«Die Mauer ist nicht gefallen»
Das Ende der Wende nach 1989 und die Kultur des Ressentiments heute
Die Mauer ist nicht gefallen. Sie war kein altersschwaches Bauwerk, das lautlos zu Boden sank. Es war kein politisches Schicksal, dass sie verschwunden ist, sondern die Kulmination einer an Ideen und Initiativen überbordenden Protestbewegung in Osteuropa. Der »Fall der Mauer» klingt passiv, nach einem Kollaps, einem Betriebsunfall, der schließlich zur «Wiedervereinigung» geführt hat. Aber für die Revolution im Osten spielte die deutsche Wiedervereinigung zunächst gar keine Rolle – sie war nicht ihr Ziel.
Die demokratische Wende begann in der DDR wie auch in den anderen Ländern des Ostblocks als Forderung der Oppositionellen nach etwas Neuem, etwas zwischen Kapitalismus und Sozialismus, das damals vage der «dritte Weg» genannt wurde. Erst als die damit verbundenen Forderungen nach freien Wahlen und Reisefreiheit im Herbst 1989 zur Öffnung der Mauer führten, wurde aus dem Aufbruch ein Anschluss; nach einem Besuch der anderen Seite wollten viele Ostdeutsche das neue Glück jetzt, und die politischen Prozesse in der nun offenen DDR wurden schnell auch von der Agenda der westdeutschen Regierungsparteien bestimmt; ab nun wurde die politische Entwicklung nicht mehr von den Wendeaktivisten geprägt, sondern von jenen, auf deren Plakaten stand: «Keine Experimente!»
Dass «die Mauer gefallen» ist, beschreibt eine Wahrnehmung aus westdeutscher Sicht, die zur Floskel und heute zur Normalperspektive auf die damaligen Ereignisse wurde. Jürgen Habermas nannte die historischen Veränderungen im Osten 1990 die «nachholende Revolution». Dieser Lesart nach bringt sie keine Erneuerungen hervor, sondern mündet, über verschiedene Etappen des «Demokratielernens», schließlich im Status Quo des im Westen schon Bestehenden. Angetreten sind die Oppositionellen in der DDR, in Polen, Rumänien oder der Tschechoslowakei allerdings nicht mit der Idee, einfach nur in die Umschulung zu gehen.
Boris Buden wies in seinem Wendeessay Zonen des Übergangs darauf hin, dass das Subjekt der demokratischen Revolution der Wende und das Subjekt der nachholenden Revolution der Wiedervereinigung nicht das Selbe ist. Tatsächlich flicht man jenen Oppositionellen, die unter hoher Gefahr 1989 die Revolution im Osten auf die Straße und unters Volk gebracht haben, im Unterschied zu Helmut Kohl, keine Kränze mehr. Es gibt eine Stasi-Unterlagen-Behörde und eine Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, aber kein Archiv der friedlichen Revolution, keine Bibliothek der 89er Träume und Ideen.
Als ich unlängst bei einer Veranstaltung im Kanzleramt eingeladen war, die am Weltfrauentag für die Erhöhung der Frauenquote in den Führungsgremien der Medien und Wirtschaft geworben hat, erinnerte ich mich, dass es jahrzehntelang in der DDR eine faktische Vollbeschäftigung der Frau gab, mit all den damit verbundenen Infrastrukturen – Kindergarten, Hortbetreuung, Betriebsferienlager und den monatlich freien «Haushaltstag» bei vollem Lohn. Niemand wünscht sich deshalb die DDR zurück, zumindest ich nicht, aber sich an diesem Tag im Kanzleramt wenigstens daran zu erinnern, läge nahe. Bei einer SPD-Veranstaltung sagte mir später eine führende Politikerin, dass man solche Aspekte der DDR leider immer noch nicht loben könne, weil «einfach viele Leute denken, das sei ungefähr so, als ob man das Nazideutschland wegen der Autobahnen lobe.» Bin ich in der DDR also in so etwas wie dem Dritten Reich aufgewachsen?
