«This is not an Interview.»
Gespräche mit Samuel Beckett
Herausgegeben von Thomas Oberender
«This is not an interview» – das Materialbuch zu «Warten auf Godot» versammelt Gespräche mit Samuel Beckett aus den Jahren 1961 bis 1983, die in dieser Publikation erstmals in deutscher Sprache vorliegen. Beckett lehnte es strikt ab, Interviews zu geben. Allerdings haben zahlreiche seiner Gesprächspartner ihre Unterhaltungen mit Beckett unmittelbar nach ihrem Stattfinden aufgeschrieben. Die in diesem Sammelband veröffentlichten Gespräche wurden aus Anlass der Produktion «Warten auf Godot» am Schauspielhaus Bochum 2001/2002 von Viola Eckelt und Eva Louise Kühn zusammengetragen und übersetzt. Das Buch enthalt Becketts Gespräche mit Charles Juliet, Tom F.Driver, Gabriel D’Aubarede, Emilie Michel Cioran, Mel Gussow, Ahmad Kamyabi Mask.
Das schon aufgrund seines quadratischen Formats ungewöhnliche Buch wurde, wie die meisten Materialbücher des Bochumer Schauspielhauses zwischen den Jahren 2000 und 2005, gestaltet von der Agentur nodesign des Grafikers HD Schellnack.
Untenstehend Materialien zu Becketts Stück aus dem Abendprogramm
Godot mit dem weißen Bart ist ein Bilderbuch-Lieber-Gott. Der Name Godots hat viele Interpreten dazu gereizt, ihn in Zusammenhang mit Gott zu bringen. Die französische Diminutivendung – ot an das englische Wort für Gott angehängt, sollte ein Mischung aus Gott und Charlie Chaplin (französisch Charlot) bedeuten. Oder aber man nimmt direkt eine umgangsirische Form «Godo» für «God» an. Man hat auch etymologische Forschungen in der französischen Sprache unternommen und den Namen in Zusammenhang gebracht mit den umgangssprachlichen bis vulgären Wörtern «godailler» (viel essen und trinken), «godenot» (böser kleiner Mann), «godichon» (linkisch, ungeschickt), was auf einen bösen und dummen Godot deuten würde. Beckett selbst hat zu Roger Blin gesagt, er habe an «godasse» und «godillot» gedacht, vulgär-umgangssprachliche Wörter für Stiefel, Schuh, was immerhin einen Sinn gibt, da Estragons Schuhe eine Rolle spielen. Da Beckett schließlich Freund und Schüler von Joyce war, schien es berechtigt, vor allem literarische Anspielungen zu suchen. Man stieß in einem Stück von Balzac auf eine Person Godeau, die immer erwartet wird. Schließlich gibt es den Namen Godeau auch bei Jouhandeau. Gegenüber diesen zum Teil weit hergeholten Anklängen ist der Anklang an «God», ernst oder ironisch oder rein spielerisch, doch noch wahrscheinlicher. Man darf auch Becketts eigenes Wort nicht als «boutarde» verstehen, sondern als Zurückweisung jeder einseitigen Interpretation, wenn er sagt, daß ihm im Titel «en attendant» viel wichtiger gewesen sei als der Name. Der Name ist nicht so wichtig, auf das Warten kommt es an.
