«In einem anderen Land»
Stephan Kimmig inszeniert «Groß und klein» von Botho Strauß im Theater Heidelberg
Notizen zum Stück von Thomas Oberender.
(…) Nach dem jugendlichen Angriff auf die Väterwelt begann in den Siebzigern die Ankunft bei sich selbst – eine neue Subjektivität folgte auf die große Kollektivität, begleitet von der kritischen Reflexion der eigenen Bürgerlichkeit, gegen die kurz vorher noch heftig angekämpft wurde. Heute erscheint die (durch 68 liberalisierte) Welt der 70er Jahre bunt und spassig: da sind Kermit der Frosch und das Krümelmonster, die ersten Talk-Shows im Fernsehen und ein Film wie «Das grosse Fressen» von Marco Ferreri. Es verhalf Lebensmustern und Typen zur Durchsetzung, die bis in die 90er das gesellschaftliche Leben dominieren. In «Gross und klein» ist bereits jene ganze Welt erwachsen, die heute noch unsere Gegenwart als ererbtes oder beschertes Lebensgefühl überdeckelt. Daß die Heldin Lotte-Kotte aus Lennep inmitten der modernen Verhältnisse, die all 68 erkämpften Liberalisierungen überhaupt erst ermöglicht haben, plötzlich überrumpelt ist von deren Konsequenzen, der Bindungslosigkeit und neuen Selbstbezogenheit, in der sie nun dasteht, rührt einen bis heute an. Auch die RAF, sie wohl am wenigsten, hätte für Lotte retten können.
Als Reaktion auf die politischen Radikalisierungen entstand in den 70ern eine Suche nach etwas, oder gar dem Positiven, etwas Ergänzenden oder und heilenden Reserven. Diese Arbeitshaltung beschrieb der Dramaturg Dieter Sturm für die Berliner Schaubühne 1977 mit «konservativem Trotz». Dieser Trotz hat in «Groß und klein» einen deutlich spirituellen Sehnsuchtsgrund. «Ich schwör’s, nichts davor und nichts dahinter.», sagt Lotte im Stück in einem plötzlich anderen, an eine biblische Figur erinnernden Ton, als wäre Gott ihr plötzlich nah: «Näher dürft Ihr mir aber nicht kommen,/Ehrwürdiger Schöpfer, ich bitte Euch./Ich kann Euch weder Schale noch Kelch sein,/und auch kein anderes Gefäß,/Ihr wünschtet denn, ich zerspränge/und ich platzte aus all meinen Nähten.» Was waren das auf einmal für Töne an Deutschlands bis progressivster, linker Bühne? Hinter diesen Anrufungen und Eingebungen ‘Gottes’ in Lottes Text steht ein Projekt, das in der Berliner Schaubühne damals in endlosen Ensemblediskussionen entwickelt wurde: Selbstaufklärung, d.h. die Aufklärung der Aufklärung, oder in den Worten von Dieter Sturm: «Aufklärung über das, was nicht aufklärbar ist, und zwar nicht im Sinne, daß es noch aufgeklärt werden wird, sondern im Sinne der Anerkennung dessen, was nicht aufklärbar ist.»
Es gibt Sätze in diesem «alten» Stück, die klingen inzwischen wie Nachrichten aus dem Grenzland zu Polen, dem östlichsten Osten des Deutschlands von heute: Manchmal denke ich: vielleicht ist etwas passiert, wovon ich nichts weiß. Die Menschen aus dieser ostdeutschen Grenzgegend sind alle aufund davon, es läßt sich ja keiner mehr blicken. Aus dem Text spricht das Gespür, daß am Ende der 70er Jahre irgend etwas von der alten Welt aufhört, jedoch ohne daß der Bruch genauer zu benennen wäre.
Der Fall der Mauer ist das Symbol für den Fall einer alten Weltordnung und ihrer Daseinsweise in Ost und West. Statt der Mauern wachsen nun die Netze. Was nicht «fließt», das stirbt im Freien. Die Begleiterscheinungen der Globalisierung werden auf lange Sicht jeden Daseinsbereich verändern: die zwischenmenschlichen Umgangsformen ebenso wie die Formen der Arbeit, des Lernens oder Strafens. Das Thema Ost-West ist dabei nur der offensichtlichste Ausdruck für den Verlauf der eigentlich dramatischen Konfliktlinie: Die Grenze zwischen Vorher und Nachher, Alt und Neu in einem weitreichenderen Sinne. Der Fall der Mauer ist so betrachtet niemals nur eine Ost-West-Geschichte, vielmehr deutet er auf eine Bewegung innerhalb der abendländischen Welt hin, die wieder in Fluß kommt, nachdem die Imperien kollabiert sind. Die zwanzig Jahre alten Sätze aus «Groß und klein» erweisen sich vor diesem Hintergrund als unerwartet zeitgemäß – wir sitzen längst in einem anderen Land.
Nach seinem Drama «Trilogie des Wiedersehens», das Botho Strauß mit «Theaterstück» untertitelt hat, gibt er seinem Text «Groß und klein» den lakonischen Zusatz «Szenen». Tatsächlich ist dieses Drama eher eine Folge von Stücken im Stück, durch die die einsame Protagonistin unbeirrt fortirrt und uns den Anschein bietet, die Geschichte sei ein Stationendrama, das seine Heldin noch irgendwo hinführt. Aber das ganze läuft heillos ins Leere wie der Weg durch die «Zehn Zimmer» - mühsam genommen und doch zu keinem Ende: Die zehn Zimmer sind immer das eine.
