«The silence should be louder after this…»
Über Dirigenten, Regisseure und das soziale Wunder einer Aufführung
von Thomas Oberender
Das Theater ist ein Ort der Interpreten. Eine Bühne wie das Theater Bonn, das wie viele deutsche Stadttheater in seinem Repertoire noch immer sowohl Schauspiel-, Tanz- als auch Opernproduktionen versammelt, ist als Institution ein sozialer Ort von per se staunenswürdigem Charakter. Jeden Abend zeigen uns hier Interpreten ihre Kunst – vergegenwärtigen sie Werke, die grundsätzlich, selbst im Falle einer Uraufführung, bereits Geschichte sind und in einem Akt der Wiederholung, in einem schönen, doppelten Sinne des Wortes, Gegenwart werden müssen. Was zu sehen oder hören ist, geschieht im Augenblick, hier und jetzt, offen für Stimmungen und Zufälle, in Abhängigkeit von der Tagesform der Beteiligten und des Publikums. Natürlich ist eine Inszenierung durch die voraus gegangen Proben der groben Willkür zugleich enthoben, auf ein Werk und Ziel hin orientiert, aber eben nie ganz stimmungsdicht, nie automatisch und unirritierbar. Jede Aufführung bleibt ein riskantes, vom Gemüt und Geist unmittelbar geprägtes Geschehen innerhalb einer Gruppe von Künstlern, die das von einem Autor aufgeschriebene Erlebnis der Welt, ob als musikalische Partitur oder dramatischen Text, auflösen in das Verhalten von Menschen zu- und miteinander. Sie spielen die Welt. Und in diesem Vorgang verbrennen sie den Text und die Partitur, lösen sie auf in Klang und Vorgang, überführen sie gleichermaßen in einen dynamischen Zustand, den sie vor unseren Augen und Ohren herstellen. Er wiederholt sich nie, einmalig ist das Gelingen jedes Abends, und doch bringt er etwas zur Aufführung, das zugleich festgeschrieben steht – die in der Gestalt eines Werkes sehr subjektive Wahrnehmung von Welt, wie sie ein Autor oder Komponist einmal empfand und als sein Begreifen des menschlichen Daseins formulierte.
In der Oper sind der Interpretation durch die relative Unverrückbarkeit der Partitur konstante Grenzen gesetzt und der Rahmen der zu erwartenden Innovationen umschließt, trotz des gesamtkunstwerkshaften Charakters jeder Opernaufführung, vor allem den Bereich des Bühnenbilds, der szenischen Arrangements und musikalischen Interpretation. Die Struktur des Werkes jedoch bleibt eisern und schluckt bzw. grundiert den Ehrgeiz jedes Interpreten. So liegt der Reiz der Oper scheinbar vor allem in der musikalisch garantierten Wiederholung des bekannten Werks und in der grundsätzlichen «Unwirklichkeit» ihres eigentlichen Mediums – der Musik. Ihr Drama beflügelt und überspringt zugleich den Intellekt ihrer Interpreten, wobei sie unhintergehbare Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Stimmen oder technischen Virtuosität ihrer Interpreten stellt – entweder man bewältigt die Koloraturen oder Soli, oder eben nicht. Erst jenseits dieses handwerklichen Könnens setzt die Diskussion über die interpretatorische Reife oder individuelle Färbung des verlebendigenden Vorgangs ein.
Wie groß die Unterschiede in der Modalität und im Charakter einer künstlerischen Interpretation zwischen Musik und Sprechtheater sind, obwohl doch beide auf der unmittelbaren Begegnung zwischen notierter Vorlage und ihrer aktuellen Wiedergabe basieren, machte mir unlängst der Besuch einer öffentlichen Probe für ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit Kompositionen von Schönberg, Berg und Webern unter der Leitung von Simon Rattle deutlich. Im Theater sind mir die Gepflogenheiten des Probengeschehens gut vertraut und gerade deshalb scheint es mir undenkbar, dass sich im Sprechtheater dieser intime Vorgang der Kreation eines Werkes für neugierige Besucher öffnet. Jenseits des Textes, und oft auch im Hinblick auf ihn, gibt es wenig, woran sich die Künstler halten können – die Konventionen des Sprechens und Spielens sind weitestgehend abgeschafft, die Wirklichkeit, die durch das Spiel entsteht, bleibt eine von Fall zu Fall erfundene Verabredung, so dass ihre Spielregeln letztlich nur vom Regisseur verbürgt werden – keine Aufführung sieht heute auch nur annähernd so aus, wie die Regieanweisungen des Autors sie entwarf. Weil also die Kreation der äußeren Erscheinung der Welt im Sprechtheater inzwischen so hochgradig subjektiv verantwortet wird, ist der szenische Erfindungsprozess auf der avancierten Ebene des Berufstheaters heute beinahe allumfassend, und dabei beispiellos fragil und intim. Das Publikum hat hier auf den Proben keinen Platz.
