«Eine Geste, in der sich etwas lichtet»
Der Regisseur Jürgen Kruse
von Thomas Oberender
Wolfram Koch (Mitte), in «Klassenfeind», Regie J.Kruse, Bochum
Ich kam erst knapp vor Vorstellungsbeginn ins Schauspielhaus Bochum und hatte keine Zeit, um ein Programm zu kaufen. Ich fragte meinen Nachbarn, einen jungen Mann von ca. achtzehn Jahren, Lederarmband, Nickelbrille, enges Shirt, ob er mich auf seinen Besetzungszettel schauen lässt; klar, sagt er, und ich frage, ob er weiß, wann die Pause ist; er sagt, keine Pause; ich sage, du kennst wohl die Aufführung und er sagt, ja, ich sehe sie heute zum dritten Mal – bei ihm, wobei er nach vorn, in Richtung Bühne deutete, muss man die Inszenierungen mehrmals sehen, weil so viel passiert und man erwischt einfach immer nur einen Teil und kommt dann wieder für den Rest. Und nach dieser Ansage, bei der ich zum ersten Mal einen jener echten Jürgen Kruse Fans zu hören bekam, die wirklich jede Arbeit dieses Regisseurs kennen, begann die Aufführung von «Klassen Feind» von Nigel Williams.
Nicht nur die Fans dieses Regissseurs haben sich das Stück mehrfach angesehen, es ist auch mindestens dritte Inszenierung des gleichen Stückes durch Jürgen Kruse selbst. Als ob auch er jedesmal eine neue, weitere Schicht freilegt an diesem Text und sein eigenes Aufführungsgewebe an Arrangements und Bildern weiter ver dichtet, traumhafter werden läßt.
Denn die Inszenierungen von Jürgen Kruse zeigen auf der Bühne keinen nachgestalteten Alltag eines Lebens, das so aussieht wie das Leben draußen, vielmehr haben seine Arbeiten ihr eigenes Leben - sie imitieren nichts, sie sind konstruierte Theaterwelten: Jeder Moment ist hier voller Echos aus Filmen, Platten und Fotos, die ein dynamisches Bilder ergeben, ein Tableau, das sich ständig wandelt. Jürgen Kruse inszeniert in seinen besten Arbeiten kein «Stück», sondern Schichtungen, die sich an bestimmten Stellen lichten. Und diese Stellen sind die Drehpunkte der Literatur, sind treffsicher das Herz eines Textes. Jürgen Kruse inszeniert, ohne werktreu sein zu müssen, die Stücke haargenau, denn er inszeniert nicht die Idee der Stücke, sondern die durch sie und ihre Autoren hindurch wirkende Idee.
Jürgen Kruse zählt zum Typus der Dichter innerhalb der Theaterkünstler. Für diese Poeten der Bühne ist der Text der Echoraum vieler Sprachen, eben auch der Bilder, Klänge und Bewegungen, die jenseits der Sätze entstehen. Peter Stein «erfüllt» einen Text, indem er luzide zeigt, was sich in der verlebendigten Literatur von der Welt verstehen läßt. Regisseure wie Jürgen Kruse oder Klaus Michael Grüber arbeiten anders. Ihr «Verstehen» ist das Ergebnis eines anderen Wissens und Sprechens – sie lassen den Text in etwas aufgehen, das sie durch den Text hindurch erspüren durch ihre eigene Sprache zum Ausdruck bringen, die einer eigenen Grammatik folgt und eine unverwechselbare, mit ihrem einmaligen Sehen und Hören verbundene Schönheit hervorbringt.
Licht fällt auf die Bühne von Jürgen Kruse wie Sonne durchs Herbstlaub. Meist bricht es aus Scharten hervor, leuchtet weich durch Gaze und Folien, strahlt von Kerzen oder Spots. Die Wände, oft als Fluchten diagonal in den Raum gestellt und auf den Zuschauer in aller Dunkelheit zufahrend, haben Fenster und transparente Flächen und die Wahrheit dieser Räume ist nie abbildungsecht, sondern eine seelische. Die Wahrheit dieser mit Requisiten und Fundstücken überfüllten Szenenbilder ist die einer Halluzination, die ein anderes Leben freisetzt, ein für Momente befreiendes. Dafür inszeniert Jürgen Kruse das ihn bezeichnende Zwielicht, sein typisches Dämmerlicht, sein Höhlendunkel. Dafür inszeniert er Schwebezustände wie die alten flämischen Maler als Schattenwelt mit unendlicher Farbtiefe.
