«Die Wiedererrichtung des Himmels»
Notizen über Geschmack, Architektur und das Konzept der Gründungstriennale von Gerard Mortier
Thomas Oberender
(Auszug)
Bevor es ein Programm gab, bestanden die Orte: Die Orte der Ruhrtriennale sind die heimlichen Protagonisten des Programms. Sie besitzen eine Geschichte und Aura jenseits der Kunst. Ihre soziale und architektonische Realität verleiht den Theaterstücken oder Konzerten unvermeidlich andere Koordinaten der Produktion und Wahrnehmung als an den traditionellen Kulturinstitutionen. Die Jahrhunderthalle in Bochum, die Gebläsehalle und Kraftzentrale in Duisburg oder das Gelände der Kokerei Zollverein in Essen erfordern aufgrund ihrer Dimensionen, aber auch ihrer baulichen Präsenz innerhalb der Aufführungen andere szenische Erfindungen und Reproduktionsformen und oft wirken die klassischen Texte hier plötzlich wieder experimentell, genauso wie die Kreationen, die für diese Hallen entstehen, oft ein fast natürlich wirkendes Pathos entwickeln. Es ist unmöglich, diese Spielstätten abzudunkeln wie die Kunstlichthöhlen der Stadttheater, hier herrscht das Licht der Stunde, der tatsächliche Tag – Regen fällt aufs Dach, das Draußen ist an diesen Orten immer auch drinnen, die Sommerhitze, die Abendkühle: All das schafft eine andere Präsenz der tatsächlichen Orte im Stück, wohingegen die Architektur des eigentlichen Baus im Theater ja immer verschwindet, weil man im Theater nie das Haus selber wahrnimmt, sondern nur die erleuchtete Bühne. Bei der Triennale aber sind die Räume riesengroß und es gibt nirgends ein Portal, so dass die Situation des Spiels durchlässig ist für die bauliche und atmosphärische Umgebung. Im traditionellen Theater, so der niederländische Regisseur und Intendant Johan Simons, ist es normalerweise dunkel. In den Hallen des Ruhrgebiets wollte er daher mit Tageslicht arbeiten und diese Möglichkeit erschien ihm zeitgemäßer. Die Hallen machen die hier aufgeführten Werke in einem gewissen Sinne wieder «nackt». Dass in diesen riesigen Hallen mit den archaischsten Elementen gearbeitet wurde, mit Feuer, Stahl, stellt die künstlerischen Arbeiten in einen sehr imposanten Kontext, vor dem die Inszenierungen mit einer eigenen Kraft standhalten müssen und dabei im Grunde keine fixe Infrastruktur vorfinden, sondern technische und konzeptionelle Lösungen von Fall zu Fall erst schaffen müssen, wodurch die Aufführungen oft einen großen Atem entwickeln.
Interessanterweise besteht ein struktureller Zusammenhang zwischen den baulichen Relikten der Industriekultur und der Situation der hoch subventionierten Kulturindustrie: Die architektonischen Orte sind inzwischen zweifach bedroht – durch ihre Nutzlosigkeit genauso wie durch ihre Musealisierung. Was anfangen mit diesen Nutzbauten ohne Zweck? Events welcher Art überleben überhaupt in diesen fußballfeldgroßen Sarkophagen einstiger Industrieprojekte? Vor einem ähnlichen Problem steht der Opernbetrieb auch. Was bewahrt ihn vor der Musealisierung? Ist das Repertoire nicht längst geschlossen, Rosenkavalier und La Traviata in immer neuen Interpretationen? Das Sprechtheater, das weniger luxuriös, alltagsnäher und vergleichsweise spontaner produziert, hat die Öffnung seines Repertoires und seiner Konventionen unter dem Vorzeichen des Regietheaters dreißig bis vierzig Jahre früher vollzogen – nun steht das Musiktheater vor der gleichen Herausforderung: Wie die Institutionen sichern, wenn ihr subventionierter Auftrag, ihre tradierten Formen und ihre Verankerung im Sozialverhalten der Menschen immer problematischer wird? Es ist eine Pointe der Industriegeschichte, dass die Politik ausgerechnet im krisengeprägten Ruhrgebiet die hochsubventionierte Kulturindustrie als einen Motor der regionalen Strukturentwicklung und Identitätsbildung entdeckt hat und dabei mit der Erfindung der Ruhrtrinnale auf einen Festivalmacher wie Gerard Mortier setzt, der die Konventionen und Standards des Musiktheaters in den letzten fünfzehn Jahren wie kaum ein anderer provoziert und verändert hat.