Auch der öffentliche Probenprozess der Berliner Philharmoniker hatte einen exklusiven Charakter, geladen waren nur die Freunde der Salzburger Festspiele, aber mir schien, dass er die Anwesenheit des Publikums weit besser vertrug. Und als die Musik anhob, verstand ich schnell, wieso von einem Orchester oft auch vornehm und etwas abstrakt als «Klangkörper» gesprochen wird – jeder Künstler an seinem Instrument ist partiell beteiligt an diesem großen, von Notenpult zu Pult hinwegwandernden Gesamtklang, dessen Etappen und Schichtungen der Dirigent als Verlaufsform der Töne, als zentraler Modulator ihrer Wanderbewegungen in ihrer Intensität und ihren Farben lenkt. Die Atmosphäre auf dieser Probe war hoch konzentriert, wobei das große Festspielhaus kaum verdunkelt wurde – Zuhörer und Musiker saßen annähernd im gleichen Licht und sahen sich sogar ähnlich, wobei die vormittäglichen Probenbesucher eher feierlicher gekleidet waren als die Philharmoniker selbst, die dort oben in ihrer Freizeitkleidung musizierten.
Immer wieder unterbrach Simon Rattle den Fluss des Spiels abrupt, steuerte bestimmte Partien der Partitur an, einzelnen Orchestergruppen, manchmal nur das Zusammenspiel einzelner Instrumente. Seine Hinweise an die Musiker wurden widerspruchslos aufgenommen und nach der korrigierenden Ansage sprang die Probe sofort weiter zur nächsten Problemzone, die aufmerksam analysiert und unter den Beteiligten auf die vom Dirigenten vorgegebene Wirkung hin durchgespielt wurde. Simon Rattle bewegte sich dabei durch die Partitur wie ein Tonkopf auf einem Magnetband, übersprang und wiederholte einzelne Partien, und die Musiker schlugen gehorsam die Noten um, ergriffen die Instrumente und ließen die angewiesenen Passagen erklingen. Im Sprechtheater würde ein solches Regime der Probenarbeit, zumindest auf einem höheren Niveau der schauspielerischen Berufsausübung, zur Verzweiflung führen und als unkünstlerisch empfunden wirken.
Auch im Theater bedarf die Probe einer gewissen Textsicherheit, der intellektuellen Durchdringung des Stoffes und darstellerischen Technik. Aber der Schauspieler muss die Worte eines - durch einen Autor im wahrsten Sinne - vorgeschriebenen Lebens durch seinen Körper hindurchleiten und letztlich selbst «verkörpern.» Das Instrument des Musikers, ob Geige oder Harfe, liegt zwischen ihm und der Musik objektiv in seinen Händen. Was vom Musiker zur Musik führt, ist als Instrument etwas Drittes, bespielt von beidem – Technik und Geist. Das gilt, so glaube ich, sogar für die Stimme eines Sängers. Im Theater ist dieses dritte Element jedoch der Schauspieler selbst. Die Demonstration der schlichten, im Einzelfall unsentimental abrufbaren Machbarkeit, wie sie jeder Philharmoniker auf dieser Probe zeigte, erinnerte mich daran, wie sehr im Theater der Schauspieler selbst zur «Musik» wird. Und wie verletzlich letztlich der Vorgang ist, bis der stimmige Klang des Textes bei in ihm und zwischen seinen Mitspielern zum Vorschein kommt. Im Vergleich dazu wirkte die Philharmonikerprobe erstaunlich profan und professionell zugleich: Immer wieder gingen einzelne Musiker von oder zu ihrem Arbeitsplatz, während Simon Rattle mit stets angewinkelten Armen, ab und an in den Knien federnd, wie ein alles überschirmender Baum auf seinem Pult hin und her wogte: Leidenschaftlich stand er über seinen eigenen Klangschatten gebeugt und bewegte die Arme im Fluss der Musik.