«Szenen» und nicht mehr «Theaterstück» – der Zerfall der dramatischen Konvention weist auf das innere Thema: Dissoziation, Zergliederung, Fluchten. «Der Acker verliert seine Saat./Der Tod verliert seine Toten./Die Dinge, die zusammenpassen,/haben sich satt und fliegen auseinander./So wie das All ganz allgemein./Es explodiert unendlich langsam vor sich hin./Wir fallen nicht, wie oft geträumt,/wir fliegen aufwärts auseinander./So gesehen, bekommen die Dinge jetzt/erst ihr eigentliches Gewicht./All und Überall, aufwärts/Auseinander!/Weshalb sich gegen die allgemeine Entwicklung stemmen?»
Lottes Weg hält die Stationen zusammen – die ganze durchlebte Welt zwischen Marokko und Essen, einer Telefonzelle auf der Landstraße und einer Bushaltestelle. Sie, die wichtigste Figur, ist Protagonistin im ursprünglichen Sinne des Wortes: die erste Schauspielerin, die als Hauptdarstellerin wirkt und dem Chor der Gesellschaft entgegentritt. Doch wenn diese Gesellschaft auseinanderstrebt, warum nicht sie? So entmischt sich in den 90er Jahren vielleicht auch die «große Rolle» der Lotte in ihre einzelnen Stimmen, die auseinanderfallen, sie in immer höherer Auflösung zeigen. «Ich sitze gründlich äußerst im Freien.» Ohne Lotte – helles Haar, sehr blasses Gesicht – kein Drama. Es scheint, als würde der eklige Engel sich in diesem Bilderbogen von Szene zu Szene mehr verzehren, auflösen wie ihr Kostüm, das laut Regieanweisung im Laufe des Stückes immer stärker ausbleicht. Ein Mensch in Auflösung – was tritt aus seiner alten Gestalt hervor? Die Lichtgestalt des halben Engels von 1978 oder jene andere Seite an Lotte, die so anpassungsbereit in alle Formen fließen möchte, die sich auftun? Lotte – wie sie Halt sucht, mittut, immer bereit, immer willig, anwenderfreundlich. Sie ist so «frei heraus», so unverstellt bedürftig, daß sich jeder Mitmensch in ihrer Nähe zum Antikörper wandelt. Die Beziehungsstreicherin: Sie streunt wider Willen in der unverbindlichen Halbdistanz zur mitmenschlichen Umwelt und bleibt eine Gefühls-Vagabundin. Die Härte ihrer Situation ist das Auseinanderfließen der Welt um sie herum.
Obwohl die Geschichte dieser Gerechten, und diese biblische Dimension hat Strauß ihr eingeschrieben, sie ist eine der 36 Gerechten, anrührend wirkt, ist Botho Strauß’ «Gross und klein» unter all seinen Stücken vielleicht jenes, in dem er mit dem kühlsten, ja kältesten Blick auf das Land jener Jahre schaut und ihm als Autor buchstäblich jede seiner alltäglichen Beobachtungen zum Inbild eines tieferen Zustandes wird, der von Angst getränkt ist. Lotte, Mitte Dreißig, allein, wirkt gestraft in der Kette ihrer Zurückweisungen und zum Nachlaufen verurteilt: «Diese Bekannte von mir, wie gesagt. Kenne sie kaum, erst zwei Wochen. Man trifft sich bei Walterchen, man lacht sich zu, die kommt mit zu einem nach Hause und zu Hause setzt sie sich fest. Geht nicht wieder. Belastung. Was soll werden. Angst. Verbinlichkeitsangst, Unlust hinsichtlich jeder Komplikation.
Die Welt in den Szenen von Botho Strauß ist ein Zustand, in dem jeder besser allein zurechtkommt, bis auf Lotte. Sie ist das Treibgut in dieser in «Szenen» zerfallenen Welt, der Welt im Fluß. Die Gemeinheit der Verhältnisse gibt ihr gut gemeinten Ratschläge. Es ist das prinzipienlos Böse inmitten der vorgeblich besten Absichten, daß in seiner Aufgeklärtheit, dem vernünftigen Argument so verängstigt.
Seit der Staat und die traditionelle Politik mehr und mehr in den Hintergrund treten und die Initiative auf das Netzwerk zum Transfer von Wissen, Waren und Kontakten überging, verschwindet auch jedes «Dahinter», das zur Verantwortung zu ziehen wäre. Es bleibt ein mehr oder minder gesichtsloser Druck der Verhältnisse – offen zu bleiben, entspannt, ironisch und frei. Daher spielt das Stück merkwürdig oft «äußerst im Freien» spielt, an Unorten – einem Hotel, vor der Glastür eines Mietshauses, am Rand einer Landstraße, einem Grillplatz im Garten, einer leeren Bühne, Bushaltestelle, Verwaltungs- und Wartezimmer. Die Kuriositätensammlung der erlauschten Milieu- und Szenejargons, all das verleiht den «Szenen» eine beinahe heitere Oberfläche. Die Leichtigkeit als Wahrnehmungs- und Verhaltensform durchzieht dabei leise Einsamkeitsangst, die Furcht vorm Versagen.
«Groß und klein» zeigt eine Welt, die sich Lottes Zugriff und Heimweh entzieht und verflüchtigt und nach dem Fall der Mauer 1989 ist sie vollends in Fluß geraten, statt der Mauern gibt es nun nur noch Netze. Das 19. Jahrhundert geht endlich doch zu Ende. Wie heißt es im Stück: «Die Entwicklung hat uns überrollt, sagst du?/Noch lange kein Grund sich gehenzulassen, Alter!/Irgend etwas muß der Mensch doch immer wollen!/Irgend etwas hat die Stunde doch immer geschlagen!»