Fast dreißig Jahre nach der Revolution im Osten könnte einem das Thema der Wiedervereinigung langsam etwas egal sein. Wir Deutschen sind 1989 mit so viel mehr wiedervereinigt worden als nur mit uns selbst. Wir haben unsere Fixierung auf Hitler und den Holocaust verloren, ohne beides zu vergessen. Die DDR und die Bundesrepublik waren Antworten auf das Dritte Reich und definierten sich durch diesen Gegensinn zu Hitler, aber auch als die Alternative des einen Halbstaats zum anderen. Mit dem Verschwinden der Grenze bezog sich das wiedervereinte Deutschland plötzlich auf Europa. Deutschland hat sich Europa zurück geschenkt und begann seither seine Geschichte als Kolonialmacht ernst zu nehmen und unsere Gegenwart als ein kulturell und religiös diverses Einwandererland zu betrachten. Warum also noch über 89 reden? Warum daran erinnern, dass die Mauer nicht gefallen ist wie Schnee fällt und die Wende im Osten auch nicht gleichbedeutend mit der Wiedervereinigung war.
Ich denke inzwischen, dass unser innerdeutsches Zusammenwachsen neben all dem Gelungenen auch zum Entstehen einer Kultur des Ressentiments geführt hat, die eng verbunden ist mit einem neuen Nationalismus, Angst vor dem Fremden und einem dystopischen Populismus, wie ihn die Politologin Wendy Brown definiert hat. Wie konnten in Deutschland aus diesen Menschen, die auf der Mauer tanzten, die ihre Geheimdienstzentralen besetzten und an unzähligen runden Tischen, in neuen Zeitungen und Parteien die Idee einer anderen Gesellschaft artikulierten, die «Jammerossis» werden? Auch jene Menschen, die sich jetzt abgehängt fühlen, in ihrer Lebensgeschichte entwertet und als Fremde im eigenen Land, waren damals Teil jener Gesellschaft im Umbruch. Heute sagt niemand mehr: Wir sind ein Volk.
Es gibt einen Kolonialismus des Liberalen, der in der innerdeutschen Geschichte als solcher bislang nicht wahrgenommen wird. Wir sprechen heute von der Wiedervereinigung, aber vielleicht wurden die Deutschen durch nichts mehr getrennt als durch die Öffnung der Mauer. Das Gegensatzpaar «Ossi» und «Wessi» entstand jedenfalls erst nach 1989. Die westdeutsche Politiker-Formel von den «Brüdern und Schwestern im Osten», die seit jeher paternalistisch wirkte, verwandelte sich empfundener Maßen dann in die Begrüßung jener «Söhne und Töchter», die endlich am reich gedeckten Familientisch Platz nehmen durften. Für die Neubürger gab es Begrüßungsgeld, Umschulungskurse und neue Vorgesetzte. Die Ex-DDRler wurden nicht anders aufgenommen als die Rumänen- oder Wolgadeutschen. Willkommen im Paradies.
Aber hatten wir 1989 im Osten nicht gerade eine Diktatur gestürzt? «Schlimmer geht es eigentlich nicht», schreibt Boris Buden. «Nicht nur sind die Akteure der demokratischen Revolutionen ihres Sieges beraubt und zu Verlierern gemacht worden. Man hat sie zugleich entmündigt und zum blinden Nachahmen ihres Vormunds verdammt im lächerlichen Glauben, sie auf diese Weise zur Autonomie zu erziehen.» Diese repressive Infantilisierung der sich vom Sozialismus befreienden Gesellschaften ist für Boris Buden das politische Hauptmerkmal einer Übergangsgesellschaft, die ins Alte führt.
Das Neue als gesellschaftliche Alternative blieb im allumfassenden Wandel der Lebensumstände nach 1989 auf der Strecke, denn der alte Westen war ja für 16 Millionen Deutsche erst mal das Neue und wirkte derart herausfordernd und durch die machtvollen Modelle bundesdeutscher Institutionen und Regeln vorgeprägt, dass die Suche nach dem Dritten Weg irgendwie zur Nebensache wurde.
Nun, nach der Bundestagswahl, ist die Partei mit dem größten Wählerzuwachs genau jene, die wiederum ins Alte führt, aber ihre Stimmen überwiegend jenen verdankt, die nicht das Programm der AfD unterstützen, sondern der Rache an den «Etablierten» Ausdruck verleihen. Sie sind der Statistik nach mehrheitlich nicht überzeugt rechtsnational, somit ist es die Chance und Aufgabe der demokratischen Parteien diese Wähler zurück zu gewinnen für ein politisches Spektrum, das Verlusterfahrungen auf eine reifere Weise ernst nimmt. Der Wahlkampf wurde 2017 nicht durch Debatten über Gerechtigkeit gewonnen, sondern über Fragen nach unserer Kultur und Identität.