En attendant Godot ist nicht mehr als das Drama des Wartens. Das Warten auf Godot, auf die Nacht, auf irgendein Ereignis, wird ausgefüllt durch Reden und vielfältiges Spiel. Da der Bogen jedes Aktes und des ganzen Stücks so wenig gespannt ist, gerät die Ausfüllung, das Spiel, in den Mittelpunkt und wird zum eigentlichen Inhalt. Über die Tragödie der Ausweglosigkeit hat Beckett die Komödie der Schein- und Spielhaftigkeit gedeckt. Tragisch sind die «genarrten Opfer» Wladimir und Estragon, Komödienelemente sind das Ausbleiben der Katastrophe, die Einsicht in die Situation und ihre Überwindung im Spiel. Becketts Komik resultiert zum großen Teil aus der Ziel- und Zwecklosigkeit des Redens und Tuns. Es ist die komische Nutzlosigkeit im Aufwand von vielen Mitteln, die im Mißverhältnis zu dem gar nicht oder nur nebenbei beabsichtigten Erfolg stehen. Es ist die Clownskomik. Man hat viele neue Bezeichnungen gesucht, um dieser neuen Gattung gerecht zu werden. Die «ontologische Farce» (Anders) oder «metaphysische Farce» (Lamont) bringt die Komplexität vielleicht am besten zum Ausdruck, ohne vergessen zu lassen, daß der Inhalt des Stücks Spiel ist, Clownskomik, Farce.
Konrad Schoell: Beckett «En attendant Godot»
wurde zwischen Oktober 1948 und Januar 1949 geschrieben. Die visuelle Konzeption des neuen Stücks war, laut Beckett, von einem Gemälde Caspar David Friedrichs angeregt. Diese Beeinflussung macht sich vor allem in den zwei Mondscheinszenen am Ende jedes der beiden Akte bemerkbar, wo die zwei Gestalten am Baum, Estragon und Wladimir, in Betrachtung des Mondes sich gegen den Nachthimmel schattenhaft abheben. Doch besteht noch ein tiefergehender Bezug zu dem Maler. Ruby Chon berichtet, daß sie, anläßlich ihres Berlinaufenthalts zu den Godot-Proben, mit Beckett die Gemälde Caspar David Friedrichs in der berühmten Berliner Romantikersammlung betrachtete. Als sie vor Friedrichs Gemälde Mann und Frau den Mond betrachtend (1824) standen, verkündete Beckett unzweideutig: «Weißt du, das war ja die Quelle zu Warten auf Godot.» Vielleicht hat er hier zwei Bilder miteinander verwechselt. Denn bei anderen Gelegenheiten machte er Freunde auf das kleine Gemälde Zwei Männer betrachten den Mond (1819) aufmerksam, worauf zwei Männer in Mütze und Mantel, gerahmt von den schwarzen Zweigen eines großen blattlosen Baums, in Rückansicht beim Betrachten des Vollmonds dargestellt sind. Zwar hatte er dieses Bild seit seinem Dresdenbesuch im Jahre 1937 nicht mehr gesehen; es ist aber eines von Friedrichs berühmtesten Gemälden und wird in Monographien oft reproduziert. Immerhin ähnelt das Berliner dem Dresdner Bild in der Komposition so stark, daß Becketts Einlassung sehr wohl in beiden Fällen zutreffen könnte.
James Knowlson: Samuel Beckett. Eine Biografie. Frankfurt a.M., 2001
Ich hab‘ ja nicht wirklich was begriffen in der Schule. An mir sind Wörter wie Clavigo, Iphigenie und Fuge hängengeblieben. Ich weiß noch, daß das nicht St.-Pauli-Abwehrleute sind, sondern, daß Clavigo ein bekanntes Bild von Schiller ist. Ich selbst bin ein großer Fan von absoluter Hochkultur, die ich zwar auch nicht verstehe, die mich aber fasziniert. Zum Beispiel höre ich überhaupt keinen Pop mehr im Auto, sondern nur noch WDR 3 Klassik. Ich spiele Klavier, hätte aber ganz gern Terminator 2 gemacht. Ich leide nicht darunter, daß es solche Filme gibt. Eigentlich müßte man sich nachmittags Schwarzenegger ansehen und abends Gerd Voß auf der Bühne als Richard III. Beides steht für mich völlig gleichberechtigt nebeneinander. Wie perfekt hast du in deiner Sparte den Job im Griff. Das ist für mich entscheidend. Ich will, daß der Mensch zu hause sich fragt, wie macht er das jeden Abend. Egal ob er krank ist, sich schlecht fühlt oder irgendwie angeknackst ist. Er kommt raus und hat diese stahlharte gute Laune.
