«Das Geheimnis des schreibens sind für mich die Nebensachen.»
Gespräch zwischen Peter Handke und Thomas Oberender, Berlin – April 2012
Auf einer Terrasse in Berlin Nikolassee, elf Uhr vormittags.
Thomas Oberender: Ich habe gestern «Die schönen Tage von Aranjuez» gelesen, und am Tag zuvor «Das Spiel vom Fragen», das mehr als zwanzig Jahre früher entstand. Trotzdem wirkt Ihr jüngstes Stück in mehrfacher Hinsicht wie dessen Fortsetzung, am auffälligsten sicher durch das sich befragende Paar, das in ihrem früheren Stück ein Schauspielerpaar ist. Vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, das war das erste Mal, dass bei Ihnen Schauspieler als Schauspieler auftreten. Ihre Rolle ist die des Schauspielers, also nicht einer speziellen Figur, sondern sie verkörpern diesen speziellen Beruf, oder das, was in ihm zu Tage tritt, das Ernst sein zum Beispiel, das jedenfalls gab es zuvor nicht.
Was mich betrifft, meinen Sie.
Ja, in Ihren Stücken.
Ja, aber man könnte natürlich auch bei den «Schönen Tage von Aranjuez» sagen, dass das zwei Schauspieler sind.
In diesem Stück wiederholen sie, zumindest die Frau, zum Teil wörtlich Passagen aus dem «Spiel vom Fragen». Zum Beispiel, wenn Sie über ihren ersten Liebhaber befragt wird, sich an ihre Kindheit erinnert, an ein sehr spezielles Moment während des Schaukelns, jenen Punkt, da die Bewegung zwischen unten und open kippt. Diese Empfindung kehrt über zwanzig Jahre später bei einer anderen Frau, der die gleiche Frage gestellt wird, fast identisch wieder.
Ja, die Schauspieler in «Das Spiel vom Fragen» … das erzählt ja eine ähnliche Geschichte. Sie sind der Erste, der das bemerkt.
Mich interessiert, dass Sie Schauspieler auftreten lassen. Vor einiger Zeit erzählten Sie mir, dass Sie an einem Roman über einen Schauspieler schreiben.
Eine Erzählung, ja.
Ich dachte, dass dieses Buch seine Arbeit oder das Theatermilieu beschreibt. Als ich «Der große Fall» nun gelesen habe, fand ich nichts davon. Oder fast nichts. Warum ist dieser Mann, aus dessen Leben Sie einen Tag beschreiben, Schauspieler?
Ja, der Mann ist Schauspieler, aber das heißt nicht, dass er spielt. Er ist eigentlich die Existenz. Als Schauspieler verkörpert er oder formt er die Existenz klarer als vielleicht ein anderer Beruf. Insofern ist er Schauspieler, indem er in die Stadt geht, in die riesige Stadt geht von der Peripherie aus. Aber das heißt nicht, dass er was vormacht. Er verkörpert das Dasein oder er verkörpert die Probleme des Tages.
Wenn man liest, wie der Schauspieler seine Berufsauffassung beschreibt, wirkt sie relativ paradox. Er spielt keine Rollen, ahmt nichts nach, jedenfalls nicht im landläufigen Sinne, sondern bewirkt so etwas wie Offenbarungen, dass etwas offenbar werden kann, das er stellvertritt. Sie beschreiben dieses Moment, wo seine Mutter ihn den Kaspar spielen sah, nein, den Parzival …
Kaspar vielleicht auch, kann mich nicht …
… und so von Rührung ergriffen war, dass sie ihn mit nach Hause genommen hat.
Das kenne ich, das habe ich von meiner Mutter, die hat den Ulrich Wildgruber damals gesehen als Kaspar in Oberhausen. Und die hat in dem Ulrich Wildgruber als Kaspar meinen Bruder gesehen, der damals verloren in der Welt herumirrte als Zimmermann. Und so kam das dann.
Sie hat ihn wirklich mit nach Hause genommen nach der Aufführung …?
Nein, nein, nein…
Ihre Mutter verstand, dass die Figur, also der wahre Moment, den sie erzeugt, die gleichen Situation ist, in der ihr Sohn sich befindet.
Sagen wir, sie hat in dem Kaspar, verkörpert von Ulrich Wildgruber, ihren verlorenen Sohn gesehen. In dem Sinne war das nicht mein Bruder für meine Mutter, nicht der Bruder des Autors, sondern das war ihr Sohn, Kaspar.