Das Beiläufige ist auf der Bühne, wo alles immer geplant und bedeutsam zu werden droht, das Schwierige. Bei Kruse passiert es unbemerkt, irgendwo zwischen den Anklängen und pausenlosen Übergängen. Da seine Szene fast immer im Halbdunkel bliebt, ist die Wirkung seiner Szenenbilder stets gemäldehaft – wir sehen kein Schwarzweiß, auch im seelischen Sinne, sondern die weichen, braunen Farben Rembrands, das gesamte Spektrum des Rot. Anders als in den «fotografischen» Inszenierungen anderer Regisseure ist in seinen Stilleben das Bild dennoch immer dynamisch: Es gibt keine «toten» Stellen, keinen langweiligen Punkt auf der Fläche, alles ist gestaltet und ständig im Übergang – unmerklich verändern sich die Farben, die Tonspur, die Figurationen der Darsteller, die Zonen von Hell und Dunkel. Ständig passiert mehr, als im Augenblick zu erfassen ist. Und irgendwas entgeht einem immer, aber das so ist es im Leben.
Jürgen Kruse liest einen Sprachgestus von der Straße auf und schafft es, dass die Schauspieler ihn mit den geschliffen artikulierten Vers eines Stückes von Hebbel verbinden, während im Hintergrund eine Figur mit Sprüchen von Otto Walkes witzelt – diese Vielstimmigkeit ist genauestens arrangiert ist und hilft, der Tragödie den Weg zu bahnen. Anne Tismer spielte in den Aufführungen dieses Regisseurs nach den Regeln eines «alten» Theaters, aber in einer Struktur, die moderner ist, von Wahrnehmungsverschiebungen geprägt wird, von der permanenten Simultanität visueller, akustischer und körperlicher Erzählebenen und der Kontraktion dieser ständig vorwärtsgleitenden Stränge zu abrupten Umschlagpunkten des Gefühls. So wandert in Jürgen Kruses Instenierung von Albert Camus «Das Missverständnis» die Aufmerksamkeit des Betrachters auf der Klangebene vom Meeresrauschen über Katzengejaule und Babyschreie zu Texten aus dem alten Testament, Popsongs und dem vielfach phrasierten Stücktext; visuell streift das ruhlose Sehen durch die Licht-und-Schatten-Landschaft der transparenten Zimmer und dunklen Ränder des Bühnenraums. Jede Aufführung kämpft bei Jürgen Kruse aufs Neue und wie beim ersten Mal darum, dass das Theater «wirklich» wird, weh tut, schön ist. Und in der kontrollierten Überfülle tauchen Bilder auf, die sehr alt sind – die sich berührenden Finger aus Michelangelos Fresco oder Cranachs Schlange, die sich um eine Säule windet: «Repräsentation» erzeugt in dieser Höhle kein Abbild, sondern einen ständiger Fluß von Werden und Vergehen, also einen Prozess, der etwas Autonomes kreiert.
Ich sah von diesem gerne als «Rock n’ Roll – Regisseur» titulierten Magier immer wieder Interpretationen altbekannter Werke, die plötzlich drängend aktuell und nah wirkten, und doch ganz ohne tagesaktuelle Seitenhiebe und journalistische Querverweise auskamen. Die Tragödie ereignet sich bei Jürgen Kruse im Banalen. Gespenstisch ist das Normale, in dem auf einmal eine andere, fremde, erstaunliche Mechanik sichtbar wird. In seiner Inszenierung von Hebbels «Maria Magdalena» zum Beispiel macht niemand etwas falsch, sondern geschicht alles nur zur falschen Zeit. Man kann Tragik auch so begreifen. In seiner Bearbeitung und Inszenierung von Nigels’ «Klassen Feind» sah ich lebensfrohe Unglücksraben, die Vergrößerung der Traurigkeit in Verzweiflung, von Spaß in Brutalität und ich sah zugleich etwas Reines, Antikes, Tragisches: Helden, die ein Schicksal haben, es auf sich nehmen und nicht aus der Welt schaffen können.
Jürgen Kruses Inszenierungen sind gut dazu angetan, den Realismusdebatten das Beispiel einer Form vorzuhalten, die weder lebensecht noch vollkommen emanzipiert von der Literatur ist. Zugleich ist sein Theater lässig, unterhaltend, voller guter, selten gehörter Musik - Pop, Rock und Barock. Es ist ein sorgsam eingerichtetes «Zuviel», das von ihm auf die zwei, drei wichten Momente angelegt ist, in denen etwas zerspringt. Das Theater dieses Regisseurs ist nie in der Totalität der Geschehnisse zu erfassen und wirkt deshalb auch nicht totalitär oder überwältigend. Vielmehr inszeniert es ein Gleiten und Schweifen der Wahrnehmung, die an den aufmerksamen Zuschauer und seine Fähigkeit, selber Entdeckungen zu machen, glaubt. Ein ganzer Abend dient bei Jürgen Kruse mitunter nur als Vorspiel eines kurzen Augenblicks, um den es wohl eigentlich geht – um eine Geste, in der sich etwas lichtet.
Kurzfassung in: Frankfurter Rundschau, 30. Juli 2000