Folgt man diesem Zusammenhang zwischen Industriearchitektur und ästhetischem Programm, so zeichnen sich drei Leitlinien der Gründungstriennale ab. Von Köln oder Paris aus betrachtet, scheint es so, als ob im Ruhrgebiet die katholischen Kathedralen fehlen. Denn die Kathedralen des Ruhrgebietes entstanden vergleichsweise spät in Gestalt der riesigen Produktionshallen der Industrie – sie wurden zu den Andachtsräumen der Region, die weniger Gott gewidmet waren, als den Titanen. In diesen Räumen wurden Kräfte entfesselt und die Elemente in einer Weise bezwungen, wie man es nie zuvor kannte und noch im leeren Zustand des bloßen Relikts dieser Epoche beeindrucken diese Bauten als plötzlich vor allem ästhetisch wirkende Architekturikonen. In Bauten wie der Bochumer Jahrhunderthalle oder der Duisburger Kraftzentrale übernahm der Mensch das Regiment über Gewalten, über die im Mythos einst Titanen herrschten und gleichzeitig wurde er zum Beherrschten, wurde taub vom Maschinenlärm, selbst zur Masse, in den Lungen der Bergleute versteinerte der Staub und das Leben wurde regiert vom Takt der Maschinen. Über diesen Hallen verschwand der Himmel in einem doppelten Sinne: einerseits hinter Wolken aus Dreck und Rauch, andererseits wirkte in diesen Hallen der Geist, der den Himmel zu einem profanen Ort werden ließ.
Die Triennale reagierte darauf mit der Erinnerung an die ästhetischen Gegenreformatoren des 20. Jahrhunderts und die Wiederentdeckung ihrer großen Formsetzer, die in diesem Falle auch große spirituelle Reaktionäre waren. Das Spielzeitheft der zweiten Saison setzte dies eindrucksvoll in Szene: Fotos von Architekturdetails sakraler Bauten standen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Architekturfotografie der Industriekathedralen, beide Räume erfuhren im Auge des Betrachters eine Überblendung und dies war gewiss auch eine gedankliche Überblendung. Die katholische Säule des Programms ist kaum zu übersehen – die Wiederbegegnung mit den Engeln wurde zu einem ihrer auffälligsten Leitmotive: Von Claudels Der Seidene Schuh, Messiaens Saint François d’Assise, Flauberts The Temptation of Saint Anthony, Arthur Honnegers Jeanne d’Arc oder Bill Violas Videoinstallation Five Angels for the Millennium im Gasometer Oberhausen – eine sanfte Invasion von Himmelsboten durchzog die riesigen Hallen des Reviers. Dies mag zunächst Ausdruck einer intuitiven Reaktion der Festivalmacher auf diese jungfräulichen Spielstätten gewesen sein, auf ihre sakrale Dimension und beeindruckende Leere, die nach künstlerischen Unternehmungen verlangte, deren Ambitionen ähnliche Ausmaße besitzen. Insofern wohnt der Idee, in diesen gigantischen Nutzbauten große, spirituelle Werke aufzuführen, viel Logik und Schönheit inne. Und zugleich auch ein revolutionäres Moment, denn es waren gerade diese Anachronisten des 20. Jahrhunderts, deren Vertrauen in eine humane Positivität des Glaubens zu großen, verstörenden Werkformen und unerhörten Sprachfindungen in der Kunst führten. Diese Wiederkehr der Engel markiert also keine Rückkehr ins Gestrige, sondern einen Anschluss an die avantgardistischen Leistungen der Musik- und Kunstgeschichte, die sich in diesem Falle mit spirituellen Revolutionären wie Oliver Messiaen oder Paul Claudel verbindet. Gibt es heute einen radikaleren Einspruch gegen unsere von Pragmatik, Konsum, Ironie, Konkurrenz und Technikgläubigkeit geprägten Verhältnisse als die Versuche einer sinnlichen Erinnerung an jenes Andere, das sich nicht kaufen und erarbeiten lässt und das dem Menschen gerade aus diesem Grunde ein Beistand ist, wenn es darum geht, Schmerzen zu ertragen, die Hoffnung zu bewahren und human zu handeln?
