«Hybridtheater»
Was wird man, fragte mich kürzlich mein Sohn, der gerade Geschichte studiert, über unsere Zeit in 200 Jahren sagen? Über Leute wie ihn und mich, die noch das Entstehen des Internets erlebt haben, die den ersten iPod und das erste iPhone gekauft haben, die am Leben waren, als Jeff Bezos zum reichsten Mann der Erde wurde und der Klimawandel eskalierte. Man wird sich fragen, wie wir das alles erlebt und daran mitgewirkt haben – am Klimawandel, an der Digitalisierung und am Ausklingen einer imperialen Weltordnung im Namen der Aufklärung. Man wird sich vorzustellen versuchen, wie es war, als man noch in Flüssen baden konnte. Als man noch Geheimnisse hatte und lesen konnte, ohne gelesen zu werden.
Wissenschaftler*innen trainieren Maschinen darauf, zu erkennen, worauf Menschen schauen, wenn sie ein Bild betrachten. Wenn Maschinen im digitalen Raum sehen, worauf ich achte, können sie die Darstellung dieser Informationen vergrößern oder weitere Informationen ähnlicher Art hinzufügen. Sie können aber auch bewirken, dass genau das verschwindet, was ich sehen möchte. In dieser Welt könnte ich beobachten, wie alles, was für mich bedeutsam ist, sich vor meinen Augen auflöst – oder vergrößert wird.
Was von vielen Menschen beachtet und geschätzt wird, kann also durch künstliche Intelligenz in unserem Wahrnehmungsfeld einen zentralen Platz erhalten oder entfernt werden, und dies in Echtzeit, während ich es betrachte, oder sogar noch zuvor. Was mir wichtig erscheint, wird von weniger wichtigen Aspekten der Realität separiert und bereinigt. Es ist eine Auslagerung und Verstärkung (durchaus «normaler») mentaler Funktionen an Maschinen, die ihrerseits nicht nur die Bilder lesen und sortieren, die sie uns zeigen, sondern auch uns. Menschen mit Gewaltphobien werden im Netz zukünftig vielleicht keine Bilder von Gewalt mehr finden, so wie man im chinesischen Internet schon heute nichts mehr über das Massaker am Tiananmen-Platz findet, «das Netz» aber bemerkt, wer sich dafür interessiert. Und über kurz oder lang wird «das Netz» überall sein – in jedem Ding, Prozess, Ort, mit dem ich in Verbindung stehe.
Wir sind jene Mehrgenerationenschicht, die diese Entwick- lungen hervorbringt und in dieser Netzmoderne zugleich noch eine Erinnerung an «früher» hat, als die Medien noch linear waren und man Briefe schrieb. Schon jetzt entsteht unter den Vorzeichen der Netzkultur eine neue Aufmerk- samkeit für das Analoge, Autonome, Vormoderne; aber das Leben, das in seiner Entwicklung stets einen Zuwachs an Intelligenz belohnt hat, so prognostiziert es James Lovelock in seinem Buch Novozän, wird vom biologischen Körper in den technologischen weiterziehen. Die Intelligenz, die Selbstreproduktion und die Evolution werden sich neue «Körper» erschließen und die Grenzen zwischen Tieren, Menschen und Maschinen werden weniger strikt und weniger ängstlich bewacht, vielmehr wirken die Übergänge zwischen ihnen immer verlockender.
Die Neuzeit begann nicht damit, dass auf der Globe- Theatre-Bühne Shakespeares plötzlich Ferngläser und Mikroskope benutzt wurden. Shakespeares Theaterbau hatte keine Zentralperspektive. Aber die Perspektive der Figuren auf der Bühne wurde plötzlich eine andere – es war nicht mehr Gott, der ihrem Leben zuschaute, sondern der Mensch selbst. Und er sah Individuen, die zwar Züge ihrer mittelalterlichen Ahnen trugen, die noch halb Trickster oder Zauberer waren, aber nun ihrem eigenen Willen folgten und sich vor Menschen verantwortet haben. Das digitale Zeitalter beginnt seinerseits auch nicht mit Computeranimationen auf der Bühne, mit Videobildern in Echtzeit oder Streaming. Es kann sich völlig analog ereignen. Die Auflösung des Schemas von Sender und Empfänger ist zum Beispiel ein Aspekt der Netzwerkrealität – sie empfängt und sendet gleichzeitig, sie schafft einen Raum struktureller Rückkopplung, der andere Werk- und Begegnungsformen mit sich bringt. All das hat neue Formate und Dramaturgien entstehen lassen, die ihrem Wesen nach keine Computer brauchen, aber auf der Erfahrung einer digitalisierten Kultur beruhen.