Die Normalsatire hat noch ein Ziel. Sie will auf etwas aufmerksam machen. Bei uns ist die Sache zwecklos. Auf die Tatsache, daß Boris Jelzin den deutschen Medienpreis bekommt, ist nichts draufzusetzen. Wenn Tschernobyl explodiert, ist das für uns absolut gleichwertig damit, daß Klinsmann ausgewechselt wird. Ehrlich gesagt ist die deutsche Mannschaft und die Frage, ob sie die Viererkette kapiert, für das Wohlbefinden der Nation wichtiger als Tschernobyl. Das hat nichts mit Satire zu tun. Das ist meine Meinung. Im Angebot der Massenhysterien ist Tschernobyl nur ein Angebot, zusammen mit Rinderwahnsinn, toten Robben, Waldsterben und Klinsmann. Sie müssen ein stabiles Weltbild haben, um bei mir lachen zu können. Weil bei mir unentwegt der Teppich weggezogen wird. Dies wird angezweifelt, jenes wird madig gemacht. Aber natürlich nie, indem wir wirklich Sachen madig machen, sondern indem wir sie hochjubeln. Wir sagen nix Negatives. Alles ist toll. Claudia Schiffer ist toll. Wir bewundern Schumi. Wir wollen Corinna helfen. Erst in der Übertreibung werden gängige Vorstellungen zerstört.
Auszüge aus: Harald Schmidt: «Stahlhart gute Laune», Interview in: Berliner Zeitung, 5./6. 10.1996
Was alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung erhält, ist das Streben nach Dasein. Mit dem Dasein aber, wenn es ihnen gesichert ist, wissen sie nichts anzufangen: daher das zweite, was sie in Bewegung setzt, das Streben, die Last des Daseins loszuwerden, es unfühlbar zu machen, ‚die Zeit zu töten‘, d.h. der Langeweile zu entgehen. Die Langeweile aber ist nichts weniger als ein gering zu achtendes Übel: Sie malt zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht.»
Auszug aus Arthur Schopenhauer: «Die Welt als Wille und Vorstellung», Bd. I, 4. Buch, § 57
Die Theatergestalt pflegt meist nur eine Rolle zu spielen, so wie ja um uns herum das all die tun, die sich ihrer eigenen Existenz entziehen. In dem Stück von Beckett aber läuft alles so ab, als ob die beiden Landstreicher auf der Bühne stünden, ohne eine Rolle zu haben. Sie sind da; sie müssen sich darstellen. Sie müssen erfinden. Sie sind frei. Selbstverständlich ist diese Freiheit unbrauchbar: Sie probieren alles durch, wie es gerade so kommt. Nur zu einem fehlt ihnen die Freiheit, zum Fortgehen, zum Nichtmehrdasein: sie müssen da bleiben, weil sie auf Godot warten.
Alain Robbe-Grillet: «Samuel Beckett oder Das Da-Sein auf der Bühne», In: Materialien zu Warten auf Godot, Bd. 1, Frankfurt a.M., 1979
Das ist ein Wort, und wahrscheinlich auch ein Begriff, den man für die Zeiten der großen Gemetzel aufspart. Man braucht die Pest, Lissabon und ein größeres religiöses Massaker, damit die Menschen auf den Gedanken kommen, sich zu lieben, den Gärtner von nebenan in Frieden zu lassen und einfach, ganz einfach zu sein.
Es ist ein Wort, das man sich heutzutage mit noch nie dagewesener Leidenschaftlichkeit an den Kopf schleudert. Wie Dumdumgeschosse.
Es prasselt besonders heftig auf die Künstlerkreise herab. Das ist schade. Denn die Kunst scheint, um ausgeübt werden zu können, einen Kataklysmus nicht nötig zu haben.
