«Reise durch Israel»
Acht Briefe an Friedrich Schiller
von Thomas Oberender
1999 luden mich die «Schillertage» in Mannheim dazu ein, einen Vortrag zu halten. Aufgrund der zuvor bereits für diese Zeit verabredeten Reise nach Israel wollte ich absagen, was aber zu großem Verdruß der Veranstalter führte. Also schlug ich vor, von meiner Reise dem Festival täglich «Briefe an Schiller» zu schicken. Die Idee spielt mit dem Format von Schillers «Briefen zur ästhetischen Erziehung», die ich damals intensiv gelesen habe, und Strukturähnlichkeiten wie der, dass die Staatsgründung Israels und die Idee des «neuen Hebräers» überraschend nah an Schillers Idee der ästhetischen Erziehung ist, die ja ihrerseits auf einen »neuen Menschen» zielt, wie er durch einen von Schiller neu begriffenen und anders funktionierenden Staat hervorgebracht werden soll. Daher nahm ich Schillers «Briefe zur ästhetischen Erziehung» mit auf die zehntägige Reise (organisiert von der Bundeszentrale für politische Bildung) und schrieb, damals noch ohne Laptop und nur mit einer Diskette ausgestattet, in den verschiedensten Businesslounges und Büros der besuchten Hotels Nacht für Nacht insgesamt acht Briefe an Schiller. Ihnen voran stellte ich kurze Vignetten mit Beobachtungen, die den Briefen wie Wortbilder eine spezielle Impression hinzufügen. Dies alles schickte ich per Fax nach Mannheim und hielt so einerseits mein Versprechen, andererseits entstand ein hybrider Text, der heute, Jahre nach dem Bau der Mauer in Israel, weiteren Siedlungen, Vergeltungsangriffen in Gaza und palästinensischen Messerattacken nach der Ruhe vor dem Sturm klingt, obwohl ich damals keine Ruhe empfand.
Die deutsche Reisegruppe ging dreizehn Uhr zur Kranzniederlegung. Vor der Gedenkhalle, im Schatten einer Mauer, rauchten wir und tranken Wasser. Dann war die Halle frei. Am Eingang reichte uns ein Wärter schwarze Kappen. Im Gedenkraum war es dämmrig und kühl. Von der ewigen Flamme stieg Rauch auf und zog durch einen hellen Spalt nach draußen. Unser Reiseführer und seine Begleiterin gingen mit hastigen Schritten nach vorn. Ihr Strauß war sehr groß. Die Reiseleiterin hatte am Tag zuvor Geld dafür gesammelt. Als der Mann ihn niederlegte, rutschte ihm die Kappe vom Kopf. Hastig hob er sie auf. Die Frau ordnete die Schleife und er stand daneben. Als sie sich erhob, machte er kehrt, um zu gehen. Sie blieb stehen. Er hatte die Schweigeminute vergessen, nichts wie weg, dann bemerkte er sein Versehen, drehte sich um und einen Augenblick verharrten beide vor der steinernen Bank, die Köpfe gesenkt, die Hände vorm Schoß. Schließlich liefen sie davon. Kaum zurück, sprach der Wärter sie an. Er wies mit dem ausgestreckten Arm noch einmal nach vorn. Die Folie um die Blumen muß ab. Sie gingen zurück zu unseren Blumen. Er schaute beim Laufen zu Boden, machte hastige Schritte, die Hand an der Kappe. Die Folie ging nicht ab. Erst versuchte er sie zu lösen, dann sie. Die Reisegruppe stand hinter der Absperrung und schaute ihnen zu. Wie lange dauert das noch.
