Thomas Oberender stammt aus Jena. Der heutige Intendant der Berliner Festspiele zeigt sich im Gespräch mit Jonas Zipf nachdenklich. Wie entwickeln sich Kunst und Kultur nach der Corona-Krise? Im Mittelpunkt ihres Telefonats stehen Fragen nach der Balance zwischen Kunst und Institution, zwischen der Kunst des Anthropozäns und unserem Verhältnis zur Natur. Sowie – passend zum Tag der Arbeit – die Erinnerung an einen Vorschlag, der unsere Auffassung von Arbeit revolutionieren würde.
(…)
JONAS ZIPF: Bei Christoph Menke gibt es in «Kraft der Kunst» am Ende des ersten Teils einen ganz kurzen Absatz, nicht mehr als zwei Seiten, im dem er beschreibt, wie die Bayreuther Festspiele entstanden sind. Er geht dafür zurück auf die Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen, so wie Nietzsche in seiner «Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» beschreibt. Das eine ist die quasi ungerichtete Kraft, das Dionysische, die «Kraft der Kunst». Es gibt etwas zu sagen, und das muss gesagt werden. Und dann gibt es eine Form dafür. Die Formgebung ist die andere, die apollinische Seite, die dieser Kraft eine Übersetzung bietet. Als Gegenüber zur Kunst ist das die Institution. Menkes These: Eigentlich kommt es auf die Balance zwischen beiden an. Indem die Institution die Kunst begrenzt und die Ressourcen definiert: Geld, Personal oder auch den Faktor Zeit – indem sie Endpunkte für künstlerische Prozesse setzt, etwa Vernissage- oder Premierentermine. Die Institution organisiert Ressourcen, Aufmerksamkeit und Kommunikation. Und diese Begrenzungen machen es überhaupt erst möglich, dass andere, die Zuschauer, daran teilhaben. Keine der beiden Seiten darf dominieren: Sonst findet die Kunst entweder keine Öffentlichkeit mehr, oder sie wird von der Institution erdrückt.
THOMAS OBERENDER: Ich weiß nicht, ob wir die soziale Frage auflösen, wenn wir über das Verhältnis zwischen Kunst und Institution sprechen, obwohl ich Christoph Menkes Balance-Modell sehr schön finde. Ich glaube eher, wir müssen aus dieser Dichotomie zwischen «frei» und «institutionell» aussteigen und ein anderes Verständnis von Arbeit anwenden. Ich glaube, dass die aktuelle, von Covid verursachte Zwangspause die beste Zeit ist, um über ein leistungslos gewährtes, sprich bedingungsloses Grundeinkommen zu sprechen. Plötzlich müsste in dieser Gesellschaft niemand davor Angst haben, seine Krankenkasse, Altersvorsorge und Grundversorgung (Wohnraum, Nahrung, Kleidung) nicht bezahlen zu können. Wenn uns diese Prekarisierungsangst genommen würde – und man hat ausgerechnet, dass das nicht teurer wäre, als all die Förderungen und Sonderhilfen, die es auch jetzt schon gibt –, dann würden sich viele Streitigkeiten sofort entspannen und auf eine andere Ebene verlagern. Denn dann geht es nicht mehr um die Grundlebenssicherung, die für viele Menschen aktuell ein hartes Thema ist, sondern eher darum: Wie wollen wir arbeiten? Geht das an zwei Tagen auch von zu Hause? Wofür soll unsere Arbeit stehen? Ist sie nachhaltig? Was soll sie bewirken? Motiviert sie Menschen, sich im Bereich social care zu engagieren, weil das plötzlich viel besser bezahlt wird als ein Grundeinkommen? Wer darf da mitwirken? Dürfen Spekulanten weiter auf Lebensmittel, Wohnen und Staatsschulden wetten? Und so weiter. Die Umweltphilosophin Barbara Muraca hat darüber viel geschrieben. Also wenn man, um auf unseren Bereich zurück zu kommen, die Frage der Anstellungsform von der Grundsicherung entkoppeln könnte, und zwar auch wirklich entkoppeln von Wettbewerbsgedanken, wenn man das unterbrechen könnte, wäre das ein Riesenschritt, den wir in dieser Krisenzeit intensiv diskutieren sollten.