Die Schäden sind schon jetzt erheblich.
Mit «Das ist nicht human» ist alles gesagt.
Weg, in den Müll damit.
Morgen wird man verlangen, daß die Metzgerei human sein soll.
Das ist noch gar nichts. Man ist immerhin manches gewöhnt.
Sie sind imstande, uns fünfzig Jahre lang die Poesie, die Musik und das denken zu demolieren.
Vor allem nicht protestieren.
Wollen sie ein Lebewesen zum Vorzeigen?
Stecken Sie es in einen Blaumann. Geben Sie ihm eine Trillerpfeife.
Sie interessiert der Raum? Brechen wir ihn auf.
Sie beschäftigt die Zeit? Schlagen wir sie gemeinsam tot.
Die Schönheit? Der Mensch insgesamt.
Die Güte? Abwürgen.
Die Wahrheit? Der Furz der Mehrheit.
Was wird bei all dem Jahrmarktsrummel aus dieser so einsamen Malerei (der Brüder van Velde) werden, einsam vor Einsamkeit, die sich das Haupt verhüllt, der Einsamkeit, die die Arme ausstreckt.
Diese Malerei, deren kleinste Parzelle mehr wahre Humanität enthält als alles Wallfahren zu einer Glückseligkeit von frommen Schafen.
Ich nehme an, daß sie gesteinigt wird.
Es gibt des Lebens ewig gleiche Bedingungen. Und es gibt den Preis dafür. Wehe dem, der beides zu unterscheiden weiß. 1945/46
Auszug aus: Samuel Beckett: «Das Gleiche nochmal anders», Frankfurt a.M. 2000
Saint-Lo wurde in einer Nacht durch Bomben vernichtet. Deutsche Kriegsgefangene – und Gelegenheitsarbeiter, angelockt durch die relativ reichliche Verpflegung, aber bald durch Wohnungsnot abgeschreckt -, räumten noch zwei Jahre nach der Befreiung buchstäblich mit den Händen die Trümmer beiseite. «Provisorisch» ist nicht mehr das Wort, das es einmal war, in diesem provisorisch gewordenen Universum.
Das Irische Krankenhaus wird seine Funktion noch erfüllen, wenn die Iren schon lange weggegangen und ihre Namen vergessen sind. Doch glaube ich, daß es bis ans Ende seiner Krankenhaustage das Irische Hospital genannt werden wird und die Baracken, wenn sie einmal zu Wohnungen geworden sind, werden «Irische Hütten» heißen. Ich erwähne diese Möglichkeit in der Hoffnung, daß dies eine gewisse Genugtuung bereitet. Vielleicht kann ich danach auch noch frei heraus eine weitere, entferntere, doch vielleicht für gewisse Kreise gewichtigere Möglichkeit erwähnen, die nämlich, daß einige von denen, die in Saint-Lo waren, nach ihrer Heimkehr innewerden, daß sie mindestens so viel Gutes empfangen wie sie hergegeben haben, daß sie tatsächlich etwas empfingen, was sie kaum zu geben vermochten, Blick und Gefühl für den altehrwürdigen Begriff eines Menschseins in Ruinen, und vielleicht sogar eine Ahnung der Bedingungen, unter denen unser Los neubedacht werden muß.
Bericht von Samuel Beckett, damals Lagerverwalter des Irischen Krankenhauses von Saint-Lo, für Radio Éireann vom 10.7.1946. Auszüge aus: Eoin O’Brien: The Beckett Country, Frankfurt a.M., 1997
Es gibt kein Entrinnen vor den Stunden und Tagen. Weder vor dem Morgen noch vor dem Gestern. Es gibt kein Entrinnen vor dem Gestern, weil das Gestern uns deformiert hat oder von uns deformiert worden ist. Der Modus ist unwichtig. Die Deformation hat stattgefunden. Gestern ist nicht ein Meilenstein, an dem man vorübergegangen ist, sondern ein Tagstein auf der gebahnten Spur der Jahre und ein unwiederbringlicher Teil von uns, in uns, schwer und gefährlich. Wir sind nicht nur beschwerter durch das Gestern, wir sind anders, nicht mehr, wie wir waren vor dem Verhängnis des Gestern. Ein Unglückstag, der aber nicht unbedingt Unglück enthält.