Im «Spiel vom Fragen» sagt die Schauspielerin, sie möchte Wahrspielerin sein.
Ja, das war ein bisschen prononciert, das würde ich jetzt nicht mehr schreiben.
Warum?
Ja, das ist so ein Schlagwort, Wahrspieler.
Wie geht das überhaupt?
Ja, indem man wahrspielt, indem man aus dem Hauptwort ein Zeitwortmacht. Ich bin ja gegen Hauptwörter. Die Zeitwörter erzählen, beleuchten das Problem. Hauptwörter sind sehr leicht dabei, starr zu werden, plakativ zu werden, so wie «Wahrspieler».
Sie haben es in dem Text ja auch als Pointe formuliert.
Damals war ich noch mehr auf spitze Sachen im Schreiben gerichtet.
Also der Schauspieler spielt, wenn es glückt, keine Rolle. Er spielt, wie auch immer, wahr, und in «Das Spiel vom Fragen» werden, wenn man es mit Ihren früheren Stücken vergleicht, für die Arbeit der Schauspieler plötzlich Worte wie «scheu» oder «staunen» wichtig, die Lust, ein wahres Gefühl zu vermitteln, ernst zu sein. Im Grunde ist das der landläufigen Auffassung des Schauspielerberufs entgegengesetzt, der ja immer auch ein wenig blenderisch wirkt, eitel, eben nicht wahr, sondern nur als ob. Dabei habe ich erlebt, dass Schauspieler, besonders ältere, sehr aufrichtig von ihrer Scheu sprechen, sich zu veröffentlichen, etwas, das den Schauspieler in «Der große Fall» ja auch überkommen hat.
Ein Zeichen eines guten Schauspielers ist diese Scheu. Die ganze Geschichte vom «Großen Fall» ist ja auch ein Anerzählen gegen die Vorstellungen, die man so vom Schauspieler hat. Dass ein Schauspieler vielleicht der zurückhaltendste und der unsichtbarste aller Menschen im Verlauf des Tages ist, wenn er nicht gefilmt wird oder auf der Bühne steht – das ist gerade das Gegenteil von all den auffälligen Menschen heute. Alle, jeder Mensch heutzutage auf der Straße oder in der Metro, vielleicht weniger in den Kirchen, aber auch ein bisschen auf dem Fußballplatz, spielt sich auf. Das ist ein gutes Wort. Aber ein guter Schauspieler spielt sich weder auf der Bühne auf, geschweige denn außerhalb der Bühne, um ein harmloses Wort zu verwenden. Die unauffälligsten Menschen, habe ich immer bemerkt, sind im Alltag Schauspieler. Es gibt wenig so fast durchsichtige, - eines meiner liebsten Wörter, das ist kein Hauptwort, «durchlässig» ist ein Adjektiv - , die durchlässigsten Menschen sind Schauspieler, wenn sie den Namen verdienen.
In «Der große Fall» wird ein Mensch auf seinem Weg durchlässig für das, was ihm widerfährt …
Es erzählt sich ihm alles. Die Welt erzählt sich ihm, weil er sie durchlässt. Aber Durchlassen ist ja auch schmerzlich. Es ist, wie Goethe sagt, ein «Rad von Schmerz und Freude», im «Torquato Tasso». Ich kann es nicht genau … «rollt in seiner Brust» oder «dreht sich». So geht es ihm eigentlich. Er verkörpert auf eine Weise den Torquato Tasso, aber der nicht mehr die Rolle hat des Torquato. Er ist zum Glück befreit von jeder Rolle, der Schauspieler, dieser da. Und will auch gar nicht mehr spielen. Ob er diesen Amokläufer spielend verkörpern soll, in dem Film, der ihm bevorsteht, ob das zustande kommt, ist ja am Ende …
… offen.
… eher offen, ja.
Ihre Beschreibung des Schauspielers als jemand, der durch sich hindurchleitet, womit er in Kontakt kommt, ist auch das Gegenteil von allem Virtuosen, eigentlich von dem, was wir klassisch mit dem Schauspieler verbinden, vielleicht auch irrtümlicherweise.
Zumindest diesen Schauspieler kann man sich nicht als Virtuosen vorstellen. Das wäre auch furchtbar, ich hätte da keine Geschichte zu erzählen, höchstens Anekdoten. Und Anekdoten gibt es zu Schauspielern genug. Aber ich habe dafür eher taube Ohren. Was mich interessiert: Ist jemand erzählwürdig?