JONAS ZIPF: Also letztlich ginge es darum, unser Menschenbild zu befragen: Entsteht die Motivation zur Arbeit immer nur aus der Belohnung für Leistung? Entsteht Anerkennung nur durch Geld? Die Frage wäre ja, ob wir das Grundeinkommen als gesamtgesellschaftliches Modell benötigen? Oder ob dieses Modell nicht erst mal das Spannungsfeld zwischen Kunst und Institution auflösen könnte? Also ein Modell wie das früher in Frankreich, bevor es weggekürzt wurde: Eine Grundsicherung für die Künstler*innen, «Intermittants du spectacle» genannt.
THOMAS OBERENDER: Die große Revolution wäre ja, das gesamtgesellschaftlich zu betreiben. Und damit auch einen anderen Arbeitsbegriff durchzusetzen. Wenn Sie sich vor Augen führen, was eben alles nicht als Arbeit verstanden und mit Anerkennung oder Rentenansprüchen honoriert wird – von der Kindererziehung bis zur Pflege von Angehörigen, dann ist das nicht gerecht. Ich sehe diese Debatte tatsächlich in einem größeren Zusammenhang. Da geht es nicht nur um einen neuen «Green Deal» als Konjunkturprogramm, sondern um die Frage, wie wir unsere Lebenspraxis in andere Zusammenhänge einbetten, indem wir uns auf das Nachhaltige, das weniger Zerstörerische, das Heilende konzentrieren – also etwas, das unsere Gesellschaft in der Art, wie sie mit dem Planeten und den Menschen umgeht, dringend entwickeln muss. Dafür müssen wir neue Strukturen schaffen, die der Daseinsfürsorge dienen, und nicht der Wettbewerbslogik folgen. Also wenn man die Diskussion der Arbeit in diese neue Nachdenklichkeit einbettet, etwa so, wie es beispielsweise Bruno Latour seit Jahren vorschlägt, dann geht es nicht nur um ein Bewusstsein für den Arten- und Klimaschutz, sondern um neue politische und aktivistische Konzepte zum Schutz der lokal verwurzelten Commons. Dann sprächen wir über ein gänzlich anderes Verständnis von Daseinssicherung, Daseinsfürsorge, die dabei unseren Planeten als Ganzes im Blick hat.
JONAS ZIPF: Es wird darauf ankommen, so kann man es auch formulieren, wie wir aus der Krise rauskommen und ob wir wirklich begreifen, um welche wesentlichen Dinge es gehen muss… «Less is more» war vorher ein Punkt. Worauf kommt es an? Was ist mir am wichtigsten? Nach Corona arbeiten und konsumieren wir dann vielleicht ein bisschen nachhaltigkeitsgerechter, regionaler, saisonaler, virtueller. Und in unseren Kunst-Institutionen versuchen wir uns auch auf das Wesentliche zu konzentrieren. Denn das Modell des bedingungslosen Grundeinkommens würde die staatliche Förderung von Kultur-Institutionen auf zwei Fragen konzentrieren: Welche Rolle will die öffentliche Hand spielen und für welche Kostenarten ist sie zuständig? Wir würden uns nur noch um die betrieblichen Rahmenbedingungen und um die jeweiligen, vor allem finanziellen, Ressourcen für die Produktion kümmern. Denn die Leute selbst wären davon entkoppelt.
THOMAS OBERENDER: Das Grundeinkommen ist kein Einheitslohn für alle. Ich denke, dass die Entlastung eher in den öffentlichen Verwaltungen spürbar wäre, die sich sonst mit 1000 Antrags- und Beihilfefragen beschäftigen. Differenzierte Gehälter oberhalb der Basisversorgung würden weiterhin bestehen.
JONAS ZIPF: Wenn das individuelle Einkommen nicht mehr von Projektgeldern abhängt, würde auch die häufige Selbstausbeutung von Künstlern und Künstlerinnen aufhören, die ja für das Geld oft wesentlich mehr arbeiten als sie beantragt haben. Härtere oder weniger begehrte Arbeiten würden besser bezahlt.
THOMAS OBERENDER: Das wäre interessant. Prinzipiell wäre für jeden Künstler wie auch jeden Handwerker oder Studenten das Leben gesichert.