Dreißig Jahre nach der Wende baut Deutschland ein Humboldt-Forum, um die humboldtsche Vermessung der Welt mit der deutschen Kolonialgeschichte zusammen zu denken. Dafür wurde der «Palast der Republik» abgerissen und am gleichen Ort nun mit nichts erinnert. Wie reflektiert man diesen innerdeutschen Kolonialismus? Diesen nationalen Dachschaden, dass es bezüglich der Geschichte der DDR nichts mehr gäbe, worüber man sich Gedanken machen müsse außer über die Mauertoten und die Stasi? Was von der DDR bleibt ist eine Erinnerung an Opfer, an Täter, Unrecht, Scheitern und der Irrglaube, dies sei die ganze Wahrheit.
Angesichts der friedlichen Selbstauflösung der DDR erscheint es heute geradezu unwirklich, dass in der Mitte Europas, auf deutschem Boden über vierzig Jahre ein Land existierte, das nach 1949 die Industrien verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert hat; es entstand ein System des sogenannten Volkseigentums, der politisch gelenkten Wirtschaft, einer künstlichen Währung und sozialistischen Staatsdoktrin. Niemand will dieses System zurück, jedenfalls ich nicht, aber seine Geschichte ist reich an alternativen Denkmustern und Produktionsformen, es schuf eine andere Form der Kultur, die durch Züge des ideologischen Konformismus genauso geprägt war wie durch klassische Bildung und ästhetische Experimente. Sich daran zu erinnern, muss erlaubt sein – genau so wie man sich auch an seine Kindheit erinnert, ohne befürchten zu müssen, reflexartig für regressiv gehalten zu werden.
Wenn es zu einem politischen Ritual geworden ist, im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung durch Kranzniederlegungen an die Mauertoten zu erinnern, warum nicht auch an jene, die zum Sturz der Mauer beigetragen haben? Nach ihnen werden keine Straßen benannt. Warum nicht Kraft daraus schöpfen, dass uns Deutschen eine Revolution im 20. Jahrhundert geglückt ist? Daraus Kraft schöpfen, dass der Osten Deutschlands sich nach dem Krieg ohne Marshall-Plan wieder aufgebaut und so erfolgreich industrialisiert hat, wie er nun über weite Teile und unter großen Schmerzen wieder deindustrialisiert wird.
Vielleicht wurzelt unser «nationaler Dachschaden» darin, dass die Revolution im Osten nur als nachholende Bewegung gesehen wird, statt als ein Schatz an Differenz. Wie seltsam ist dies auch angesichts einer westdeutschen Geschichte linker Utopien und genossenschaftlicher Projekte. Wo die Erinnerungen an die DDR um diese wertschätzenden Aspekte gebracht werden, bzw. geradezu als Tabu erscheinen, entsteht eine Geschichtsschreibung von «Siegern», die paradoxer Weise bei der Wende selber gar nicht dabei waren.
Man erinnert sich in den ostdeutschen «Ärztehäusern» noch an die ehemaligen «Polikliniken», aber im Nachdenken über die Reform unseres Gesundheitssystems ist es, als hätte es sie nie gegeben. Nicht, dass sie die Lösung wären, aber sie sind ein anregender Teil unserer Geschichte. Wenn die Erinnerung an die Vollbeschäftigung, die Altstoffverwertung oder das Zentralabitur der DDR gleich in die Nähe der Rechtfertigung der Mauertoten und der SED-Diktatur führt, entsteht, wie es der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel nennt, eine «Repräsentationslücke» innerhalb unseres politischen Systems, die weiter wächst.
Wenn es am Anfang eine Art von ostdeutscher Bitternis gab, die mit dieser partiellen Geschichtsblindheit im Westen und Entwertung kompletter Lebenswelten im Osten zu tun hat, so führte diese Krise der Repräsentation nicht nur zum Entstehen der Partei Die Linke und ihrer mühsam errungenen Akzeptanz im politischen Spektrum. Vielmehr erzeugte der kosmopolitische Liberalismus im Zuge der Wiedervereinigung auch ein Klima des Ressentiments, das zunehmend ein gesamtdeutsches wurde, eine Allianz der Modernisierungsverlierer, die sich abgehängt und ausgeblendet fühlen. Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe nannte die so entstehende Gesellschaft eine 2/3-Demokratie, zu deren Verlustmasse weniger die ökonomischen Verlierer zählen als die kulturellen.
