«Die Welt, die in den Worten liegt.»
Gespräch über Peter Handke mit Andrea Schurian
Der Standard, Wien, 23.7.2011
Andrea Schurian: Ihre Salzburg-Zeit haben Sie mit «Ein Fest für Boris» von Bernhard eröffnet. Am Ende steht die Handke-Uraufführung «Immer noch Sturm». Welchem Dramatiker geben Sie den Vorrang?
Thomas Oberender: Ganz sicher Handke.
AS: Was schätzen Sie an Thomas Bernhard?
TO: Er hat sich keine Form von Positivität gestattet. Das ist beeindruckend. Im Zentrum steht der Satz: Man ist allein. Bernhard hat seine Lungenkrankheit überlebt und seine Kindheit, um diesen Satz zum Werk werden zu lassen. Schön ist bei ihm immer die Gestalt. Auch die von Bernhard selbst. Er war ein schöner Mann, gut gekleidet. Schön war sein Haus in Ohlsdorf. Dieser Vierkanthof war seine gelungenste Aufführung: ein Haus für sich allein, das mit Schönheit tröstet.
AS: Das Besondere an Bernhard ist sein spezieller Sprachduktus, seine Melodie.
TO: Das ist wie bei einem guten Musiker: Sie erkennen ihn am Sound. Er war musikalisch, eigentlich ein Lyriker. Das Bewusstsein, dass man aus sich nicht herauskann, gibt seinem Schreiben den Grundton. Das Besondere ist Bernhards Konzentration auf die Pausen, das Alleinsein zwischen den Worten. Er ist ein Dichter der Pausen - nicht aus Manierismus, sondern weil es um diese Einbrüche geht, und sie ereignen sich bei ihm ständig. Nicht erst am Schluss. Wenn man sich diese frühe Erfahrung des Alleinseins anschaut, glaube ich, dass man Bernhard einen existenzialistischen Autor nennen kann. Angst, Tod, Ekel, Langeweile oder Scham - das sind seine Themen, und sie bezeugen bei ihm den Menschen: als Produkt, als Zugerichteten.
AS: Und Handke?
TO: Ist wahrscheinlich das Gegenteil. Niemand will sein Leben haben, heißt es in Bernhards Erzählung «Gehen». Handke will das Leben haben. Sein Leben. Und schenkt es seiner Mutter zurück, die darum betrogen wurde, in seinem Roman «Wunschloses Unglück», oder seiner slowenisch-kärntnerischen Familie, die er nicht in Ruhe lässt, bis er ihr Leben gegeben hat, ein Leben, das für den toten Bruder der Mutter, der im Krieg gefallen ist, nicht mehr stattfinden konnte. Er war derjenige, der in der Familie als Einziger zuvor ein Buch geschrieben hatte, über Apfelzucht, ein Mitschriftenbuch aus der Landwirtschaftsschule. Dieses Buch hängt in einem Zimmerwinkel von Handkes Haus. Handkes Literatur hat viel damit zu tun. Die Wiederholung ist eine Reise zu diesem Gregor, dem toten Onkel, der sein Bruder wurde, ihm sein Land zeigte, das immer auch Züge eines Traums besitzt. Diese private Mythologie, die Handke im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat, ist der Versuch, sich sein Leben nicht nehmen zu lassen. Mehr oder weniger leben alle seine Figuren wie er als Dichter. Er versetzt sich nicht wie Bernhard in eine bürgerliche Welt, um ihr die Masken vom Gesicht zu nehmen, sondern es ist sein Leben, das er haben will, seines. Peter Handke ist als Künstler einen wirklich weiten, erfindungsreichen Weg gegangen. Die Wandlungen zwischen dem frühen, mittleren und späten Handke sind viel entwicklungsreicher als etwa bei Bernhard.
AS: Handke ist immer wieder mit Franz Kafka verglichen worden, dessen Brief an den Vater allerdings keine Liebesrückerstattung war, sondern bittere Anklage.
TO: Ja, es gibt, wie bei Bernhard, Großväter, aber eigentlich läuft in seinen Büchern jemand vaterlos durch die Welt und versucht, es selbst zu schaffen. Man wird ja nicht Vater, nur indem man ein Kind bekommt. Man muss im Besitz von etwas anderem sein. Das Poetische ist für Handke nicht das Nebulöse, wie er sagt, sondern sein Gegenteil: das Verbindende - der Anstoß zum gemeinsamen Erinnern. In seinem Roman Der große Fall gibt es den vielleicht schönsten Brief, den je ein Vater an seinen Sohn geschrieben hat. Handke ist sicher ein komplizierter Vater, aber er ist einer. Das war Kafka nicht. Die Lebenssituationen beider könnten nicht unterschiedlicher sein: der Versicherungsangestellte Kafka und der hochbegabte Goethe unserer Zeit. Er ist im jugendlichen Alter zu Ufern aufgebrochen, an die niemand so einfach hinterherschwimmt. Kafka war ein ähnlicher Erfinder, einer, der auch kühl blieb und das Märchenhafte in den Fakten sah. Lucie im Wald mit dem Dingsda - das ist als Märchen nah an Kafka, und zugleich ist es völlig heiter.