Das Trachten von gestern war gültig für das gestrige Ich, nicht für das heutige. Wir sind enttäuscht über die Nichtigkeit dessen, was wir so gerne das Erreichte nennen. Aber was ist das Erreichte? Die Identität des Subjektes mit dem Objekt seines Verlangens. Das Subjekt ist unterwegs gestorben - vielleicht mehrmals. Es gibt nur einen realen Eindruck und einen adäquaten Modus der Beschwörung. Über beide haben wir nicht die geringste Kontrolle.
Auszug aus Samuel Beckett: Proust, Zürich-Hamburg, 1969/2001
Gewohnheit ist der Ballast, der den Hund an sein Ausgebrochenes kettet. Atmen ist Gewohnheit. Leben ist Gewohnheit. Oder besser, Leben ist eine Folge von Gewohnheiten, da das Individuum eine Folge von Individuen ist; da die Welt eine Projektion des Bewußtseins des Individuums ist, muß der Pakt beständig erneuert, der Schutzbrief auf den neuesten Stand gebracht werden. Die Erschaffung der Welt hat nicht ein für allemal stattgefunden, sie findet jeden Tag statt. Gewohnheit ist außerdem der allgemeine Begriff für die zahllosen Verträge, die zwischen zahllosen Subjekten und ihren zahllosen korrelativen Objekten geschlossen werden.
Die Übergangsperioden, die aufeinanderfolgende Anpassungsformen auseinanderreißen, stellen die Gefahrenzonen im Leben des Individuums dar, gefährlich, willkürlich, schmerzlich, geheimnisvoll und fruchtbar, wenn für einen Augenblick die Langeweile zu leben durch das Leiden zu sein ersetzt wird.
Die grundlegende Aufgabe der Gewohnheit, über welche sie die sinnlosen, erstaunlichen Arabesken ihrer überflüssigen Leistungen zeichnet, besteht in einer ständigen Angleichung und Wiederangleichung unserer organischen Sensibilität an die Bedingungen ihrer Welten. Leiden bedeutet das Vergessen dieser Aufgabe, entweder aus Nachlässigkeit oder Unfähigkeit, und Langeweile bedeutet ihre adäquate Vollendung. Das Pendel schlägt zwischen diesen beiden Begriffen aus: Leiden - das ein Fenster zum Realen öffnet und die Hauptbedingung der künstlerischen Erfahrung ist, und Langeweile, die als das erträglichste, weil dauerhafteste menschliche Übel angesehen werden muß.
Wenn die Liebe für Proust eine Funktion der Trauer eines Menschen ist, dann ist die Freundschaft eine Funktion seiner Feigheit; und wenn keines von beiden realisiert werden kann wegen der Undurchdringlichkeit (Isolation) alles dessen, was nicht «cosa mentale» ist, dann hat das Ausbleiben des Besitzes vielleicht wenigstens die Würde des Tragischen, während der Versuch, in Verbindung zu treten, wo keine Verbindung möglich ist, nur eine äffische Vulgarität oder entsetzlich komisch ist, wie die Verrücktheit dessen, der ein Gespräch mit Möbeln führt. Nach Proust ist Freundschaft die Negation der unheilbaren Einsamkeit, zu der jeder Mensch verdammt ist. Freundschaft ist ein sozialer Notbehelf wie Polstermöbel oder die Verteilung von Abfalleimern. Sie hat keine geistige Bedeutung. Für den Künstler, der sich nicht mit der Oberfläche abgibt, ist das Zurückweisen von Freundschaft nicht nur vernünftig, sondern unerläßlich. Denn die einzig mögliche geistige Entwicklung geht in die Tiefe. Die künstlerische Tendenz ist nicht Ausdehnung, sondern ein Zusammenziehen. Und Kunst ist die Apotheose der Einsamkeit. Es gibt keine Verbindung, weil es keine Vehikel der Verbindung gibt.
