«Die Höhle unter der Zeit»
Der lettische Regisseur Alvis Hermanis und sein Jaunais Rigas Teatris haben, was alle europäischen Theatermacher suchen: Zukunftsmut und Magie.
von Thomas Oberender
In den Gesprächen, die ich in Riga mit Letten führte, erklang immer wieder eine markante Interjektion, ein kurzes, je nach Zusammenhang anders gefärbtes nuja, das mir als spontane Geste des Gemüts sofort verständlich war und mehr sagte als jedes übersetzte Wort. Dieses nuja ähnelt dem deutschen naja oder tja, ein Ausklingen und Anheben des Gesagten in einem, eine Wendung, die eine Tatsache bekräftigt und zugleich vom Tisch fegt. Dies nuja legt sich wie ein Pflaster über die offenen Stellen des Gemüts und lenkt die Stimmung dabei doch sanft in die Zustimmung. Eine merkwürdige Melange aus Duldung und Aufatmen prägt dieses nuja. Wer es hört, den zieht es mit, hinab ins Innere des Landes.
Alvis Hermanis, den Leiter des Jaunais Rigas Teatris, treffe ich nach der Vorstellung seiner Inszenierung von Gogols Revisor im Büro, einem kleinen Zimmer, in dessen angrenzendem Raum er mit Frau und Kind die ersten zwei Jahre nach der Übernahme des Theaters vor sieben Jahren gelebt hat. Auf der roten Couch saßen vor mir Marie Zimmermann von den Wiener Festwochen und Stefanie Carp aus Zürich, Matthias Lilienthal aus Berlin und Elisabeth Schweeger aus Frankfurt, auch Tankred Dorst war hier. Kurz nach mir wird Jürgen Flimm anreisen - der Regisseur Alvis Hermanis ist in der deutschsprachigen Theaterwelt inzwischen ein allseits umworbener Künstler.
Aber so, wie ich ihn kennen lerne, bin ich mir sicher, dass es ihn von hier nicht wegzieht. Er kennt die Welt, hat zwei Jahre in New York als Schauspieler gearbeitet und ist so seiner Einberufung zur Armee entgangen. Er war mit seinem Theater auf Gastspielreisen in Deutschland, Frankreich, Italien, Schweden und Mexiko, und doch hält ihn etwas in Riga fest. Geht es ihm wie Heiner Müller, dem Wahlostberliner mit Reisepass? Der in seinem Material leben muss, weil nur aus der Poesieverweigerung seines Lebens die Poesie seiner Kunst entsteht?
Auf der Premierenfeier von Hermanis’ jüngstem Projekt, den Lettischen Geschichten, lerne ich seinen Freund aus Köln kennen - einen Letten, der, kaum im Lande angekommen, nichts wie fort möchte. Gefällt es dir, fragt er mich, unser Bulettenland, unser Toilettenland? Als gemachter Mann, Freund von Jeff Koons und Partner eines deutschen Großverlegers, wollte er Anfang der neunziger Jahre beim wirtschaftlichen Neubeginn helfen. Doch die Funktionäre, die nun an die Macht kamen, sagten ihm: Die nächsten zehn Jahre gehören uns. Sie hatten kein Interesse an weißen Geschäften, an seinen Kontakten und legalem Geld - eine Million Euro verschwand spurlos in einer lettischen Bank.Dies Land bleibt klein, sagt er, Riga hat keine gute Ausstrahlung. Wir Letten wurden immer regiert, von Deutschen, Russen, Schweden, Deutschen, Russen - das prägt, sagt er und weist stolz auf Alvis: Er ist in diesem mediokren und korrupten Land ein Lichtblick, du verstehst? Und Alvis Hermanis hört zu, schenkt Grappa nach und sagt: Weißt du, bei der Olympiade in Athen, wer kann sich schon freuen, wenn ein Amerikaner gewinnt? Du willst immer auf der Seite der Starken sein.
Diese Lettischen Geschichten - man stelle sich vor, ein Theater in Deutschland wollte noch einmal das Ganze seines Landes fassen. Und würde zwanzig Schauspieler aussenden, die sich jeder je einen Menschen auswählen, dessen Leben sie für einige Monate teilen. Den sie begleiten, dessen Geschichte und Lebensumstände sie kennen lernen und dem sie so nahe kommen, dass sie seine lebende Kopie werden, ihm identisch in Gestus und Sprechweise, vertraut mit seinem intimsten Innenleben und seiner oberflächlichen Erscheinung. Und diese Kopie in Wort und Bild würde jeder der zwanzig Schauspieler wieder ins Theater tragen, Monate später, und vorstellen - unter dem Namen der Person, die der Schauspieler verkörpert wie ein Trickster - als er selbst und der andere. Plötzlich stehen sie da: der Priester, der ein Alkoholiker ist, und die Blinde aus dem Heim, die sich verliebt hat. Der Rekrut, der sich auf seinen Einsatz im Irak vorbereitet und zeigt, wie man sich mit 0,3 Liter Wasser in der Wüste den Körper wäscht. Das junge Mädchen, das in einer Stripteasebar lernt, wie sich Frauen erotisch bewegen. Oder zwei Waisen, die ihr Geld als Entertainer für Kinder auf den Partys der Neureichen verdienen - oder die geprügelte Frau, die ihren Mann verlässt und ihn vermisst. Und der einsame Rentner, der Bernstein sammelt, oder jenes Hochzeitsvideo, auf dem der schöne Trauzeuge unvermittelt am Herzinfarkt stirbt - all dies ergibt plötzlich ein Bild, das sonst nirgends erscheint.