Lieber Friedrich,
ich bin Jude. Oh nein, wie kann ich das sagen. Natürlich bin ich kein Jude, aber mein Geist sendet diesen Satz und fragt sich, warum. Meine Mutter erschrak, als sie das las: Aus Angst um mich. Weil Juden in unserer Welt, in Deutschland, heute, immer noch die sind, denen Gefahr droht. Und in gewisser Weise erschrak ich selbst, als ich das schrieb: Ich bin ein Jude. Was ist ein Jude? Fast zweihundert Jahre nach Deinem Tod bin ich auf einer Studienreise durch Israel. Wäre die Geschichte dieses Landes bereits zu Deiner Zeit geschrieben gewesen, sie hätte Dir, wie einst die Chroniken Italiens, Schottlands oder Rußlands, Stoff für ein großes Drama geboten. Unsere Frontgeschichten der Literatur, unsere nur mehr in Texten erfahrenen Kriege, erscheinen hier als existentielle Lebensfragen in einer Unmittelbarkeit, die erschreckt. Ich habe im Gepäck Deine Briefe und schaue von hier zurück auf Dein Europa, Deine dramatische Erfindung. Und zugleich ist dies junge Land eine Erfindung des alten Europa. Nie empfindet man das Eigene eigentlicher als in der Fremde. Die andere Sprache der Gedanken, die unabstellbar zunächst weiterhin auf deutsch formulieren, was sie dann erst übersetzen, drängt das andere als das eigene mit einer Macht ins Bewusstsein, die einer Entrückung gleicht. Was ist ein Jude? Mit Augustinus könnte ich antworten - solange ich nicht in Israel war, wußte ich, was ein Jude ist. Seit ich im Land der Juden bin, weiß ich es nicht mehr. Was ist ein Jude?
Amos Oz sagt, Jude sein ist ein state of mind, eine Bewußtseinslage. Die jüdische Identität ist für den Romancier eine Wortkette aus Begriffen wie Ironie, Skepsis, Anarchie oder Widerspruchsgeist. Amos Oz ersetzt die Frage «Who is a Jew?» durch die Frage «What is a Jew?». Die erste Frage definiert die Antwort im Sinne eines inneren Zustands, die zweite im Sinne äußeren Verhaltens. Der Staat fragt, wer ein Jude ist und die Antwort ist für ihn eine Sache der Geburt oder des Glaubens. Jedes Kind einer jüdischen Mutter hat demzufolge das Recht, israelischer Staatsbürger zu werden. Desgleichen jeder gläubige Jude. Es gibt aber auch eine jüdische Identität, die weniger identitär ist, und sich eher aus dem ergibt, was jemand tut und was nicht und also durchlässiger ist. Das Wort Religion, so Amos Oz, fehlt im Hebräischen. Der Dichter sagt: Wer sich Jude nennt, ist Jude.
Ich bin ein Jude. Nach 1945 wäre dieser Satz ein Sakrileg gewesen, vor 1945 in Deutschland ein Todesurteil, heute wirkt er noch immer unwahr, weil diese Wahl man nie nur alleine trifft. Was mir in Israel an Israel unmittelbar nah ist, ist die mir vertraute Not, man selbst zu sein. Immer ist es ein Stück Arbeit, eine Behauptung, ein reflektiertes Sein, weil so viel hineinspielt in diese Lage, so viel Sonne, Wüste, Meer, Kriege, Bücher, Tränen, Hoffnung. In den Begegnungen mit Politiker*innen, Dramatikern und Soziolog*innen aus Israel war diese Schwierigkeit, ausgesprochen oder unausgesprochen, das beherrschende Thema und auf die Frage, was und nicht wer man ist, gab es keine absoluten, sondern nur individuelle Antworten. Dieses Land ist ein Projekt, ein open ended game, wie Amos Oz sagt, es entwirft sich ständig neu. Seine gegenwärtige Gestalt ist das Produkt einer hoffnungsfrohen Elite, die ihre Identität seit der Gründung Israels im liberalem Staatswesen findet. Für sie stehen die Gesetze des Staates über denen der Thora - im Staat der Juden ist das eine Setzung. Die aschkenasische Elite, die Politik, Wirtschaft, Akademien und Medien noch immer dominiert, ist eine gesellschaftliche Minderheit, denn Orthodoxe, Ultraorthodoxe, die Orientalen, Russen, Araber und Nationalisten, also die Mehrheit der hier lebenden Juden, diskutiert ihre identitäre Identität nicht, sondern verteidigen sie gegen diese Minderheit. Deren Not, sich ihre Identität erschaffen zu müssen und immer aufs Neue zu begründen, ist hier - im Nahen Osten - eine Not des liberalen Westens, der sich seinerseits von seinen identitären Identitäten entfernt hat. Und beide Pole der jüdischen Selbstbestimmung wirken hinüber in das, was zur Identität vieler Palestinenser*innen wurde, die genauso zerrissen ist und unter Druck.
