«Räume öffnen»
Annette Dabs im Gespräch über Figurentheater mit Thomas Oberender
Annette Dabs: Wie siehst du die Entwicklung des Figurentheaters? Hat es sich mehr etabliert? Hat es sein Image verbessert?
Thomas Oberender: Es ist leider ein etwas unterbewerteter Teil unserer Hochkultur, mit langer Geschichte und aufregenden Beispielen. Während meiner Zeit als Schauspieldirektor in Salzburg habe ich mehrere Produktionen beauftragt und eingeladen, in denen Puppenspiel eine große Rolle spielte. Zum Beispiel der «Sommernachtstraum» mit Hans-Jochen Menzel. Und Nicolas Stemann hat für den Salzburger «Faust» mit Das Helmi gearbeitet. Etwas anderes war die Needcompany, die für Salzburg «Das Hirschhaus» entwickelt hat, eine Aufführung, in der Objekte, Jan Lauwers ist ja primär ein bildender Künstler, eine große Rolle spielen.
Beim Figurentheater gibt es aus meiner Sicht zwei Besonderheiten: Das große Format kommt selten vor. Außer Robert Lepage und Philip Genty gibt es wenige Produktionen, die große Häuser füllen. Wobei das auch ein Teufelskreis ist, der viel mit Produktionsstrukturen zu tun hat – das sind eher europäische als deutschsprachige. Und da wird dann doch Figurentheater oft auf eher kleinen Bühnen gezeigt. Das animierte Theater in Frankreich oder in den Niederlanden besitzt aber auch in einer anderen Hinsicht einen ganz anderen Charakter, weil es dort eine anerkanntere Kultur der Kreation gibt. In den deutschsprachigen Ländern ist der Begriff von Hochkultur eng verbunden mit dem Vorgang der Interpretation. Man zeigt den «Hamlet», man zeigt den «Faust» oder das neue Stück von Peter Handke. Großes, seriöses Theater ist hierzulande vorzugsweise Interpretentheater. Und das ist nicht die Domäne von Figurentheater. Figurentheater erfindet sich seine Stoffe und Stücke oft selber. Hochkultur funktioniert in unseren traditionellen Repertoirehäusern aber wie gesagt anders. Weshalb Figurentheater hier all zu leichtfertig als etwas für Kinder und Jugendliche gilt, also eine Form von Nachwuchskultur. Interessanterweise haben nicht einmal Künstler wie Suse Wächter – die sich ja stark über den Puppenbau selbst und nicht als Performer definieren – den Sprung in die Hochkultur geschafft. Obwohl es im Sinne von Skulptur und Plastik etwas unheimlich Faszinierendes ist, was diese Leute herstellen, ist das Level, in das sie mit ihren Produktionen hineinkommen, über ein respektiertes Stadttheater-Niveau nicht hinausgelangt. Aus welchen Gründen auch immer.
Annette Dabs: Das liegt auch daran, dass diese Kunst aus so vielen Einzelteilen besteht. Wenn du nicht die beste Ausbildung genossen hast, die all diese Teile beinhaltet, kannst du das nicht schaffen. Du kannst vielleicht tolle Puppen bauen oder sie wunderbar animieren. Aber du bist vielleicht ein mieser Darsteller.
Es kommt nicht so oft vor, dass ich mich mit jemandem, der nicht aus der Szene kommt, so qualifiziert über diese Sachen unterhalten kann. Die meisten sehen das ganz klein und würden im Zusammenhang mit Figurentheater gar nicht auf so etwas wie Lepage oder Needcompany kommen.
Thomas Oberender: Oder «Kamp» von Hotel Modern, deren Produktionen von Architekten, von bildenden Künstlern entwickelt werden. Da sie aus elaborierten Zusammenhängen kommen, und oft mehrere Kunstformen verbinden, Videokunst, Objektkunst, Figurentheater, Erzählung, haben sie ein Kunstniveau, das unser Stadttheater in den seltensten Fällen erreicht.
Annette Dabs: Du hast «Kamp» damals bei uns gesehen. Wie ist das in Salzburg angekommen?