Die Hallen des Ruhrgebietes sind zugleich auch Monumente einer Moderne, in der Rationalität und Effizienz zentrale Werte waren, die anstelle der Religion neue Ideologien prägten. Der Arbeits- und Klassenkampf war in diesen Hallen tägliche Realität und insofern erinnern sie sowohl an den Aufstand der Gesellschaft gegen den Staat – davon zeugt die Geschichte der Arbeiterbewegung, ihres kollektiven Kampfs um gerechte Sozialleistungen, Arbeitszeit und sichere Arbeitsplätze. Aber sie erinnern auch an den Kampf des Einzelnen gegen die Gesellschaft – das Pantoffelgrün, die Taubenhäuser, Lauben, Kneipen und Vereine prägen das Ruhrgebiet und das Gemüt der Menschen über das Ende der industriellen Ära hinaus.
Die Gründungstriennale reagierte auf diese Geschichte der Kämpfe mit ihrer zweiten Hauptlinie, die sich als ein geschichtsreflektierendes Programm beschreiben lässt, in dem diese Kämpfe der Gesellschaft gegen den Staat und des Einzelnen gegen die Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Produktionen wie Sentimenti, eine Dramatisierung von Ralf Rothmanns Ruhrgebietsroman Milch und Kohle, die Einladung von Pina Bauschs Café Müller, Ariane Mnouchkines Odyssées, in der die Geschichten von Kriegsflüchtlingen erzählt werden, und Peter Brooks Meditation über Gewalt und Intoleranz in seinem Theaterabend Tierno Bokar zählen zu diesem Strang, aber auch das Literaturprogramm unter dem Titel «Die Wiedererrichtung des Himmels».
Ausgangspunkt für die literarische Reihe der Ruhrtriennale war die Frage, ob es eine deutschsprachige Literatur nach oder neben derjenigen der 68er Generation gibt, in der Passionen und Erfahrungen zum Ausdruck kommen, die Geschichte reflektieren und das Bild einer zeitgenössischen condition humaine entwickeln, obwohl sie auf die Rückentdeckung einer kollektiven Bewegung und ideologischen Einsicht verzichtet. Die eingeladenen Autoren sind im wesentlichen Epiker ihrer eigenen Lebenszeit und begegnen Gesprächspartnern, die ihrerseits als Maler, Politiker, Philosophen oder Filmemacher nach Wegen suchen, das Leben und den Zustand unserer Gesellschaft zu transzendieren. Diesen geschichtsreflexiven Strang des ersten Triennale-Programms könnte man rückblickend mit dem Dreiklang von «Geschichte – Alltag – Aufbruch» überschreiben. Und damit wäre meiner Ansicht nach beinahe auch schon die dritte Leitline des künstlerischen Programms im Zusammenhang mit den Veranstaltungsorten beschrieben: Die hochkulturelle Umarmung des Populären.