Das sind wir? Nein, Schauspieler, die in den besten Momenten des szenischen Reigens eine flirrende Zone erzeugen, in der sie zwischen dem Bericht über einen Menschen und seiner Existenz bruchlos hin und her wechseln. Und da ist er, der Skandal - denn das, was auf der Bühne gezeigt wird, darf doch nicht wahr sein.
Kunst entsteht hier, weil man sich so weit wie möglich von ihr entfernt. Mit allen Mitteln der Kunst. Auf ihrer Recherche sammeln die Schauspieler Biografien, Dialekte und Milieus, die auf der Bühne sonst nie erschienen. Was würde passieren, wenn ein deutscher Schauspielstar aufgefordert würde, sich mit seiner ganzen Professionalität über Monate mit einer Kindergärtnerin zu beschäftigen, mit einem Bühnentechniker, mit einem gottverlassenen Alten im Heim? Aber auch in Lettland ist nicht jeder Schauspieler begierig darauf, den Schutzraum des Theaters zu verlassen. Alvis Hermanis sucht im Augenblick für sein Ensemble nach neuen Schauspielern, die nicht wie Schauspieler wirken.
Wie wirken Schauspieler? Nuja. Was Hermanis sucht: Gesichter, Körper, Stimmen, die Geschichte haben, eigen sind, nicht normiert - kein Traum. In den fünf Tagen, während deren ich in Riga seine Proben und Aufführungen besuche, sehe ich Stars, die allesamt keine sind. Alle Schauspieler, die an der Produktion mitwirken, sind auf jeder Probe anwesend. Sie applaudierten nach dem Vorspiel der Kollegen, auch der Regisseur. Sie diskutierten über das Gesehene und schlagen vor, wie es von jedem Anflug von Lebensphilosophie und moralischen Auslassungen zu befreien sei, um den faktischen Kern offen zu legen. Das angenehme Gefühl stellte sich ein, in Gesellschaft erwachsener Menschen zu sein. Kein Marionettentum, kein Darstellungsdienst, sondern emanzipiertes Probieren, Diskussion auf Augenhöhe. Aufatmen, Glück. Menschen mit Anspruch, Künstler mit Würde. Unsicher, suchend, aber nicht manipulierbar. Schön in Körper und Geist. Und der Regisseur? Natürlich bleibt er die Zentralgewalt, die prüfende Instanz der Idee. Aber zugleich ist er jener, der sich als einer versteht, der lediglich die Richtung weist. Auf diese emanzipierten Schauspieler ist Alvis Hermanis, selbst in vielen Rollen auf den Bühnen seines Hauses präsent, angewiesen. Auf ihre Fähigkeiten, ein vollkommen transparentes Medium zu sein, beruht das Geheimnis all seiner Arbeiten.
Zum Beispiel seine Inszenierung Langes Leben: In ihr verwandeln sich drei Männer und zwei Frauen, keiner älter als Mitte dreißig, zu greisen Bewohnern einer Alten-WG. Ohne Maske und Perücke entwickeln die jungen Darsteller eine makabere Studie dieses Lebens zwischen Vegetieren und Sichnützlich-Machen: Anziehen, Waschen, Essen, Arbeiten. Spukhaft wirken die An- und Auskleidepantomimen, in denen immer mehrere Lebenszeiten gleichzeitig präsent sind - das Kindische des Alters und das Erstorbene. Ihre Studie zeigt ein Gruselkabinett tapferer Selbsthelfer am Rande des eben noch Möglichen, und zugleich ist diese Vorhölle auch eine tolle Welt, Elektrizität wird wieder dämonisch, und gegen Abend werden die Gebrechlichen jung und feiern Geburtstag. Die Inszenierung lässt die Tragödie der Hinfälligkeit immer wieder umschlagen in grotesken Witz. Sie braucht keine Worte, was gesagt wird, ist ohnehin oft nur ein sinnloses Gebrabbel oder Kürzel. Dafür sprechen die Dinge, mit denen die Zimmer voll gestopft sind, als wäre jede einzelne Kammer eine Arche Noah dieses untergehenden Lebens.