Thomas Oberender: Phantastisch! Das war ein riesen Erfolg. Das war etwas äußerst Ungewöhnliches. Im Grunde ist das ja eine Form, die Katie Mitchell mühsam mit Schauspielern nachbuchstabiert. Das ist sozusagen die Herstellung eines Films bei gleichzeitiger Offenlegung aller Mittel. Die ästhetische Raffinesse ist vergleichbar mit den Spitzenleistungen des Literaturtheaters. Ich glaube, dass dem Figurentheater gute Zeiten bevorstehen. In dem Moment, da die gesamtkulturelle Entwicklung – und ich denke, dass das in den nächsten zehn Jahren passieren wird – dahin geht, dass die Stadt- und Staatstheaterstruktur hybrider wird und sich kooperativen Produktionsformen öffnet und nicht mehr allein auf exklusive Produktionen hin ausgerichtet ist, werden auch diese Schwellenkünste, wie das Figurentheater – das immer zwischen Schauspiel, Bildender Kunst, Musik, Film liegt – Räume öffnen.
Ich glaube, dass das Figurentheater, wenn wir an Kleist denken, dichter ans Metaphysischen der Kunst gelangt, also des Lebens. Momente der Grazie, Anmut, des Poetischen – im Figurentheater spielen sie stets ganz unvermeidlich mit. Auch wenn alles derb sein kann, der Kasperl, der das Krokodil erschlägt – wir haben es mit Vereinfachungen zu tun, die ein gewisses Schillern erzeugen. Die Gesichter der Puppen sind starr, aber in ihnen ist ein Ausdruck gebannt, der, je nach Haltung, vieles erzählen kann, sogar ganz GegensätzlichesPuppen sind sinnlich, aber auch abstrakt, sie sind Übersetzungen von Realität, es gibt kein Realismusproblem, sie sind die absoluten Geschöpfe. Maeterlinck hat sie den Schauspielern vorgezogen. In der Leblosigkeit der bespielten Plastiken leben ja unsere Phantasie und unser Mitgefühl erst richtig auf. In der unmittelbaren Begegnung mit einer Puppe kann eigentlich kein Schauspieler mithalten. Eine gut animierte Puppe sticht jeden Schauspieler aus. Figuren haben einen eigenen Zauber. Animieren – was für ein schönes Wort! Das Leblose beleben!
Annette Dabs: Genau. Die Menschen mit dieser Form des Theaters zu überrumpeln, freudig zu überraschen, auch zu schockieren – all das ist im Figurentheater möglich. Das war mal der Grund, warum ich zum Theater gegangen bin. Das hat mich mal unglaublich befreit. Da schien alles möglich.
Thomas Oberender: Wobei das Zauberhafte dem Figurentheater auch vorgeworfen wird – es gilt als sentimental, naiv, unreflektiert. Dieses zirzensische Moment, die Nähe zum Varietéhaften ist sein Bonus und sein Fluch. In den überzeugenden Fällen wird die animierte Oberfläche dann natürlich doch tief.
Annette Dabs: Im Vergleich zu den Franzosen haben wir hier in einem Punkt noch starken Nachholbedarf: Wenn ich sehr viel Figurentheater geschaut habe, bekomme ich manchmal einen Überdruss, weil mir das «Wort» fehlt, weil mir die Verhandlung der Themen fehlt. Die Franzosen haben Schriftsteller und Autoren, die für das Figurentheater schreiben. Das gibt es hier nicht! Wir müssten mal bei den Mülheimer Stücken anregen, einen Workshop dazu zu machen, wie man für das zeitgenössische Figurentheater Stücke schreiben kann.
Thomas Oberender: Du hast völlig Recht. Es gibt viele Eigentümlichkeiten von Figurentheater, die mich interessieren. Mit welchem Begriff vom Individuum operiert das Kabuki-Theater? Das ist unserer Kultur fast verloren gegangen: Diese Abstraktion ins Typische, in irgendetwas, das inbildhaft ist, das ist etwas, wo das Figurentheater so ein altes kulturelles Wissen um die Abstraktheit menschlicher Existenzform – die sich immer für einzigartig hält, aber de facto gleichzeitig etwas sehr Allgemeines darstellt – diese Ausfällung in Typen, wie sie sehr gute Figurenbauer herstellen können; die können in einer Figur etwas schaffen, das in dieser einen feststehenden Maske, je nach Körpersprache Trauer, Freude, Überraschung ausdrückbar macht. Diese multiple Lesbarkeit der Physiognomik, des Gestischen, das Puppen haben und das über das Führen der Puppen überhaupt erst entsteht, das ist sehr faszinierend. Und das hat mit einem anderen Verhältnis zum Individuum zu tun. Und mit einer anderen Auffassung von dem, was am menschlichen Leben mitteilbar ist. Puppen können die tiefste Art von Zuspitzung verkörpern. Was wir da sehen, ist kein kleines privates Leben. Darin steckt immer schon das Große.
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