Proust situiert die Freundschaft irgendwo zwischen Müdigkeit und Langeweile (fatigue et ennui). Er stimmt nicht mit der Auffassung Nietzsches überein, daß Freundschaft auf intellektueller Sympathie gegründet sein müsse, denn er mißt der Freundschaft nicht die geringste intellektuelle Bedeutung bei. «Wir stimmen mit denen überein, deren (nicht-platonische) Ideen denselben Grad von Konfusion erreicht haben wie die unsrigen.» Für ihn läuft Freundschaft auf dasselbe hinaus, wie wenn man die einzig reale und unübertragbare Essenz seiner selbst den erschreckten Forderungen einer Gewohnheit opfert, deren Vertrauen durch eine gewisse Dosis von Aufmerksamkeit wiederhergestellt werden muß. Sie stellt eine falsche Bewegung des Geistes dar - von innen nach außen, von der geistigen Angleichung an das Immaterielle, wie es vom Künstler vorhergesehen und aus dem Leben herausgezogen wird, zu den verächtlichen und verdaulichen Hülsen des direkten Kontaktes mit dem Materiellen und Konkreten, mit dem, was wir materiell und konkret nennen.
Der Künstler ist aktiv, aber negativ aktiv, er zieht sich aus der Nichtigkeit der äußeren, umgebenden Phänomene zurück und wird in das Innerste des Strudels gezogen. Er kann keine Freundschaft pflegen, denn Freundschaft ist die zentrifugale Kraft der Selbstangst, der Selbstverneinung. Wir sind allein. Wir können nicht kennen und nicht gekannt werden. «Der Mensch ist das Wesen, das von sich nicht loskommen kann, das andere nur in sich selbst kennt und das lügt, wenn es das Gegenteil verkündet.»
Hier ist Proust, wie immer, von moralischen Rücksichten vollkommen gelöst. Es gibt bei Proust und in seiner Welt kein gut und böse. Tragödie ist die Darstellung einer Sühne, aber nicht der armseligen Sühne eines systematischen Bruches mit einer lokalen Einrichtung, der von Spitzbuben für Narren organisiert wird. Die tragische Figur repräsentiert die Sühne der Ursünde, seiner und seiner «soci malorum» ursprünglichen und ewigen Sünde, der Sünde, geboren zu sein.
Was Gegenwart und Vergangenheit gemeinsam ist, ist wesentlicher als jede einzeln genommen. Die Wirklichkeit, ob man sich ihr imaginativ oder empirisch nähert, bleibt eine Oberfläche, bleibt hermetisch. Einbildungskraft - a priori - auf das Abwesende angewendet, wird im Leeren ausgeübt und kann die Grenzen des Realen nicht dulden. Auch ist kein direkter und rein erfahrungsmäßiger Kontakt zwischen Subjekt und Objekt möglich, weil sie automatisch durch das Bewußtsein der Wahrnehmung des Subjektes getrennt werden, und das Objekt verliert seine Reinheit und erhält einen bloß intellektuellen Vorwand oder ein bloß intellektuelles Motiv. Aber dank dieser Verdoppelung ist die Erfahrung zugleich imaginativ und empirisch, zugleich eine Beschwörung und eine direkte Wahrnehmung, real, ohne nur aktuell zu sein, ideal, ohne nur abstrakt zu sein, das ideale Reale, das Wesentliche, das Außerzeitliche. Aber wenn diese mystische Erfahrung eine außerzeitliche Essenz vermittelt, folgt, daß der Vermittler im Augenblick ein außerzeitliches Wesen ist. Infolgedessen besteht die Proustsche Lösung, so weit sie untersucht worden ist, in der Negation von Zeit und Tod, der Negation des Todes infolge der Negation der Zeit. Der Tod ist tot, weil die Zeit tot ist. Und so, in der Exaltation seiner kurzen Ewigkeit, aus dem Dunkel der Zeit und der Gewohnheit und der Leidenschaft und der Intelligenz aufgestiegen, versteht er die Notwendigkeit der Kunst.