Denken Sie beim Schreiben an bestimmte Schauspieler, an Ulrich Wildgruber zum Beispiel?
Manchmal habe ich ihn, nicht für den Protagonisten, oder wie man das nennen soll in der Geschichte, vor mir gehabt zum Reflektieren über das, was in der Erzählung ein Schauspieler ist. Weniger Bruno Ganz, oder vielleicht den ganz jungen Bruno Ganz hatte ich mal vor mir beim Erzähler.
Gibt es für Sie eine Begegnung mit einem Schauspieler, die Ihnen geholfen hat, besser zu verstehen, worum es in dem Beruf eigentlich geht? Es werden, aus der Perspektive eines Schauspielers doch auch ganz andere Werte in seiner Berufswelt sichtbar, andere Kriterien für Gelingen oder Scheitern, Können oder Wissen.
Ich glaube, das gilt nicht nur für das Verhältnis von Schauspielern und Schreibern, sondern für die Verhältnisse aller Berufe, die eine Herausforderung darstellen oder die Probleme erfordern, das heißt schöne, schöne Probleme. Ich glaube, wenn ein Zimmermann, ein Handwerker oder Schauspieler über die Klippen-, und Skylla-und-Karybdis-Probleme in ihrem jeweiligen Beruf erzählen, kann jeder sich wiedererkennen. Ein Schriftsteller als Held kommt mir eigentlich weniger einleuchtend vor. Ich kann meine Probleme nicht erzählen, das gibt keine Erzählung her. Aber ein Schauspieler, wenn er erzählt – das ist universell. Oder auch ein Handwerker. Man muss ja nicht gleich mit Hölderlin kommen, «In Deutschland gibt es nur Handwerker, keine Menschen», das habe ich nie verstanden, den Satz. Denn ein Handwerker kann so menschlich erzählen wie eben auch ein Schauspieler. Aber ein Schriftsteller ist kein Handwerker, ein Schauspieler schon eher. Ein Schriftsteller ist ein Handwerker für mich nur in dem Sinn, dass er etwas weglässt, was er nicht machen darf. Aber ein Handmerker muss ja sagen können, was zu tun ist. Ein Schriftsteller … Deswegen bin ich eigentlich eher skeptisch, was Schreiberschulen betrifft, es sei denn, es gäbe Schreibschulen, wo gesagt wird: Das und das nicht, was man alles nicht machen darf. Andererseits soll man manchmal auch das tun, was man nicht tun soll. Für manche Momente im Rhythmus einer Arbeit passt gerade das Falsche, das Unorthodoxe ist das Richtige, nicht nur das Richtige, sondern das Wahrhaftige.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie als Erzähler relativ früh eine Scheu vor dem, was man die Tricks des Erzählens nennt, entwickelt haben, also vor dem, was Sie eben als das Handwerkliche beschrieben haben, das Virtuose, gut Gebaute im schematischen Sinne. Und dennoch erzählen Sie eine Geschichte, etwas Unerhörtes. Aber eben mit anderen Empfindlichkeiten, zu denen Sie uns ja auch verführen wollen. Diese Haltung, die Sie als Erzähler prägt, ist auch eine, die ich in Ihren Stücken, zumindest ab einem bestimmten Punkt sehr stark empfinde – das geht eng einher mit Ihrer speziellen Auffassung vom Schauspieler, oder auch vom Augenblick, etwas, das eigentlich nicht zu schematisieren ist.
Ja, ich bin kein Stückeschreiber, kein Stückezimmerer, ich bin eigentlich ein Stümper. Aber mit einem großen Gefühl. Und das große Gefühl leitet mich zur Form – weil wenn Sie das Gefühl verraten, heißt das, dass Sie formlos werden. Ich habe kein System, wie man Stücke schreibt, hatte ich von Anfang an nicht. Es gibt ja bewundernswerte Dramatiker wie, um zurückzugehen im Jahrhundert, Arthur Miller und Tennessee Williams, oder Eugene O’Neill – das ist perfekt gezimmert, jeder Satz, jede Pause. Beckett weiß immer ganz genau: Fünf Sekunden Pause. Mir ist das total … da erwacht die Anarchie in mir! Da denke ich: Wie kann man das so? Wie ein Zwölf-Ton-Musikstück von Webern oder Alban Berg hat Beckett seine Stücke geschrieben. Also das war einmal, und das gibt es ja immer noch.
(…)
Erkundungen
Über »Die Arbeit des Zuschauers« – Peter Handke und das Theater.
Das materialreiche Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung.
