«Was ist ‘Macht’?»
Interview mit Andrea Marggraf in dem Feature
«Da geriet ich in Furcht - Mächtige Begegnungen»
SWR2, April 2014
Auszug:
«Canettis Gedanke, dass die Gnade ein sehr hoher und konzentrierter Akt der Macht ist, verdeutlicht, dass Gnade der Ausdruck absoluter Souveränität ist. Nur der Stifter des Gesetzes kann das Gesetz außer Kraft setzen. Oder er kann die Außerkraftsetzung des Gesetzes als Teil seiner Souveränität definieren. Das ist ein anderes Wort für Gnade. Gnade heißt, nicht den üblichen Regeln folgen, sondern ein höheres Prinzip einführen und berücksichtigen. Und das ist der absolute Autoritätsbeweis. Gnade zeugt von Überlegenheit. Von einer superioren Position, die nur der Souverän einnehmen kann. Die Gnade ist der höchste Machtbeweis.
Ich schätze sehr die Arbeit der Jugendtheaterklassen an den Stadttheatern, wo man als Teenager in verschiednen Arbeitsgruppen an den Theatern mitlaufen kann, Inszenierungen macht und die erste Theaterluft schnuppert. Ich erlebe beim Theatertreffen der Jugend, dass sich trotz Internet und komplizierter Schul- und Lehrstrukturen bei den Jugendlichen das Bedürfnis nach sozialer Erfahrung und Selbstbewährung eher vergrößert. Wir schaffen dafür eine Atmosphäre, die nicht vom Wettbewerb geprägt ist, sondern eine Akademie für die Jugendlichen und Pädagogen. Sie werden zu nichts «herangeführt», sondern erfahren sich als wertvoll und kompetent. Sie tun, was ihnen leicht fällt. Und ich erlebe, wie das, was da an den Schulen im Spiel und Nachdenken über das Spiel geleistet wird, zum Aufblühen der Persönlichkeiten unmittelbar beiträgt. Das ist, wenn wir über das Thema Macht sprechen, eine Form von guter Macht.
Meine erste Begegnung mit der Macht würde ich als Begegnung mit dem Schweigen beschreiben. Also wenn meine Eltern aufgehört haben, sich zu unterhalten, wenn ich dabei war. In Jena, das ist mir erst viel später bewusst geworden, wohnte in den siebziger Jahren einer der meist drangsalierten Oppositionsfiguren der DDR nur ein paar Hauser weiter in unserer Strasse. Er hieß Jürgen Fuchs. Sein Namen wurde in meinem Beisein als Kind nicht genannt, wir hielten das im Grunde vor uns selber geheim. Ich erinnere mich auch daran, dass meine Großmutter das Westfernsehen ausgeschaltet hat, sobald mein Onkel zu Besuch kam, der ein netter Mensch und höriger Parteifunktionär war. Es brauchte für solche Unterwerfungsgesten keine speziellen Direktiven - Macht funktionierte hier über Angst und sie führte zu einer stillschweigend akzeptierten Ohnmacht. Das war eine frühe Erfahrung mit Macht, die all die späteren, offenen Konflikte mit Autoritäten besonders moralisch und belastender wirken ließ.
Macht ist ein Tauschgeschäft. Das heißt, ich gebe Schutz für Gehorsam. Und das zu organisieren heißt Macht ausüben. Ich habe von Anfang an, so könnte man sagen, immer meine recht und rein persönlichen Sachen gemacht - als Autor, als Wissenschaftler, sogar später am Theater, was schwieriger war, weil man da im Grunde nichts alleine machen kann. Ich wollte niemandem gehorsam sein. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war ich auch irgendwie glaubwürdig und kam ich, als ich aus meiner Schreibhöhle dann endlich mal rausging, sofort in eine Leitungsfunktion und durfte in der Direktion des Schauspielhauses Bochum mitwirken und mit dieser Überforderung fing das alles an.
Am meisten gelernt habe ich im Theater auf den Proben - durch das Beobachten von Schauspielern.
Ich glaube ja, dass ein guter Schauspieler auf der Bühne wahr ist und im Leben falsch - wie wir alle. Es ist jedenfalls ein interessantes Gedankenexperiment, sich vorzustellen, dass die Schauspieler diesen Beruf ausüben, weil sie da drin, wenn sie in dieses andere Leben einer Figur schlüpfen, oder in andere Formen des Lebens, eine Form von Aufrichtigkeit herstellen können, wie sonst nie im eigenen Leben - weil da muss man ja sozial sehr viel Rücksichten nehmen, oder es tritt die eigene Feigheit nackt zu Tage, weil im Leben halt alles eine Konsequenz hat. Diese Folgeerscheinungen sind auf der Bühne suspendiert. Das heißt, dass der Schauspieler, dem ja immer unterstellt wird, dass er alles nur spielt, weshalb das Wort Schauspielerei ja auch etwas Unzuverlässiges umgibt und der Schauspieler also immer mit einem gewissen Misstrauen betrachtet wird, dass aber genau dieser Schauspieler, davon bin ich fest überzeugt, auf der Bühne so wahr agiert wie im Leben nie. Und da kann man sehen, wie unzulänglich Begriffe wie «wahr» oder «unwahr» oft sind.