Die neue Rechte, die sich zum Sprachrohr dieser im politischen System nicht mehr repräsentiert fühlenden Verlierer der Modernisierung macht, führt interessanter Weise gerade keine Debatte um die Verteilung von Lebenschancen und die Einhegung der Märkte, sondern um Themen wie Identität, Heimat, im weitesten Sinne also um Kultur. Die «kleinen Leute», die sie vertreten, können durchaus auch Professoren sein. Die große Herausforderung unseres demokratischen Systems scheint mir angesichts dieser populistischen Bedrohung darin zu liegen, die Debatte um Werte von der reflexartigen Koppelung an den Vorwurf des Konservativen zu lösen, genauso aber auch vom «Kulturellen». Werte sind nicht gleichbedeutend mit einer Leitkultur, sondern operative Werte, frei vom Thema des Identitären sind sie Ausdruck einer Sorge um rechtliche Spielregeln und ethische Standards.
Ressentiment ist die Empfindung von Menschen, die sich als Unterlegene empfinden, doch gegenüber der politischen Macht scheinbar keinen eigenen Status mehr besitzen. Obgleich oft der materielle Wohlstand zunahm, entstand bei Teilen der sich abgehängt fühlenden Ostdeutschen ein diffuses Gefühl von Verlust und Entwertung der eigenen Lebensgeschichte. Sie sind nicht einmal mehr ein Problem, sie werden hierzulande einfach mitversorgt; die Noblen übersehen sie wie das Personal im Hotel. Anwesend und sichtbar wurden in den letzten Jahren hingegen die Flüchtlinge und der Neid auf die von der Politik und Gesellschaft Gesehenen führte zum Aufstand der Pegida und dem beschämenden Wahlerfolg der AfD. «Mutti» Kanzlerin Merkel hat im Herbst 2015 neue bedürftige Kinder aufgenommen, und übersah jene, die sich schon lange in ihrem Haushalt vernachlässigt fühlten. Keinem von ihnen wurde etwas weggenommen, weil neue Flüchtlinge gekommen sind. Dennoch entstand ein Neidkampf, der von Menschen geführt wird, die fragen: «Warum bekommen die Geld und Wohnungen, und wir nicht?» Dabei geht es im Grunde nicht um das Materielle, sondern denen, die vor Merkel brüllen, hat man meiner Ansicht nach etwas anders weggenommen: Stolz und Biografie.
Nicht anwesend und repräsentiert im politischen Gefüge fühlen sich aber auch viele der 22 Millionen Mitbürger, die längst nicht mehr Gastarbeiter sind sondern Deutsche anderer Herkunft, Hautfarbe und Religion. Auch hier entstand mitten unter uns eine Kultur des Ressentiments, die in Dinslaken dem IS regen Zulauf bescherte. Auch das ist die Fernwirkung des politischen Erbes von 1989, das von der Siegermentalität einer inzwischen verschwundenen Welt bestimmt ist, die ihre Revolution noch vor sich hat. Dieser alte, kosmopolitische Westen überging die Basiserfahrungen eines Großteils seiner Mitbürger, die ganz andere Konsequenzen der Liberalisierung und Globalisierung bewältigen musste. Aber wahrscheinlich findet diese Revolution längst statt und wir müssen sie nur recht begreifen, um sie nicht zur Revolution des ressentimentalen Menschen werden zu lassen.
Die Tiefenwirkungen der nach 1989, zeitgleich mit dem scheinbaren «Ende der Geschichte» entstandenen Kultur des Ressentiments hat mit «dem Fall der Mauer» begonnen. Was hätte es wohl bedeutet, wenn man nach der Wende die Abiturnoten der Westdeutschen mit dem Faktor 1,2 multipliziert und damit abgewertet hätte, wie das mir Anfang der Neunziger passiert ist, weil ich mein Abitur im Osten abgelegt hatte und dort das Leistungsniveau angeblich niedriger war. Dies ist eine Kleinigkeit, das Leben ging lächelnd darüber hinweg, aber ich kann es nicht vergessen.