Von Lothar Struck
Bereits seit September 2012 liegt der Band »Die Arbeit des Zuschauers«, herausgegeben von Klaus Kastberger und Katharina Pektor, vor. Er ist zugleich Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung über »Peter Handke und das Theater« die am 30. Januar 2013 im Wiener Theatermuseum eröffnet wird. Es dauert nicht lange, bis man über das opulente und prachtvolle Buch ins Schwärmen gerät. Da gibt es zu »Publikumsbeschimpfung«, »Kaspar«, »Über die Dörfer«, »Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land« und »Immer noch Sturm« wunderbare Faksimiles von Handkes Notizbüchern und Briefen, Fotos von Aufführungen, Ausschnitten von Programmheften, Plakaten und Zeitungsartikeln. Manchmal schaut man dem Dichter direkt über die Schulter, bekommt die unterschiedlichen Stadien von Textwerdung anhand der jeweiligen Manuskriptseiten gezeigt. Und dazu gibt es sehr kluge und gut geschriebene Essays, die weitgehend auf wolkiges Germanistensprech verzichten. Komplettiert wird der Band mit einer Aufstellung aller Theaterstücke von Peter Handke nebst Daten zu deren Uraufführungen (leider fehlen die von Handke übersetzten Stücke).
Begonnen wird mit einem ausgezeichneten, tiefgehenden Gespräch Thomas Oberenders mit Peter Handke. Danach verortet Klaus Kastberger in seinem sehr erhellenden Aufsatz »Lesen und Schreiben« Handkes Theater als »Entwürfe für Gegenwelten, die sich aus literarischen Evidenzen bauen«. Dabei richtete sich Handke zunächst gegen die »vermeintlichen Evidenzen der Literatur« - und hier insbesondere den »Konventionen des Realismus«. Kastberger verknüpft damit Handkes Auftritt bei der Gruppe 47 mit den kurz darauf entstandenen programmatischen Aufsätzen (»Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms«, »Die Literatur ist romantisch«), die dann deutlich mehr sind als medienwirksames Gepolter. Handke betreibe ausdrücklich »kein Anti-Theater«, so Kastberger: »Ganz im Gegenteil restituiert jene Art von Wirklichkeit, die bei Handke im Theater Einzug hält, am Theater den alten kathartischen Sinn.« Überzeugend wird dies als Kontinuum in Handkes Schaffen ausgeführt; an »Publikumsbeschimpfung« 1966 über »Die Fahrt im Einbaum« 1999 bis »Immer noch Sturm« 2010. Das extrem kontrovers (und meistens ablehnend beurteilte) »Einbaum«-Stück nimmt Kastberger dabei fast exemplarisch für die Jugoslawien-/Serbien-Texte Handkes: »In ihnen zeigte sich eine andere Art der Wahrheitsfindung am Werk als in den Daten, Fakten, Berichten. Bildern und Zeugenaussagen, die die andere Seite für ihre Zwecke sammelte und propagierte. Für Handke gab es damals nur eine Devise: Hingehen, anschauen und beschreiben. Einen solchen Ansatz, der das Recht der poetischen Wahrheit in ein Umfeld setzt, das nicht seines ist, wollte und konnte man dem Dichter nicht durchgehen lassen.« Entsprechend fielen dann ja die Reaktionen aus.
Martin Sexl knüpft etwas später an das »Einbaum«-Stück und dessen Rezeption an. Vor seinem luzidem Essay »Der Einbaum, die Medien und der Krieg« werden der Brief Handkes mit zum Teil launigen, aber auch durchaus ernsthaften »Hinweise[n], Fingerzeige[n]« an Claus Peymann, dem Regisseur der Uraufführung des Stückes und sein dreiseitige Fax vom 19. März 1999 an das Burgtheater abgedruckt. In Handkes gut lesbarer Handschrift weist er Peymann mehrmals auf den durchaus mitschwingenden »Sarkasmus« des Textes hin, erklärt als Grundton »das heulende Elend« und möchte »ein paar Lieder von Um Kalsum (Ägypten) durch die Räume schallen lassen« (gemeint ist wohl Umm Kulthum. Das Fax drei Wochen später nimmt dezidiert Bezug auf die im Vorfeld der Inszenierung bereits vernehmbaren Schmähungen des Stückes (das noch gar nicht veröffentlicht war; die Uraufführung erfolgte am 9. Juni 1999), der Person Peter Handke und seiner Familie durch diverse Zeitungen in Deutschland und Österreich. Handke möchte auch hier launig sein, bietet den Journalisten sogar an, ihn weiter zu beschimpfen, um dann fast pathetisch zu fordern: »laßt das Stück - laßt die im status nascendi befindliche Aufführung - laßt vor allem die Schauspieler in Frieden, ab sofort und bis nach der Premiere!« Wer das Fax genau liest, erkennt die Erschütterungen Handkes ob dieser kampagnenartigen Diffamierungen deutlich.
