«Ach, Geschichte. Ah, Leben.»
Wie Geschichte erzählen?
von Thomas Oberender
(…) Shakespeare führt Peter Handke wiederholt als Beispiel dafür an, wie der Transfer von Geschichte ins Drama gelingen kann. 1991 hat er Shakespeares Wintermärchen übersetzt und 15 Jahre später die Narrenlieder aus King Lear. In dessen dritten Akt lautet eine Regieanweisung «immer noch Sturm», «storm still». Das Stück zeigt einen ähnlich alten Mann auf einer Heidewiese wie Peter Handke und sein Erzähler-«Ich» sagt etwas Merkwürdiges: «Ich bin es, der euch das Recht in seine Hand nimmt, das Alte Recht.» Er sagt von sich, er sei der «Spielleiter», mehr noch - der Stellvertreter, jener, der für sie, «seine Leute», die Geschehnisse richtet: «Ich bin die Macht». Und dafür haucht er den Toten Leben ein. «Es herrscht weiterhin Sturm. Andauernder Sturm. Immer noch Sturm. Geschichte: der Teufel in uns, in mir, in dir, in uns allen, spielt Gott, höchste Instanz, höchstes Prinzip. Und Summe des Unrechts wird Summe des Rechts. Ja, wir haben das Unrecht begangen – das Unrecht, hier, gerade hier, geboren zu sein.»
Die Heidewiese, die für Shakespeares König ein Ort der äußersten und symbolischen Verlassenheit ist, ist jener unspektakuläre Flecken Heimat, um den der Erzähler Handke mit aller Beredtheit unbeirrbar kämpft. In Shakespeares King Lear verwandelt der Sturm jenen mächtigen, einsamen Mann, der bis eben noch König war, zur schutzlosen Kreatur und somit in einen Menschen, der zur letzten Einsicht findet, indem er den Verstand verliert. Diese Art Sturm weht bei Shakespeare, von Hiob her, vielleicht. Über Peter Handkes Jaunfeld weht der Sturm der Geschichte, der zum Krieg führte, zum Jauk, wie es im Stück heißt. Er ist ein Sturmtreiben «fast ohne Geräusch» im Bühnenhintergrund, wo «ein anderes Licht» herrscht, in dem einige Male ein Defilee herbeigewehter Figuren erscheint, die alle durcheinander stürzen, «als werde ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen.» Ein Mal schwenkt eine der Gestalten eine riesige Hakenkreuzfahne, durch deren herausgeschnittenes Nazizeichen der Sturm bläst. «Und was passiert mit dem Fahnenträger? Nichts, gar nichts.» Das ist der Sturm, auch das, vielleicht vor allem das.
Die Großeltern und ihre fünf Kinder sind am Ende von Peter Handkes Drama allesamt verwandelt, oder tot. Die versöhnliche Großmutter, die stets den Ausgleich suchte, schickt, nachdem zwei ihrer Söhne an der Front gefallen sind, den Dritten, als er halb verhungert die Partisanentruppe verlassen will, da er vom Kampf zermürbt ist, zurück in den Schnee. Ausgerechnet sie. So wie sich die Mutter des Erzählers ausgerechnet in einen Deutschen verliebt, und im Krieg lernt, das Deutsch, die Sprache und das Wesen des Volkes ihres Geliebten, zu verlachen. Während wiederum ihre finstere Schwester Ursula, die als erste in der Familie zu den Partisanen ging und das Bastardkind ihrer Schwester verachtete, späterhin, in den Bergen, auf der Flucht vor den Deutschen, eine Sehnsucht nach dem Schwesterkind entwickelt und im Kampf begreift, dass sie nicht töten kann. Sie stirbt als Märtyrerin im Blick auf ihre Folterer. Hingegen ihr einäugiger Bruder Gregor schließlich, der besonnene und friedfertige Obstbauer, in den Bergen jener gefürchtete Kommandeur wird, der töten kann, auch die eigenen Leute.