Das Publikum sieht dabei nie das Gesicht des Dirigenten. Es erscheint vielmehr widergespiegelt im Verhalten des Orchesters: Als Choreografie der auf- und abwogenden Streicherbögen, der sich anhebenden Trompeten, zuschlagenden Stöcke und gezupften Saiten, all dies wurde sein Ausdruck. Nur der zurückhallende Klang des Orchesters machte ihn als Person offenbar. Manchmal ließ er die Holzbläsergruppe alleine spielen, begleitet von den Bässen oder dann nur die Blechbläser und Schlagwerker, während er den Streicherklang laut und stellvertretend selber gesungen hat – getragen von einer steuernden Übersicht, und zugleich das Medium des primären Erlebens, die Eichstation des Werkes, das er, allen Musikern voran, in seiner Person aufnimmt und mit der ihm eigenen Emphase weitergibt. Ohne die Supervision des auf seiner kleinen Bühne stehenden Dirigenten würden sich die Klangelemente nie koordinieren und fügen können, auch nicht zügeln und Form halten. Und bisweilen wirkte das Vorerleben der Musik in der Person des Dirigenten so mitreißend, dass jenes kleine Geländer auf seinem Podest weniger dazu erfunden schien, ihn symbolisch zu erhöhen, als vielmehr dazu, ihn im Moment seiner größten Investition an steuernder Leidenschaft davor zu bewahren, nicht jählings von dort oben herabzustürzen.
Ohne Dirigent kein Klang, nur Missklang und Chaos dort drüben. Er war der Agent einer Musik, die sich über die Musiker erhob. Keiner der an dieser Symphonie beteiligten Künstler könnte in diesem Orchester noch aus der eigenen Mitte heraus seinen Einsatz bestimmen, erfassen, was gleichzeitig geschieht und eine Ordnung bilden. Irgendwann, in einer Zeitspanne von rund dreißig Jahren, zwischen den späten Symphonien Mozarts, den großen Symphonien Beethovens und der Erfindung des Taktstocks durch Carl Maria von Weber, setzte sich durch, dass jene neue Musik nicht mehr länger vom Cembalo oder ersten Geiger aus zu steuern ist, sondern eine solche Komplexität entwickelt hat, dass sie einer Art Zentralsteuerung bedarf, die fortan der Dirigent übernimmt.
Man stelle sich vergleichsweise vor, es wäre eine Form von Theaterliteratur erfunden worden, die allabendlich den Regisseur auf der Bühne erfordern würde – als Koordinator und Gewährleistender des literarischen Werkes, das nur durch seine Anwesenheit aufführbar würde. Bekanntlich es ist nicht so gekommen. Oder auf ganz andere Weise vielleicht doch? Wurde nicht auch der Regieberuf irgendwann im ausgehenden 19. Jahrhundert «erfunden», hingegen zuvor selbstverständlich die ersten Schauspieler und Patrone der Truppe den Ton angaben? Irgendwann aber brauchte auch das Sprechtheater diese den Schauspielern gegenüber stehende Zentralfigur, die durch ihr maßgebliches Zuhören und Zusehen alle szenischen Vorgänge justiert, selbst zwar nicht mitspielt, aber doch dafür sorgt, dass ein einheitliches, inspiriertes, in seiner Wahrhaftigkeit nur durch ihn, den ersten und obersten Interpreten, überzeugendes Werk entstehen kann. Allerdings verschwindet der Regisseur mit der Premiere aus dem unmittelbaren Geschehen und überlässt es wie eine komplexe Maschinerie am Ende dem eigenen Funktionieren. Er löst sich auf in die durch andere realisierte Aufführung des Werkes, und bleibt fortan lediglich durch den Stil und die Deutung des Werkes in seiner Inszenierung präsent.