Sexl stellt die Radikalität Handkes im Unterlaufen »gängige[r] Bild- und Medienlogiken«, die sich »wenig um Moralvorstellungen schert und sich nicht scheut, Widersprüchliches ästhetisch zu verhandeln« heraus. Er nennt das Stück »ein paradoxes Spiel« und verschweigt nicht die Gefahren und Ambivalenzen einer solchen Darstellung im Kontext dieses Themas, konzediert aber, dass Handke sehr wohl weiss, was er tut. Sexl erkennt, dass Jugoslawien für Handke »der metaphorische Angelpunkt« einer »vor-geschichtliche[n] und vor-zivilisatorische[n] Gemeinschaft« ist. Dabei ist der »Glaube an die Möglichkeit einer mythischen Gemeinschaft…bei Handke jedoch erstens durchaus gebrochen und ironisch verfremdet« und »zweitens ist sich der Autor sehr wohl dessen bewusst, dass ‘Jugoslawien’ kein realer Ort (mehr) ist, sondern ein metaphorisches Konzept«. Eine sehr wichtige Spur, die Sexl hier legt, aber - und das ist der einzige kleine Makel dieses ansonsten wunderbaren Buches - leider nicht weitergesponnen wird. Es hätte sich durchaus angeboten, dieses metaphysische Konzept, welches sich bereits in »Über die Dörfer« 1981 zeigte, im »Spiel vom Fragen« (1989) spielerisch aufbereitet wurde und schließlich im sogenannten Königsdrama »Zurüstungen für die Unsterblichkeit« 1997 eine verspielt-experimentelle Weiterentwicklung fand (mit dem »Lusthaben auf Macht« und einer Neuorientierung des Politischen durch den Enklaven-Königs Pablo) näher zu beleuchten. Denn in vielen von Handkes Stücken spielen mögliche neue Formen eines Zusammenlebens von Menschen eine wesentliche Rolle.
Sehr interessant ist Katharina Pektors Gespräch mit Claus Peymann (vom Mai 2012). Peymann überkommt zuweilen eine doch arg veteranenhaft daherkommende Vergangenheits(v)erklärung, die manchmal in seltsamen Formulierungen mündet, etwa wenn er glaubt, mit den Augen von Peter Handke zu sehen. Aber dann wiederum gibt es sehr schöne Passagen, etwa die Kurz-Charakterisierungen von Handkes Theaterstücken nebst dessen Suche der »’heile[n]’« Welt, die Peymann auch politisch-utopisch deutet. Aber auch Diskrepanzen habe es immer gegeben, so sei ihm, dem »Antitheoretiker« (Peymann über sich selbst), Handkes Begriff des »Wahrspielers« immer fremd geblieben. Mit der Überreichung des Belegexemplars dieses Buches könnte sich dies ändern, denn Anke Roeder widmet sich in ihrem Aufsatz »Wahrspieler - Performer« just diesem Thema.
Peymann äußert sich zu der »tiefen Zerrüttung und Entfremdung« zwischen ihm und Handke während der Vorbereitungen zur geplanten Uraufführung von »Immer noch Sturm« am Wiener Burgtheater mit dem Berliner Ensemble. Peymann spricht von »zunehmende[r] Misanthropie« Handkes, das Misstrauen sei unüberbrückbar gewesen. Der tatsächlichen Grund für die Entfremdung soll jedoch die unterschiedliche Beurteilung des Films »Das weiße Band« von Michael Haneke gewesen sein, wie Pektor Peymann entlockt. Das Stück wurde ja dann in Salzburg von Dimiter Gotscheff uraufgeführt; die Inszenierung lobt Peymann zunächst, um dann kurz darauf zu erklären, dass das Stück »in seiner ganzen Vielfalt bis heute nicht uraufgeführt« sei. Inzwischen seien sie jedoch »wieder versöhnt« und er warte auf ein neues Stück von Handke »fürs Berliner Ensemble«. »Die schönen Tage von Aranjuez« schrieb Handke allerdings mit der Intention, es von Luc Bondy inszenieren zu lassen.