Ich gab auf, ehe ich geboren wurde, es ist anders nicht möglich, es mußte jedoch geboren werden, er war es, ich war darin, so sehe ich es, er war es, der geschrien hat, er war es, der das Licht erblickt hat, ich habe nicht geschrien, ich habe nicht das Licht erblickt, es ist unmöglich, daß ich eine Stimme habe, es ist unmöglich, daß ich Gedanken habe, und doch spreche und denke ich, ich tue Unmögliches, es ist anders nicht möglich, er war es, der gelebt hat, ich habe nicht gelebt, er hat schlecht gelebt, wegen mir, er wird sich umbringen, wegen mir, ich werde das erzählen, ich werde seinen Tod erzählen, das Ende seines Lebens und seinen Tod, eines nach dem anderen, im Präsens, sein Tod allein wäre nicht genug, nicht genug für mich, wenn es röchelt, so wird er es sein, der röchelt, ich werde nicht röcheln, so wird er es sein, der stirbt, ich werde nicht sterben, man wird ihn vielleicht beerdigen, falls man ihn findet, ich werde darin sein, er wird verwesen, ich werde nicht verwesen, es wird nichts mehr von ihm übrigbleiben, nur Knochen, ich werde darin sein, er wird nur noch Staub sein, ich werde darin sein, es ist anders nicht möglich, so sehe ich es, das Ende seines Lebens und seinen Tod, wie er es machen wird, um zu enden, es ist unmöglich, daß ich es weiß, ich werde es wissen, eines nach dem anderen, es ist unmöglich, daß ich es sage, ich werde es sagen, im Präsens, es wird nicht mehr die Rede sein von mir, nur von ihm, vom Ende seines Lebens und von seinem Tod, von seiner Beerdigung, falls man ihn findet, da wird es enden, ich werde nicht von Würmern sprechen, auch nicht von Knochen und Staub, das interessiert niemand, es sei denn, ich langweilte mich in seinem Staub, was mich wundern würde, ebenso zu Tode wie in seiner Haut, hier lange Pause, er wird sich vielleicht ertränken, er wollte sich immer ertränken, er wollte nicht, daß man ihn fände, er kann nun nichts mehr wollen, aber einst wollte er sich ertränken, er wollte nicht, daß man ihn fände, tiefes Wasser und einen Mühlstein, Trieb erloschen wie alle anderen, aber warum eines Tages um die Ecke, warum lieber das, als sonstwohin, hier lange Pause, es wird kein Ich mehr geben, er wird nie mehr ich sagen, er wird niemals mehr irgend etwas sagen, er wird zu niemandem sprechen, niemand wird zu ihm sprechen, er wird nicht zu sich selbst sprechen, er wird nicht mehr denken, er wird fortgehen, ich werde darin sein, er wird irgendwohin gelangen und fallen, warum da und nicht woanders, fallen und schlafen, schlecht, wegen mir, er wird aufstehen und weitergehen, schlecht, wegen mir, er wird nicht mehr auf der Stelle verweilen können, wegen mir, es wird nichts mehr in seinem Kopf sein, ich werde alles, was er braucht, hineinstecken.
