht eindeutig sind, als sie ideologisch zu begradigen und sich für die Politik nützlich zu machen.
Wie könnte es gelingen, Leute zu finden, die wissen, was das Besondere dieser letzten 26 Jahre war und gleichzeitig ihr eigenes Wissen, ihre eigenen Ziele haben? Die alte Volksbühne hat keine neue Generation hervorgebracht. Das ist einerseits Schade, andererseits eine Chance. Die Volksbühne hat weltweit Schule gemacht, aber der Lehrplan ändert sich. Aus dem «Osten» wurde «Mitte». Die Gegend ist gentrifiziert und der Sex-Shop in der Luxemburg Straße pleite – ein russischer Künstler hat ihn vor der Auflösung gerettet. Wer auch immer die Leitung dieses Hauses übernimmt, sollte nicht selbst zum Revisionisten werden und auch Impulse aufnehmen, die aus der Episode Dercon zurückbleiben – es kamen sehr gute KünstlerInnen, die digitale Bühne, die Präsenz einer jüngeren Generation – auch hieran kann angeknüpft werden.
Wenn man fünf Punkte für die Stellenausschreibung formulieren müsste, so würde zu ihnen aber vor allem zählen, dass es ein Wissen um diese besondere Manufaktur Volksbühnemit ihren Werkstätten und Technikern geben muss, dem enormen Wissen, das hier bewahrt wird; es zählte dazu sicher auch ein notwendiges Bewusstsein vom Leben und der Bedeutung der Salonsder Volksbühne, die viel zum ständigen Leuchten und vitalen Sendebetrieb dieses Hauses beigetragen haben; genauso wie die seltsame, da intellektuelle und zugleich an Geschichten und Gefühlen interessierte Volksnäheder Volksbühne, mit der sich gut vertrug, dass sie den Menschen zunächst erstmal als Abgrund sah und die in der Tat weit entfernt war von der Denkweise von Kuratoren und deren Arbeit an abstrakten Formaten; hinzu kommt die Treue der Volksbühne zu Gegengeschichten, die dem Revisionismus der Sieger entgegen stehen; und schließlich ihr Interesse am Nichteindeutigen– all das sind Werte eines reifen künstlerischen Projekts, das in sich widersprüchlich blieb und weiter bleiben sollte.
[1]Walter G. Oschilewski, Freie Volksbühne Berlin, Stapp Verlag, Berlin 1965, S. 5
[2]Ebd. S. 7
[3]Ebd. S. 5
[4]Ebd. S. 17
[5]Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt, Berlin 2018, S. 37f