Der Band widmet sich diesem Stück von mehreren Seiten recht ausgiebig. So analysiert Katharina Pektor in einem sehr instruktiven Beitrag Bühnenbilder von Handke-Uraufführungen. Neben »Immer noch Sturm« (Bühnenbild Katrin Brack), »Über die Dörfer« (Jean-Paul Chambras), »Die Fahrt im Einbaum« (Karl-Ernst Herrmann) eben auch Amina Handkes’ »Aranjuez«-Bild. Luc Bondy erläutert bei Wolfgang Kralicek seine Gedanken zur Inszenierung und der Schauspieler Jens Harzer, der sowohl in »Immer noch Sturm« als auch im Zwei-Personen-Stück die männlichen Hauptrollen spielt, erzählt im Gespräch mit Hartmut Wickert noch einiges über seinen Zugang zu Handke.
Wie ein roter Faden zieht sich Erkundung, Kennzeichnung und Definition von Handkes »’epischem Theater’« durch den Band. Katharina Pektor betont, es sei »nicht nur antiaristotelisch, sondern auch antibrechtisch«. Hans-Thies Lehmann sieht Handkes Theaterstücke als »Texte, die postdramatisches Theater erwarten, Texte, die die fragende Anforderung an das Theater richten, für jeden Text zuerst eine Spielform zu erfinden, statt dem Pfad der Spiel-Konventionen des Dramas zu folgen.« Handke bedient sich nicht einfach bestehender Strukturen, er will, wie Pektor deutlich macht, »die Bühne gegen die Selbstverständlichkeit ihrer Formen in der Künstlichkeit ihres Spiels bewusst machen.« Dabei ist Handkes Theater, so Lehmann, »emphatisch bezogen auf Literatur«, als »Theater der Literatur, als Sprachtheater und Theater der Sprache « wie auch, dann später, »Spiele des Fragens, Geisterbegegnung und Monolog« und, wie dann Peymann erläuterte, auch als Experimentierfeld für die Erfindung (oder eher: Findung) neuer sozialer Gemeinschaftskonstruktionen. Die Sprache Handkes findet Lehmann »prosalyrischer….nur formal hier und da einmal dialogischer Art.« Tatsächlich gibt es kaum »die Dramaturgie einer ausgefalteten Fabel«. Theater ist eben mehr »in« als »mit der Sprache« bei Handke, was den vordergründigen Zugang erschwert. Aber, und das klingt auch im Gespräch mit Thomas Oberender an: »es geht um was« - so übersetzt Handke das Wort »Drama«. Es bleibt nie bei der formal-theoretischen Ebene – selbst in den Sprechstücken vom Anfang nicht.
Über den »Beat von Achtundsechzig« und die ersten Stücke des damals als Provokateur empfundenen Jungschriftstellers erzählt Karlheinz Braun. Herbert Bannert weiss einiges über die drei Übersetzungen Handkes aus dem Griechischen zu berichten (»Prometheus, gefesselt«, Aischylos, 1986; »Ödipus in Kolonos«, Sophokles, 2003; »Helena«, Euripides, 2010), »allesamt in gewissem Sinne Außenseiter« in der griechischen Tragödiendichtung. Manchmal ergänzen sich die Beiträge auf wunderbare Weise, etwa wenn Franziska Schößler und Christoph Narholz ihre Eindrücke vom (scheinbar) stummen Stück »Die Stunde da wir nichts voneinander wußten« wiedergeben. Dass es dann doch ab und an kleine Widersprüche gibt, ist eine natürliche Angelegenheit und vermag den Leser durchaus anzuregen.
Und so schwankt der Leser oft zwischen geistreicher Lektüre und beschwingtem Blättern in den zahlreichen Dokumenten und dem Sich-Verlieren darin. Einmal aufgeschlagen, möchte man dieses Buch so schnell nicht mehr aus der Hand legen. Und auch die rechtzeitig zur Ausstellung freigeschaltete Forschungsplattform der Österreichischen Nationalbibliothek zu Peter Handke lädt zum Verweilen ein; das bisher eingestellte Material verspricht für die Zukunft noch einiges. Klaus Kastberger und Katharina Pektor (mit Assistenz von Christoph Kepplinger-Prinz) haben großartige Arbeit geleistet (und so ganz »nebenbei« ist Pektor ja auch noch Mitherausgeberin des famosen Handke/Unseld-Briefwechsels). Und so hat Peter Handke nun auch im Netz einen Ort.
von Lothar Struck