AS: Inwiefern ist Handke als Goethe von heute zu bezeichnen?
TO: Im Sinne einer Jahrhundertbegabung und immensen Produktivität. Mir erscheint diese Form von universeller Neugier, die das Schaffen von Handke prägt, vorbildlich. Auch als Siebzigjähriger verkörpert er ein Ideal an Jugendlichkeit. Er ist ein wissensfroher, ein lesender und lernender Dichter. Wenn Sie Der Chinese des Schmerzes betrachten, ein Buch, das in Salzburg entstand, werden Sie entdecken, wie konkret es ist. Er hat die Geschichte der Stadt studiert, ihre Morphologie in jeder Hinsicht, die Geschichte der Gesteine, aus und auf denen ihre Häuser errichtet wurden. Handke ist enorm fleißig, nicht im Sinne von beflissen, sondern im Sinne der Sorgfalt. Dieses Pensum des Studiums, das sich beiläufig im Erzählen äußert - das ist das Gegenteil des Nebulösen, das man mit dem Dichter gerne verbindet. Handke ist sehr genau. Und er war Pop, was Goethe durch seinen Werther wurde, und wenn Sie so wollen, hatte auch er seine Italienreise, die ihn, nach Jahren der Schreibhemmung, in die Welt führte und als Künstler neu geboren hat.
AS: Sie haben gemeint, es gäbe keinen größeren Unterschied zwischen einander fremden Autoren als den zwischen frühem und spätem Handke.
TO: Ich geniere mich unendlich, wenn Sie mich über Handke ausfragen. Ich bin da ein unseriöser Leser. Ich zähle mich nicht zur «Familie», die mit ihm groß geworden ist und seinen Weg geht, mir fehlen viele Etappen. Wenn ich ein Stück lese wie Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts, dann spüre ich eine Wiederbegegnung des späten Handke mit dem jungen. Es ist ein Selbstporträt, gespiegelt in dem großen Monolog einer Frau, die um ihre Liebe zu ihm ringt. Es ist der Versuch zu beschreiben, was er an sich selbst lieben kann. Sie müssen als Autor damit leben, was Sie geschrieben haben. Es ist bezahlt mit einer Art von Verrat. Der späte Handke schaut auf diesen jugendlichen Spieler, der die Welt als Zeichen liest, ihr Spiel inszeniert, die Diskurse bloßlegt, die Regeln angreift, und stellt ihm die weibliche Empfindung des Augenblicks entgegen. Es ist eine Form von Abbitte. Sie beschreibt seine Lebensstrenge, Unerreichbarkeit, seine Tödlichkeit für ihr eigenes oder das Leben um ihn herum, und der Abend, den er ihr geschrieben hat, ist ein Strom der wahren Empfindung, eine Bitte um Verzeihung für die Kosten des Projekts. Und: Sie gewährt sie. Sie spürt das Lebenswahre darin. Sie hält es aus, er kann nicht anders, darin ist er wahr. Das verbindet sie, es ist sein Leben an ihrer missachteten, aber auch gefeierten, unerreichten Seite.
AS: Ist Ihnen das bei der Lektüre klar? Im Hinblick auf das Lebensalter des Autors, den Punkt, den ein solches Werk in seinem Leben markiert?
TO: Schon. Hier zeigt sich der späte Handke. Als eine Geste der Abstoßung von sich selbst. Wenn Sie sich die frühen Stücke von ihm anschauen, einen Paukenschlag wie Publikumsbeschimpfung, aber auch die Serie der Sprechstücke, Handke war vierundzwanzig, dann wird klar, aus welcher Kälte und Lust heraus dieser junge Mann irrsinnige, im Grunde handlungslose Formen schuf: Er dramatisiert die Welt der Worte, weil sie selbst eine Welt sind. Insofern hat er sich überhaupt nicht entwickelt - alles war da, sofort. Es gibt ein vom jungen bis zum alten Handke hindurch wirkendes Motiv der Auserwähltheit, dessen sich der Auserwählte sicher ist. Das hat man oder hat man nicht. Es gibt auch Phasen seines Lebens, da dieses Gefühl ihn verlässt, Jahre des Verstummtseins, der Panik. Aber Handke hat sehr früh eine zweifellose Bestimmtheit seines Daseins empfunden. Es geht in diesen Texten, wie Handke sagt, um die Welt, die in den Worten liegt. Er greift ihren gestisch-theatralischen Charakter auf - die Form der Beschimpfung, des Hilferufs oder der Weissagung. Sie handeln von nichts, sie wollen, sagt er, keine Revolution, sondern aufmerksam machen. Handke hat, glaube ich, mit sechsundzwanzig den Büchner-Preis erhalten und hatte an die zwanzig Bücher veröffentlicht. Er dankte der Jury für den Preis «und Büchner für mehr». Sehen Sie seine Raffinesse? Wer sind wir, wenn wir über ihn reden? Alte Leute. (…)
AS: Sie klingen aber so, als wären Sie doch Teil seiner Familie.