Auszug aus: «Samuel Beckett: Um abermals zu enden», In: Werke V. Supplementband I. Frankfurt am Main 1986
Entwurzelung
Es funktioniert alles. Das ist gerade das Unheimliche, daß es funktioniert und daß das Funktionieren immer weiter treibt zu einem weiteren Funktionieren und daß die Technik den Menschen immer mehr von der Erde losreißt und entwurzelt. Ich weiß nicht, ob Sie erschrocken sind, ich bin jedenfalls erschrocken, als ich jetzt die Aufnahmen vom Mond zur Erde sah. Wir brauchen gar keine Atombombe, die Entwurzelung des Menschen ist schon da. Wir haben nur noch rein technische Verhältnisse. Das ist keine Erde mehr, auf der der Mensch heute lebt.
Aus: «Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger», 23.11.66. In: Der Spiegel
Nun ist die entscheidende Frage: Was liegt darin, daß wir uns diese Rolle geben und gar geben müssen? Sind wir uns selbst zu unbedeutend geworden, daß wir einer Rolle bedürfen? Warum finden wir für uns keine Bedeutung, d.h. keine wesentliche Möglichkeit des Seins mehr? Weil uns gar aus allen Dingen eine Gleichgültigkeit angähnt, deren Grund wir nicht wissen? Aber wer will so sprechen, wo der Weltverkehr, die Technik, die Wirtschaft den Menschen an sich reißen und in Bewegung halten? Und trotzdem suchen wir für uns nach einer Rolle. Was geschieht darin?, wo fragen wir erneut. Müssen wir uns selbst erst wieder interessant machen? Warum müssen wir das? Etwa weil wir selbst uns, uns selbst langweilig geworden sind? Der Mensch selbst sollte sich selbst langweilig geworden sein? Warum das? Ist es am Ende so mit uns, daß eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?
Auszug aus: «Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik», § 18, Freiburger Vorlesung, WS 1929/30, Hsg.: F.W. von Herrmann, Frankfurt a.M., 1983
Wir sind durch diese Interpretation in ein eigenartiges Wissen hineingekommen. Den wesentlichen Gehalt dieses Wissens können wir nicht und nie in einer Formel wiedergeben, weil er nicht in angesammelten Kenntnissen besteht, gleich dem, was uns in den gleichen zwei Monaten vielleicht eine Vorlesung über Zoologie oder neuere Geschichte vermittelt hat. Bei solchem Hören in den Wissenschaften bringt jede Stunde um ein Stück weiter, jeder Tag gibt en Bündel und en paar Blätter mehr. Wir haben jeden Tag weniger, und jede Stunde kommen wir weniger vorwärts, haben vielmehr immer mehr auf der Stelle getreten. Nicht nur das – sondern wir haben vielleicht den Boden, auf den wir uns anfangs stellten, durchgetreten, sind ins Bodenlose geraten und ins schweben gekommen, in eine Stimmung. Nur eine Stimmung – und soviel Aufwand. Ja, vielleicht nicht einmal eine Stimmung, sondern nur die durchsichtigere Möglichkeit einer solchen, d.h. eine Empfänglichkeit für sie, und zwar eine gewachsene, die im Dasein Wurzeln geschlagen hat, so daß dieses die Möglichkeit aufbringt für die Ermöglichung dieser Stimmung, das Gestimmtsein. In der Tat, wenn wir dieses und gerade dieses gewonnen haben, die durchsichtigere Empfänglichkeit für diese Stimmung – in irgendeiner Form -, dann ist es schon genug und etwas, was wir gar nie als Resultat verrechnen können.
Auszug aus: «Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik», § 37, Freiburger Vorlesung, WS 1929/30, Hsg.: F.W. von Herrmann, Frankfurt a.M., 1983
Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im denken und im dichten eine Bereitschaft vorzubereiten und für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen. Wir können ihn nicht herbeidenken, wir vermögen höchstens die Bereitschaft der Erwartung zu wecken. Die Bereitung der Bereitschaft dürfte die erste Hilfe sein.
Aus: «Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger», 23.11.66. In: Der Spiegel?