Keiner der Zuschauer, die dieser Simultuanbühne aus fünf Räumen in zwei Podestreihen gegenübersitzen, wird die gleiche Vorstellung sehen wie sein Nachbar. Zu verschieden sind die Blickwinkel, es regiert das Prinzip der Überfülle: Zu viele Dinge, Details, Korrespondenzen und Zwischenfälle ereignen sich. Das Auge wandert und muss eine Auswahl treffen - der Wahrnehmende merkt, dass sein Betrachten überhaupt erst formt, was er vorzufinden glaubt. Alvis Hermanis gibt die Wahrheit der Zentralperspektive auf, er lässt die Phänome intensiv umspielen, ohne objektivierende Auflösung.
Was bleibt, ist eine Erfahrung von Menschen, Fatalität, Kontingenz, Vereinzelung und Gemeinschaft, die nicht trügt.
Geschichte ist ein Zug, der seine Schienen vor sich herrollt, sagt Robert Musil. Für Alvis Hermanis ist politisches Theater im ideologischen Sinn obsolet. Eher interessiert ihn eine Erfahrung von Spiritualität. Gleichwohl ist die Wirkung seiner Produktionen politisch. Mit der magischen Choreografie von Langes Leben beleuchtet er eine Gesellschaft, deren Wirtschaft jährlich um acht Prozent wächst und die dafür bewusst ihre Alten opfert. Sein Theater definiert er hingegen als Asyl des Nichtkommerziellen, als ein Kulturhaus im altmodischen Sinne - hier finden Aufführungen fremder Produktionen, Lesungen, Filmnächte und Diskussionen statt. In diesem Theater, so Hermanis, findet immer mehr statt als nur Theater. Der Feind, sagt er, seien diejenigen, die das Leben uniform machen, die Differenz und Unabhängigkeit auslöschen. Aber wer sind die, frage ich. Worum es gehe, sagt Hermanis, ohne nach einer Antwort zu suchen, sei die Bewahrung und Stärkung von Autonomie. Er könne sofort sagen, ob jemand gleichgeschaltet ist oder frei. Ob jemand Künstler sei oder Kunst vermarktet.
Riga ist kein exotischer Ort. Die Globalisierung rückt die Stadt näher an Paris als etwa Darmstadt oder Lüttich. Gleichzeitig verteidigt diese Stadt aber auch einen gewissen Abstand. In Ostdeutschland, im ersten Jahr nach dem Fall der Mauer, herrschte eine Atmosphäre, die Riga bis heute prägt: Damals wurden in der noch bestehenden DDR allerorts Parteien, unabhängige Zeitungen und Firmen gegründet, neue Gesetze entstanden, und an Runden Tischen bahnte sich das Neue im Gespräch zwischen unterschiedlichsten Kräften an, alles schien möglich. Dieser euphorische Winter Ostdeutschlands, jenes zukunftsfrohe eine, erste Jahr lebt in Riga als ein langer Frühling fort.
Nuja. Die Gunst, im Windschatten der Globalisierung seinen langsamen Weg gehen zu können, hat Lettland davor bewahrt, sofort wieder zum Protektorat zu werden. Die Menschen haben Zukunftsmut. Junge Frauen und Männer strahlen eine erotische Präsenz aus. Als mir Alvis Hermanis den Zentralmarkt Rigas zeigt, bin ich überwältigt von der in Europa vielleicht einzigartigen Vielfalt an Lebensmitteln: Nüsse aus Sibirien und Melonen aus Kleinasien, Tomaten in nie gesehener Herz- und Blütenform, Sanddornsaft und Waldpilze, Beeren, Kaviar, Fisch, Fleisch, Honig, Konfekt, Gemüse und Gebäck von überwältigender Mannigfaltigkeit und Qualität. Hermanis Freund aus Köln versucht, diesen Eindruck mit dem Hinweis auf das, was es hier inzwischen nicht mehr gibt, zu entzaubern, und sagt, dass die lieben Großmütterchen hinter den Obstständen inzwischen von cleveren Großhändlern engagiert werden.
Aber noch ist sie da, die Differenz zur one world des Westens, die Basarhaftigkeit und das selbstbewusste Gemüt der Schwachen. Und als wir in den Morgenstunden nach der Premierennacht der Lettischen Geschichten durch das Rigaer Nachtleben streifen, dessen exzentrische Bars und Clubs Männer aus ganz Skandinavien anlocken, führt uns Alvis Hermanis in eine Dorfdisco mitten in der Hauptstadt, in der zu lettischer Musik freundlich geplaudert und in Paaren getanzt wird. Irgendetwas überlebt in diesem Mann und seiner Stadt, das man sich in unseren Westen zurückwünscht, freilich, wie ein Kind, das an sein verlorenes Spielzeug denkt. Nuja. Das Jaunais Rigas Teatris bleibt Hermanis’ Höhle unter der Zeit, inmitten des Materials ein Hort der Sammlung und Konzentration, in dem alle Vektoren nach innen zeigen, um in die Welt zu gehen.
Die Zeit, 47 / 2004, 11. November 2004