Es gibt viele Polaritäten, die dieses Stück prägen. Für mich sind es vor allem zwei – Schuld und Liebe – die ihm eine besondere Dimension geben. Die der Tragödie resultiert aus der Schuld: Weil die eine einen Deutschen geliebt hat, oder der andere seine Schwester nicht retten konnten, Schuld für die Toten, das Zuspätkommen, am Kummer der Eltern. Und Tragödie eben auch, weil die slowenischen Sieger um den Sieg betrogen wurden, ihr befreites Land, ihre Sprache. Dem entgegen steht jene andere Kraft: die Liebe. Es ist das Wort, das der Erzähler anführt, um die Figuren der Tragödie aus der Verbitterung zu lösen. In diesem Stück ist Liebe ein ständiger Kampf – etwas, das verteidigt werden muss. Der Erzähler selbst wird, als Sohn eines Wehrmachtssoldaten und einer Slowenin in Kärnten, wiederholt ein «Kind der Liebe» genannt, einer Liebe, die sich über alles Trennende hinwegsetzt. Dieser «Ich»-Anteil des Autors Peter Handke in der Figur des Erzählers ist unübersehbar und damit auch ihre versöhnungs- oder friedensstiftende Funktion. Dieser Erzähler holt die Unterwelt zurück auf die Familienwiese hinterm Haus, nicht um sich die Zukunft weissagen zu lassen, sondern um die Vergangenheit in neuem Licht zu betrachten. Und diese Begegnung gelingt! Anders als in Homers Odyssee, wo es lange dauert, bis Odysseus seine Mutter Antikleia vom dunkelwolkigen Blut trinken lässt, weil er im Hades lauter Nützliches zu erledigen hat. Seine Mutter entgleitet ihm darauf hin trotzdem aus seinen Händen in Richtung Unterwelt, «einem Schatten oder auch einem Traum» vergleichbar. Dem Zeitreisenden in Peter Handkes Stück geht ganz im Gegensatz dazu um nichts, was er außerhalb dieser Gemeinschaft der Toten finden könnte, in die er sich auf diesem Jaunfeldflecken Bühnenland begibt. Er muss sie, um sie dem Hades zu entreißen, mit seiner Liebe erlösen, als Erzähler, als Bote, was ihm nicht gelingt, nicht ganz. Darin gleicht er vielleicht weniger Odysseus, als Orpheus.
Peter Handke nennt den Erzähler dieser Familiengeschichte, der am Ende die Regie des Ahnenreigens selbst in die Hand nimmt, wie gesagt «Ich». Es ist ein «Ich», das die politische Geschichte in ein Märchen wendet und dem Sturm ein Stück Heimat abtrotzen will. Das Recht, das dieses «Ich» in die Hand nimmt, verdankt sich der poetischen Selbstermächtigung des Erzählers – er gibt sich am Ende des Stückes zu erkennen als jenes «Ich», das die Geschehnisse insgesamt lenkt. Da kann der geschichtsverdrossene Gregor, dessen Partisanen den Krieg zwar gewonnen haben, aber von den Siegermächten doch wieder um ihren Sieg gebracht wurden, noch so viel ins Gesicht schimpfen. Das Erzähler-Ich wirbt weiter gegen die verlorene Geschichte um das heilsame Märchen, welches eben diese Geschichte niemals verloren gibt. Ich wüsste kein Stück, das je zuvor den Autor selbst so als epische Stimme und dramatisch Mitverwickelter ins Geschehen holt. In der Belletristik sind wir daran gewöhnt, eine Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt bekommen und erleben in ihrem Verlauf, dass dieses «Ich» sich näher vorstellt. So geschieht dies auch in Peter Handkes Drama, wenngleich dieses «Ich» in diesem Falle nicht allmächtig ist, sondern von der selbst erschaffenen Welt auch gespiegelt und als Fremder betrachtet wird. Im Drama ist es ein Gesetz, dass die handelnden Figuren im Präsens sprechen, also ein «Ich» sein müssen, das im Hier und Jetzt agiert. Dieses «Ich» des Dramas ist in der Regel eine Figur, die derjenige, der sie geschrieben hat oder spielt, nicht ist. Wenn nun jedoch ein Autor «sich» auf Bühne stellt, und, um das Paradox zu verdoppeln, «sich», inmitten seiner Angehörigen, auch noch «selbst» begegnet, so steht der Erzähler also außerhalb des Universums seiner Figuren und zugleich in ihm.
Die «göttliche» Position des «Ich»-Erzählers hat sich somit in die Welt der Figuren verschoben, in die Tatsachenwelt, und durch diesen, sagen wir, semantischen Trick entsteht eine Form von Präsens, in der jene superiore Position des Erzählers, die im übertragenen Sinne «göttlich» genannt wird, sich auflöst wie ein Aspirin im Wasserglas. Es entsteht eine fließende Form von sich aktuell überprüfender, selbst herbeiführender Gegenwart, die als permanenter Prozess erfahrbar wird, als etwas, das augenblicklich ist, nicht vorgefertigt. So wurde Geschichte, nach meinem Wissen, noch nie dramatisiert. Das Brecht’sche Vor- oder Ausstellen der Verhältnisse wirkt dem gegenüber vergleichsweise grob und auch unehrlich, schließlich stehen wir diesen Verhältnissen nicht gegenüber, sondern sind mitten in ihnen und ständig mit ihrer Herstellung beschäftigt. Daher also bei Peter Handke diese ungeheure Mobilisierung von sinnlicher Gegenwart und realer Begegnung in diesem Stück, seine Spiele, die Fülle der Details, die der Autor unter den Menschen sammelte. (…)