Der Blick auf die Relikte der Industriekultur ist heute von einem Perspektivwandel bestimmt: Das Hauptaugenmerk verlagert sich von der ursprünglich technologisch bestimmten Funktionalisierung der modernen Bauten auf eine Untersuchung der heterogenen, sozialen, politischen und sonstigen Bedingungen und Kontexte, unter denen diese Moderne funktioniert hat. Am komplexesten wird dieser soziale Kontext der Moderne wahrscheinlich in der Konzertreihe «Century of Song» reflektiert. Der Song, so Thomas Wördehoff, Chefdramaturg der Ruhrtriennale und Erfinder des Projekts, ist im Bereich der Musik die eigentliche Hervorbringung des 20. Jahrhunderts. Während das 19. Jahrhundert im Zeichen von Oper und Sinfonie stand, schuf der Song neue musikalische Formen wie Blues, Jazz, Swing, Rock’n Roll oder Pop. In diesen neuen Formen amalgamierten sich verschiedenste Einflüsse und Traditionen zu neuen Stilformen und zeitlosen Werken. Songs sind dabei zugleich auch immer Beschwörungen individueller Erinnerungen, verbinden sich mit Gemeinschaften, reflektieren den Alltag und formulieren Sehnsüchte. Die Reihe Century of Song bildete in ihrem Verlauf daher «Songfamilien» – von den Alpenländern bis nach Wien und in den mittleren Westen der USA –, und ermunterte prominente Songwriter wie Bill Frisell oder Suzan Vega dazu, ihre persönliche Jahrhundertauswahl vorzustellen und in ihren eigenen Versionen zu interpretieren. So waren diese Konzerte einerseits Wiedergeburten bekannter und unbekannter Titel, zugleich beschrieben sie aber auch ein Verhältnis zur Gegenwart, in der diese Erinnerungen aufkommen. Die Ruhrtriennale produzierte diese Expeditionen in das populäre und kollektive Gedächtnis von Menschen mit der gleichen Sorgfalt und dem gleichen Anspruchsdenken wie ihre klassischen Musikprojekte.
Eben dieser Aufgeschlossenheit für Kunstwerke und Künstler jenseits hergebrachter Hierarchien und Konventionen verdankt sich ein Großteil ihrer künstlerischen Erfolge: Der Punkmusiker Schorsch Kamerun schuf mit seiner Inszenierung von Brecht/Eislers Hollywood Elegien nicht nur ein glamouröses Lehrstück über das moderne Amerika, er schlug auch für die Musik Hans Eislers eine überraschende Brücke in das Lebensgefühl unserer Tage. Alain Platel hat für seinen Mozartabend Wolf mit einem Ensemble aus Tänzern, Akrobaten, gehörlosen Laiendarstellern und Musikern des Klangforums Wien gearbeitet. Matthias Hartmann ließ in seiner Inszenierung Deutschland deine Lieder einen Chor klassischer Sänger deutsches Liedgut zwischen Brahms und Rio Reiser in neuen Arrangements vortragen und unternahm, zwischen Unterhaltung und Ernst, eine bildertrunkene Reise durch die deutsche Mentalitätsgeschichte der letzten fünfzig Jahre. Diese wechselseitige Umarmung von Populärem und Hochkultur, der auch der Gedanke entsprang, Ralf Rothmanns Ruhrgebietsepos mit der Musik von Giuseppe Verdi zu koppeln, zeugt vom enormen Instinkt der Festivalmacher für Vitalität, von ihrer komplexen Auffassung ästhetischer und sozialer Zusammenhänge, ihrer Neugier auf die Ressourcen des Humanen und vor allem von Geschmack und Mut zum Risiko.
Der Besonderheit dieses Festivals nähert man sich wahrscheinlich am besten, wenn man sich vorstellt, was Gerard Mortier und seine Mitarbeiter in diesen drei Jahren nicht getan haben: Sie haben nicht versucht, ein neues Hohelied auf den alten Klassenkampf an der roten Ruhr zu singen, sie haben auch kein Musical über das Leben der Bergleute in Auftrag gegeben oder eine Revue über den hier so beliebten Fußball. Sie haben vielmehr in ihrem ersten Spielzeitheft die Möbel des Gelsenkirchener Barocks von einem Starfotografen abbilden lassen als handele es sich um kostbare Kunstwerke und sind dafür gescholten worden, denn vor Ort glauben nur Wenige an die ernstzunehmende Schönheit des Vertrauten. Gerard Mortier holte Bert Neumann, der wie Andy Warhol dort Schönheit entdeckt, wo andere nur Triviales sehen, von der Berliner Volksbühne ins Revier und fürchtete sich nicht, bei dem russischen Installationskünstler Ilya Kabakov ein Bühnenbild für Oliver Messiaens Fünf-Stunden-Oper in einem Saal mit 1200 Plätzen in Auftrag zu geben.
(…)
Der abgedruckte Text ist eine Überarbeitung des Essays «Die Erfindung der Ruhrtriennale» aus dem Abschlussbuch der ersten Triennale von Gerard Mortier