Oberender: Ein uneheliches Kind vielleicht. Seine Romane empfinde ich als großes Geschenk und bisweilen deutlich als Vorwurf.
AS: Geschenk kann ich nachvollziehen. Aber Vorwurf?
TO: Die zentralen Figuren seiner Romane sind Wiedergänger seiner selbst, sie exemplifizieren seine Art zu sein. Beim Lesen habe ich bisweilen das Gefühl, dass er von mir als Leser eigentlich wegwill. Von Menschen, die sind wie ich und nicht wie er. Sicher ist das übertrieben, das Schuldgefühl, falsch zu leben, das manchmal aufsteigt, wenn ich ihn lese.
AS: Falsch leben inwiefern?
TO: Die Lebenshaltung dieser Figuren ist konsequent die des Autors. Er hat sich, stellvertretend, freigemacht. Wir gehen mit ihm auf die Reise. Niemand wird Sie mehr sehen lehren, frecher stimmen. Nur bin ich ein Behinderter an seiner Seite.
AS: Ist das nicht Ihr Problem? Ihr privates Handicap?
TO: In «Wunschloses Unglück» zeigt Handke jenes private Handicap als gesellschaftliches, als das Unglück unseres In-eine-bestimmte-Welt-eingeboren-Seins. Es ist ein Roman über seine Mutter. Er selbst erscheint als Folie, die über dieser Geschichte liegt und durch die wir, mit ihren Kratzern und Knicken, auf das Leben dieser Frau schauen. So wie Handke als Autor lebt, als Wanderer, als Reisender, als Lesender, als Sympathisant von vielen Dingen, die man nicht programmieren, sondern als Daseinsform nehmen muss, ist das nur einnehmend. Gemessen an dieser radikalen Sicht auf das, was im Leben wohl lebenswert ist, vergeuden wir anderen zu viel Zeit. Handke dient nie, niemandem. Was nicht stimmt - dem Dasein schon. Er nimmt ein hohes Maß an Einsamkeit in Kauf, um diese Freiheit leben zu können. Freiheit von dem üblichen Verständnis von Familie, von Heimat, wahrscheinlich sogar Freundschaft, obgleich er treu ist und generös sein kann. Jede Beziehung in seinem Leben verwandelt er in ein Element dieses Projekts. Aus diesem Überdasein rührt seine einzigartige Fähigkeit zur Beobachtung, Notation, Hingabe und Selbstauflösung ins Medium der Sprache selbst.
AS: Manchen Menschen ist Handke zu moralisch, fast katholisch. Als müsse man sich erst verdienen, von Handke als Leser akzeptiert - und erlöst - zu werden.
TO: Ich glaube, das sieht er auch so. Ich meine nicht im Sinne von Erlösung, aber dass man es sich verdienen muss. Wer über oder gar mit ihm reden will, muss ihn lesen. Ich denke oft an einen Satz von Brodsky, der sagte, dass das Exil die stilistische Entwicklung eines Schriftstellers verlangsamt, dass es ihn konservativ macht. Peter Handke hat diese Lebenssituation seit über zwanzig Jahren selbst gewählt, ähnlich übrigens wie W.G. Sebald, der als junger Mann nach England ging und ein Deutsch schrieb, das nach Stifter klingt. In Immer noch Sturm reist Handke in seine Familiengeschichte zurück, es ist ein Traumspiel, die Begegnung eines alten Mannes mit den Vorfahren.
AS: Sie haben Handkes Stück «Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts» in der Spielzeit 2009 uraufgeführt. War es schwierig, seine Einwilligung zu bekommen?
TO: Dafür nicht, nein. Zu Beginn meiner Arbeit in Salzburg las ich sein Stück Spuren der Verirrten - ich empfand es als eine Art Salzburger Welttheater. Aber Handke sagte mir klar, dass es lebensgeschichtlich eine Beziehung zu Claus Peymann gibt, dass die Uraufführung bei ihm liegt. Mit Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts hatte es eine andere Geschichte auf sich: Ich hatte Handke in seinem Haus in Chaville besucht. Wir kamen ins Gespräch über Beckett, und nach meiner Rückkehr nach Salzburg schickte ich ihm einen Essay, den ich über Beckett geschrieben hatte. Er sandte mir dieses Stück in seiner ersten Fassung und fragte mich, ob ich daran interessiert sei. Ein Jahr später haben wir das Stück dann bei den Festspielen im Landestheater zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht.
Der Standard, Printausgabe, 23./24.7.2011