Ein neues Worldbuilding
Das Theater des archaischen und mechanischen Zeitalters hat eine eigene Hochtechnologie hervorgebracht: Dramen, Stücke und die gerahmte Bühne sind seine über Jahrhun- derte perfektionierten Instrumente und sie werden nicht veralten. Sie werden weiter funktionieren wie die sympho- nischen Orchester des 19. Jahrhunderts und zu Teilen in Strukturen eines anderen Worldbuildings aufgehen. Diese neuen Theaterformen sind weniger literaturbasiert, auch wenn sie raffinierter geskriptet sind. Die neue Rolle des Skripts, das die Begegnung zwischen den Besucher*innen und dem Werk partizipativer und symbiotischer gestaltet, korrespondiert mit den Herausforderungen, vor denen unsere hochgradig vernetzte Kultur insgesamt steht: «Gesucht sind Ordnungen», schreiben Ruedi Widmer und Ines Kleesattel in ihrem Reader Scripted Culture, «in denen sich Vorstellungen der Gleichverteilung von Macht («distributed», «dezentral») mit Vorstellungen des freien Fließens von Daten und Informationen sowie solchen des Schutzes vor Manipulation («Blockchain») verbinden. Die in der realen Digitalisierung, Globalisierung und Ökono- misierung liegenden Formen der Durchdringung und
Entgrenzung werden als Probleme gesehen, denen man, wenn überhaupt, durch die Verbesserung dessen, was bei Galloway Protokoll heißt, beikommt.» (Ruedi Widmer, Ines Kleesattel (Hg.):«Scripted Culture. Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung», Zürich 2018, S. 14.)
Diese Protokolle bewirken und managen zum Beispiel die strukturelle Verflüssigung und Molekularisierung der Öffentlichkeit oder steuern im Hybridtheater den Chat und die Abläufe und Zugänge in einem virtuellen Theaterraum. In der künstlerischen Produktion erlauben sie das Entstehen von symbotischen, partizipativen Welten, die inklusiv sind und in Echtzeit die verschiedensten Akteur*innen und Technologien verbinden und im eigentlichen Sinne nur noch Akteur*innen unterschied- lichen Grades kennen. Hier ist jeder und jede mittendrin, aber viele Elemente der technologischen Struktur sind interaktiv und mit verschiedenen Programmen vernetzt. Ein Wesenszug dieser neuen Theaterformen ist eine transhumane Vision, die das Funktionieren der symbio- tischen Systeme schildert – und nicht des Menschen.
In ihnen trifft die Zeitlosigkeit der digitalen Medien, in denen alles präsent bleibt, auf die Augenblicklichkeit des Geschehens und inszeniert diese Begegnung. Während die Programme der linearen Medien kuratiert sind und in der Zeit vergehen, liegen, so der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl, die digitalen Angebote zeitlos wie Minenim Raum und warten auf ihre Begegnung mit dem Publikum. Und so verhält es sich auch mit den digitalen
Theaterwelten – selbst da, wo sie analog inszeniert sind, aktivieren sie ihre Inhalte erst durch die aktiven Gesten des Publikums. Jede Aufführung in den Narrative Spaces von Mona El Gammal beruht auf diesem Skript verborgener Optionen, die von den Besucher*innen im analogen Raum ausgelöst werden.
In den kommenden Jahrzehnten können im digitalen Raum Schauspieler*innen, die gestorben sind, wieder erscheinen und nun neue Rollen spielen – sie können Texte sprechen, die sie nie gesagt haben, und das in jeder Sprache und in jeder physischen Gestalt. Wie in dem Science-Fiction-Film The Congress von Ari Folman, in dem die Schauspielerin Robin Wright in den besten Jahren ihrer Karriere dazu gezwungen ist, die Rechte über ihre Erscheinung an einen Medienkonzern abzutreten, der sie fortan in einer digital animierten Produktionswelt noch zu ihren Lebzeiten weiterarbeiten lässt – ohne dass sie jemals wieder vor einer Kamera stehen muss. Die Frage danach, wer spricht, wird sich anders beantworten, genauso wie die nach dem Was und dem Wo. Bereits heute ist es unklar und oft unwichtig, wer auf Imageboards wie 4chan mit seinen anonymen Posts ohne Login und Registrierung spricht.