Wir sprechen über Dekolonialisierung und meinen das Humboldt-Forum; warum nicht das Zusammenkommen der zwei deutschen Staaten? Was ist aus den «Runden Tischen» geworden? War das Grundgesetz nicht ein Provisorium, das durch eine Verfassung ersetzt werden sollte, sobald Deutschland vereint ist? Die Mauer ist nicht «gefallen», auch wenn sich das im Westen so angefühlt haben mag. Es ist an der Zeit, sich andere Geschichten anzuhören und die Geschichte Deutschlands, wie der indische Schriftsteller Pankaj Mishra vorschlägt, aus der Perspektive der Zuspätgekommenen, der Gescheiterten und Verlierer zu betrachten – nicht mit einer Geste des Erbarmens, sondern weil sie uns bereichert.
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Die Leserbriefe, die der Veröffentlichung in der ZEIT über viele Tage und Wochen folgten und von der Redaktion an mich weitergeleitet wurden oder via Homepage und Twitter zu mir gelangten, waren sehr zahlreich und intensiv. Sie kamen von Lesern aus den neun und alten Bundesländern, die meine Gedanken in der Regel mit eigenen Erfahrungen ergänzt, oft weitergeführt und bisweilen konterkariert haben. Mir ging es in meinem Text weniger um das Aufzeigen einer Kränkungsgeschichte und den kleinlichen und nostalgischen Hinweis darauf, dass «im Osten auch nicht alles schlecht war» - vielmehr geht es mir um die Erinnerung an eine verdrängte Revolution, eine seltsame Infantilisierung der Ostdeutschen im Anschluß und die sich selbst kaum reflektierende Geschichtsschreibung des Westens. Mein Untertitel lautete, ob es nach 1989 einen neuen, innerdeutschen Kolonialismus gab. Woher kam die Stimmung im Osten, die zum Quotensieg der AfD in den neuen Bundesländern führte? Es geht um einen anderen Blick auf die Wende, die Wiedervereinigung und die seither entstehende Kultur des Ressentiments, die alle Gesellschaftsschichten durchzieht. Und die übrigens die Erfahrung der Ostdeutschen mit der von vielen Migranten verbindet. Mir ging es nicht um den Frauentag und die Erinnerung an ostdeutsche Kindergärten, und das hat sich in fast allen Reaktionen gezeigt. Erstmals war ich nicht in der Lage, auf die Vielzahl der Zuschriften einzeln zu reagieren und so bleibt mir nur, mich bei allen Leserinnen und Lesern auf diesem Wege herzlich bedanken - keine Ihrer Zeilen blieb ungelesen, sie haben mich sehr bewegt und ich überlege seither, wohin mich das führt.
Unter den öffentlichen Reaktionen ist mir die von Marion Ackermann in der Sächsischen Zeitung vom 20. Oktober 2017 besonders wertvoll, auch wenn ihr Artikel «Fronten von früher» einer anderen, wichtigen Agenda folgt. Sie finden ihren Artikel hier.
Hinweisen möchte ich auf den frappierenden Text «Die Lebensdepression des ostdeutschen Mannes» von Ines Geipel, der am 3. Oktober 2017 in der Welt am Sonntag erschien, die kostenpflichtige online-Version finden Sie hier.
TV-Interview mit Nathalie Daiber, 4.10.2017
Der Tag der Deutschen Einheit stand in diesem Jahr unter dem Eindruck des Wahlerfolgs der AfD. Im Osten wurde sie mit fast 22 Prozent zweitstärkste Kraft. Wie erleben die Bürger im Osten den Tag der Einheit? Was bedeutet ihnen dieser Feiertag? Nathalie Daiber hat in Jena mit Thomas Oberender, dem Intendanten der Berliner Festspiele über die Wiedervereinigung und mögliche Versäumnisse gesprochen.
Den Link zum Fernsehinterview finden Sie hier.
Audio | 02.10.2017 | Dauer: 00:04:59 | SR 3 - Interview: Katja Preißner
Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele, stammt aus Jena und hat in der Wochenzeitung «Die Zeit» einen Artikel geschrieben mit der Überschrift «Die Mauer ist nicht gefallen». Bei der Wende im Osten sei es zunächst gar nicht darum gegangen, dass die Mauer «fällt» und es eine Wiedervereinigung gibt, sondern vielmehr um demokratische Rechte und Reisefreiheit, sagt er im SR 3-Interview. Seiner Auffassung nach ist durch die Wiedervereinigung die Trennung zwischen Ost und West eher größer geworden. Ein anderer Umgang mit der Geschichte sei notwendig. «Wir müssen aufhören, die DDR-Geschichte auf Mauertod und Stasi zu reduzieren.»
Den Link zum Interview finden Sie hier.