JONAS ZIPF: Das würde die gesamte Diskussion verändern und sie verliefe viel stärker entlang der konkreten Erfordernisse der Kunst. Das wäre extrem spannend. Wir würden stärker über das reden, was sonst ja ständig wegschmilzt, den eigentlich künstlerischen Etat.
THOMAS OBERENDER: Ja. Ja. Das ist eine schöne Vorstellung.
JONAS ZIPF: Ja. Über genau das, was sonst bei jeder Tarifsteigerung und jeder inflationsbedingten Steigerung der Kosten für Immobilien und Betrieb, immer weiter abschmilzt.
THOMAS OBERENDER: Was sicher so bleibt. Aber auch das bedingungslose Grundeinkommen wäre ja nicht statisch, und nicht Alle sollen und dürfen nur auf diesem Niveau bezahlt werden. Es verschafft individuell allerdings eine neue Freiheit in der Entscheidung, was und wo man arbeitet.
JONAS ZIPF: Wir hätten aber auch eine Größe in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und mit der Politik, weil wir auf dem Niveau der Grundsicherung an keine Stellenpläne gebunden sind, weil Qualifizierungsangebote, Feedback, Mitbestimmung eine ganz neue Rolle spielen würden.
THOMAS OBERENDER: Und so, wie es in der Wirtschaft Mindesteinkommen gibt und bei Managern die Diskussion über Maximaleinkommen, wird eine solche Deckelung ja auch im Kunstbereich diskutiert, insbesondere im Bereich der Solisten und Dirigenten. Sind individuelle Abendgagen von 20 oder 30 Tausend Euro an staatlich ausgebildete Solisten oder Dirigenten in staatlich geförderten Strukturen zu rechtfertigen?
JONAS ZIPF: Was ja auch unheimlich schwer nach außen zu erklären ist. Die Revolution des bedingungslosen Grundeinkommens wäre aber vor allem, dass man wieder stärker über den eigentlichen Raum der Kunstproduktion redet. Das ist schön, das gefällt mir.
THOMAS OBERENDER: Ja. Also ja, es ist ein bisschen ideal gesprochen, aber dem folge ich gerne.
JONAS ZIPF: Corona heißt ja im Wortstamm lateinisch Kranz oder Krone. Also etwas, was nach außen strahlt. Dieser Begriff, der hat ja eine sinnbildliche Dimension für das, womit wir uns jetzt beschäftigen. Was strahlt ab? Was lernen wir daraus? Ohne, dass wir der Gefahr anheimfallen, zu viel da hinein zu projizieren. Ich habe jedenfalls mindestens genauso viele Ängste. Sie haben Latour ins Gespräch gebracht und damit kommen zu noch größeren, schicksalhaften Fragen. Ich spreche vom Klima, der Frage der Menschheit im globalen Maßstab. Vom Anthropozän.
THOMAS OBERENDER: Was verstehen Sie darunter?
JONAS ZIPF: Es stellt sich doch die Frage: Vernachlässigen wir nicht all die uns bestimmenden Kräften? Diese Annahme eines Anthropozän ist doch letztlich eine Hybris. Wer, wenn nicht der Mensch, wollte behaupten: Wir können die ganze Naturgeschichte mit ein paar Jahren Menschheitsgeschichte eliminieren. Denn wir sind jetzt die Krone der Schöpfung, um beim Wort «Krone» zu bleiben…
THOMAS OBERENDER: …ja, das ist so. Diese Überbetonung des Faktors Mensch ist irgendwie auch fragwürdig in diesem Titel für ein Zeitalter…
JONAS ZIPF: …Genau, als ob sich alles nach uns richten würde. Als ob wir die Natur überwunden hätten…
THOMAS OBERENDER: …Der Ausgangsgedanke für diese Wortschöpfung war ja lediglich, dass wir, unsere Spezies, plötzlich selber zu einer Naturgewalt geworden sind und seit dem Beginn der Moderne durch die Industrialisierung so katastrophale Naturzerstörungen im Erdsystem angerichtet haben, wie früher nur ein gesamtes geologisches Zeitalter…
JONAS ZIPF: …Genau. Und eigentlich erleben wir ja gerade, wie unglaublich fragil und wie sehr wir der Natur ausgeliefert sind.
(…)