Das Genre der Science-Fiction, sagte die Autorin Ursula Le Guin, ist gegenwartsbeschreibend, nicht prognostisch. Es formuliert, was heute evident ist, nicht was kommt: «Der Zweck eines Gedankenexperiments – als ein Begriff, wie er von Schrödinger und anderen Physikern verwendet wurde – besteht nicht darin, die Zukunft vorherzusagen»,
so Le Guin. «Schrödingers berühmtestes Gedankenexpe- riment zeigt, dass die ‚Zukunft‘, auf der Quantenebene, nicht vorhergesagt werden kann; aber es beschreibt die Realität, die gegenwärtige Welt. Science-Fiction ist nicht vorhersagend, sondern beschreibend.» (https://www.bukrate.com/quote/1777290 Übersetzung durch den Autor)
Die Digitalkultur macht sich heute im Gegenwarts- theater auf unterschiedliche Weise bemerkbar: Erstens
als ein anderes mindset, als eine neue Perspektivierung unseres Denkens und unserer individuellen Verortung
in der Welt, die nicht mehr grundsätzlich menschen- bezogen und menschengeneigt ist, wie Wolfgang Welsch dies formulierte.(Wolfgang Welsch: «Die Kunst und das Inhumane», in: «Grenzen und Grenzüberschreitungen, XIX. Deutscher Kongress für Philosophie 2002», Berlin 2004, S. 736.)
Felix Stalder beschreibt in seinem Buch Kultur der Digitalität, wie sich dieses mindset schon in der frühen Neuzeit herausgebildet und mit Aspekten wie Quantifizierung und Algorithmisierung verbunden hat. Zweitens zeigt sich die Digitalkultur im Vorhandensein eines digitalen Raums. In ihm hat das «Soziale» oder «Gesellschaftliche» eine andere Bedeutung. Er wird von der Tendenz des Internets zur Gamifizierung geprägt, von der Wettbewerbsorientierung, Fiktionalisierung und Affektorientierung der sozialen Medien, wie wir sie heute kennen. Drittens sind es die Echtzeit-Technologien, die hybride oder vollständig virtuelle Realitäten schaffen und zugänglich machen. Damit verbunden ist ein Überschwappen der digitalen Sphäre in die physische, realkörperliche Wirklichkeit und vice versa – inhaltlich, habituell, kommunikativ und politisch.
Diese Kennzeichen der Digitalkultur prägen nun digitale Theaterformen, die analog realisiert werden, hybrid oder rein virtuell. Virtuelles Theater ist es vollumfänglich dann, wenn Publikum und Performer*innen in Echtzeit im gleichen digitalen Raum sind. Mit den alten Technologien war dies bislang unerschwinglich – die Weiterentwicklung von Rechnern und Software hat das verändert. Auch das mit dieser Entwicklung verbundene operative Know-how nimmt auf Seiten der Künstler*innen und Institutionen beständig zu. Parallel zu diesem rein virtuellen Theater entstehen im freien und institutionalisierten Theater weit häufiger hybride Formate. Sie beruhen auf unterschiedlichen technischen Zugängen und besitzen unterschiedliche Gewichtungen zwischen dem rein Virtuellen und dem physisch Präsenten.
Hybride Theaterformen finden zeitgleich online und offline statt. Sie entwickeln für das Publikum im Saal und online nicht nur simultan unterschiedliche Beteiligungsformen, sondern auch unterschiedliche Modi der körperlichen Präsenz und Verhaltensweisen. Dennoch spielt der physisch präsente Körper in ihnen eine besondere Rolle und verankert das Geschehen. Denkbar ist, dass vollumfänglich virtuelle Theaterformen in Zukunft nicht mehr komplett und ausschließlich von Menschen generiert werden und sich daher mit Fragen nach einem Theater ohne Schau- spieler*innen, Regisseur*innen und Text verbinden. Was passiert, wenn all das von der KI kommt? Wer «macht» das dann? Diese Fragen werden in den hybriden Theaterpro- duktionen von Arne Vogelgesang bereits sichtbar. (…)
Auszug aus: «Hybridtheater», Essay, in: «Hybridtheater», Drei Gespräche mit Arne Vogelgesang, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2022, S. 7-15