Das Wunder des Zusammenklangs entstand auf dieser Philharmonikerprobe offenbar nur aus Konzentration und Virtuosität – ohne Innerlichkeit. Was man als solche beschreiben könnte, konzentrierte sich völlig in der Arbeit des Dirigenten, der mit seiner Klangvision und den daraus resultierenden Anweisungen die Wirkung der Musik forcierte. Jede seiner Bewegungen machte deutlich, wie montiert die Wirkung des Ganzen ist, insbesondere, wenn er einzelne Musiker in ihrem Spiel aus dem Gesamtklang hervorhob. Nach der Probe des Schönbergschen Finales sagte Simon Rattle schließlich lachend und leise ermahnend: «The silence should be louder after this…»
Der Dirigent ist der erste und primäre Interpret, der das Werk in einem Akt von wiederholender Erfindung aus der Sphäre seiner Imagination in einen kollektiven, durch ihn verantworteten Klang verwandelt – getragen vom Klangkörper des Orchesters, wodurch es nicht mehr nur innerer, eingebildeter Klang ist, sondern ein akustisches Geschehen, das tatsächlich von der Materie der Instrumente und vom Geist der Musiker Besitz ergreift. Sie werden von einer Idee ergriffen, die nun auf vielfache Weise eine Resonanz erzeugt, welche schließlich auf den Hörer übergreift. Dieser physischen Realität steht der Dirigent gegenüber und bespielt sie mit dem Spiel seiner Imagination, inspiriert durch das Werk eines Komponisten, das vorsätzlich seiner bedarf. Was aufgeschrieben stand, ist eine Idee, nach der sich das Materielle, die Zusammensetzung des Orchesters und sein inneres Verhalten, organisiert – durch den Dirigenten. Und während Simon Rattle mit seinen Musikern weiter an der Partitur Schönbergs arbeitete, studierte die Dame neben mir die Kulturbeilage der Wochenendzeitung und gähnte hinter mir ein übermüdeter Besucher sein Desinteresse unüberhörbar laut hervor, während vorne, im Orchester, einer Geigerin, als der riesige Holzhammer des Perkussionisten zuschlug, vor Schreck der Bogen aus der Hand fiel. Und dann war alles schnell vorbei – ein kurzes Händeschütteln zwischen erstem Geiger und dem Dirigenten, das Orchester erhob sich und die Besucher auch.
Kein Roman, kein Gedicht, kein Gemälde und keine Skulptur bedarf eines Interpreten, um «wirklich» zu werden – unmittelbar spricht es zu seinem Leser oder Betrachter. Opern, Konzertpartituren, Choreografien oder Schauspiele brauchen jedoch diese professionellen Interpreten, sie bedürfen unserer Stellvertreter auf der Bühne, die besondere Qualifikationen besitzen, besondere Techniken und persönliche Eigenschaften, um für uns zum Medium dieser Werke, und zugleich zu deren eigentlicher Stimme zu werden. Sie lassen sich von diesen Überlieferungen bespielen wie die hardware eines computers von neuer software, um schließlich alles Technische hinter sich zu lassen und ihre Gefühle, ihren Intellekt und ihr Dasein über die private Existenz mit etwas Anderem kurzzuschließen. Nur hier, im Werk der Interpreten, zeigt sich, wie Botho Strauß dies nannte, im Leben des Einzelnen der Durchschein eines anderen, größeren Lebens. Ob Dirigent, Regisseur oder Choreograf: Sie kreieren ein soziales Zusammenspiel zwischen Menschen, die sich in eine ihnen vorgeschriebene, aber sie zugleich auch über sich selbst hinausführende Form des Lebens hineinbegeben. Sie stehen inmitten einer Begegnung mit etwas, das älter ist als sie, erbarmungsloser, mutiger, und dann doch auch wissender. So erzeugen gute Theaterabende Pausen, in denen die Stille «laut» wird und in ihnen erklingt etwas, oder klingt etwas nach, wofür diese enorme Aufwand letztlich betrieben wurde: Inmitten der eigenen Stadt, ihrer Bewohner und Zeit, aus ihr heraus zu kommen und doch auch zu sich selbst, auf die Höhe der eigenen Aktualität und Herausforderungen des Lebens.
Generalanzeiger Bonn, 28.Oktober 2010