Die Fähigkeit auf Zustände möglichst offen, aber eben doch zielbewusst zu reagieren, habe ich im Theater beobachten und auch »üben» dürfen, so wie man das übrigens überall im Leben tut. Und das ermöglicht mir, anders mit meiner Umwelt, mit ihrer Außenseite, umzugehen. Oft habe ich das Gefühl, ich finde, durch meine exponierte Position, keine belastbare Verbindung mehr zu einem Gegenüber. Niemand kommuniziert offen, ständig gibt es verdeckte Interessen. Das kann schnell zu einem Teufelskreis, einer Stimmung der Unwirklichkeit führen. Und da hilft es, nicht nach der «Wirklichkeit» zu suchen, sondern die Situation als Theater zu betrachten und darauf zu reagieren, nicht indem man Vorwürfe erhebt, sondern versucht mit ihr zu spielen, was sich jetzt natürlich leicht dahersagt.
Einerseits tut es in einer exponierten Position gut, eine Form von Undurchschaubarkeit zu entwickeln. Man darf nicht privat wirken, aber auch nicht nur funktional. Ich versuche, vor allem mir selbst gegenüber, spürbar zu halten, dass es um eine Sache geht, nicht um mich. Es geht im beruflichen Alltag, aber auch sonst, um eine Mischung aus persönlicher Beglaubigung und strategischer Intention, die Aufrichtigkeit produziert und nicht Verstellung. Und um das zu schaffen, muss man sich wappnen, und mit den Ambivalenzen umgehen zu lernen. Ich wappne mich, wenn überhaupt, durch das Kostüm der Freundlichkeit.
Macht ist dabei ein anderes Wort für die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Das ist ein fluider Prozess. Macht wird einem ja immer übertragen. Das Volk wählt Stellvertreter, an die es seine Macht «abgibt» - da ist die Sprache sehr plastisch. Selbst ein Putsch ist nur ein kurzer Coup, dem dann eine Leistung folgen muss. Macht ist aber nicht nur Gewalt, auch Erotik hat Macht, es gibt eine intellektuelle Macht, die Macht der Gefühle - all das sind Modalitäten, die bestimmten Zwecken dienen, die sich letztendlich in Entscheidungen ausdrücken. Insofern ist Macht ein multimedialer Vorgang, aber einer, der durch das jeweilige Medium etwas ändert. Meistens sind es Beziehungen.
Mein Aufwachsen in der DDR war geprägt von der naiven Vorstellung eines Gegenübers, das «die Macht» darstellt, so dass ich sagen konnte: Das sind die, und das bin ich. Die Mächte von heute, die des Liberalismus und des Kapitalismus, gestatten diese einfache Gegenüberstellung nicht mehr; sie gehen einem unter die Haut. Wir erzeugen diese Macht, weil wir ihr Feedback geben, Zwiesprache mit ihr halten, ihr System nähren, Teams bilden, all das Gute tun. Und es kommt hinzu, da ich nun dreißig Jahre älter bin, dass ich mich nun auch deshalb nicht mehr naiv distanzieren kann, weil jetzt oftmals ich derjenige bin, der Machtentscheidungen fällt. Macht zu haben, heißt simpel, etwas zu entscheiden haben. Dieser Dezessionismus ist das stille Wesen der Macht. Und diese Macht haben auch Sie jetzt, indem Sie unser Gespräch in Ihre Sendung aufnehmen oder nicht. Das widerholt sich in der Art, wie Ihre Vorgesetzten mit Ihrer Arbeit umgehen. Als harte Konfrontation erscheint die Macht in unseren Tagen selten - sie zeigt sich vielmehr als effektive Abstufung von Privilegien und Komfort. Zu meiner Jugend und zur DDR zählt hingegen, dass ich in der DDR tatsächlich gezüchtigt worden bin, man hat mich eingesperrt, verschiedentlich bestraft; heute geschieht mir das dann eher «innerlich».
Was mich ungeheuer fasziniert, ist Schwäche. Mich interessiert an Leuten vor allem ihr Problem, denn nur durch ein Problem entsteht Wahrheit, eine komplizierte Wahrheit, nennen wir es lieber eine Bewegung, die etwas zeigt. Ich möchte in meiner Arbeit diese Daseinsneugier zu befriedigen, die auch ein Arzt hat, oder ein Jurist, oder ein Taxifahrer. Dann mache ich die Erfahrung von Macht, die jeder macht, nämlich von Entscheidbarkeit, oder Unentscheidbarkeit. Das ist, worum es am Ende geht: Schutz zu spenden und dafür ernten zu dürfen, oder Schutz zu finden und dafür Gehorsamkeit zu leisten, ohne dass sich diese Dinge im Leben so aussprechen, auch wenn sie sich klären. Das sind eigentlich die Prüfungen, um die es am Ende geht.»
Korr. Mai 2014