Der Pool in der siebenten Etage des Jerusalemer Hotels war bis sieben geöffnet. Als er aus dem Aufzug kam, sah er den Bademeister zur Uhr schauen, fünf vor sieben, die Fliesen rund um das Becken waren in der Abendsonne bereits getrocknet. Er versuchte wie jeden Tag zwei Bahnen zu tauchen, von Rand zu Rand und zurück. Das Wasser war noch warm. Beim Tauchen sah er am Grund die Schatten der Wellen. Silbern wanderten die zitternden Schlieren über das Blau der Fliesen. Zwei Bahnen waren das Äußerste, dann tauchte er auf. Der Bademeister war gegangen. Auf dem Rücken schwimmend, langsam und mit Blick in die Sonne, hatte er nun Zeit. Bilder stiegen auf. Der Felsendom und die Ornamente im Inneren der Kuppel. Er war überrascht, wie sehr es in dieser Moschee nach Schweiß riecht. Vom Pool aus konnte er die Stadt überblicken. Die goldene Domkuppel glänzte matt in der Sonne. Als er aus der Moschee kam, lag ein Stein in seinem Schuh. Ein Scherz des Reiseführers oder eine jüdische Sitte. Er tauchte noch einmal unter und schwamm ein paar Bahnen. Ein verrückter Norweger hatte vor Jahren in die Kuppel des Felsendoms geschossen. Hier oben, im Pool auf dem Dach, sah er es Abend werden. Gegenüber flammte weinrot die Abendsonne in den Fensterscheiben der Häuser am Berg auf. Plötzlich leuchteten die Straßenlaternen. Ihm war hier oben, schwimmend mit Blick auf die Stadt, als ob ihm auf seiner Reise nichts Wirklicheres wiederfahren könnte, als die Unwirklichkeit dieses Moments.
Lieber Friedrich,
doch welche Not? In einem Essay von Amos Oz heißt es: Die Pyramiden der Juden sind ihre Bücher. Die Juden der Diaspora wohnten in der Schrift, sie wohnten, in Ermangelung einer Heimat, in der Idee ihres Volkes und dessen Geschichte. Die Juden sind Oz zufolge noch heute eher ein Volk als eine Nation, eine «erweiterte Familie». Ich mag diesen Gedanken. Ich wäre auch lieber ein Volk als eine Nation. Und ganz kurz, für ein halbes Jahr, waren wir Deutschen das 1989 ja auch. Keine Nation, sondern ein Land, das sich, zumindest in seiner östlichen Hälfte, für ein paar Monate jede Selbstverständlichkeit verbat und neu erfunden und auf den Straßen verhandelt hat, wie es sein will. Da war es auch noch nicht völkisch, dieses Volk. Was die Juden noch immer prägt, sagt Amos Oz, ist die Liebe zur Idee und deren leidenschaftlicher Verhandlung. Das ist mir vertraut. Deutschland war über Jahrhunderte erfüllt und geprägt von jüdischer Tradition und deutscher Romantik und Idealismus. Das Motto unserer nationalen Wiedervereinigung war ein in Bonn ersonnene Parole: «Wir sind ein Volk», das große Versprechen des Wahlkämpfers Kohl und es dauerte Jahrzehnte, bis wir anfingen, es zu werden. Natürlich mußte ich an Dich denken, Friedrich, als Amos Oz von der Ideensucht der Israelis sprach. Auch Du hast dich mit einer Idee aus der Krise gerettet, indem Du den sentimentalischen, also reflektierenden, ideenbezogenen Dichtertypus erfandest und damit dich dem «naiven» Genie Goethes entgegenstelltest. Kein deutscher Dichter hat so aus dem Entwurf heraus geschaffen wie Du und diese Kraft der starken Vorsätze hat dich deinen todkranken Körper um Jahre überleben lassen.
Der Begründer des Zionismus Theodor Herzl glaubte, die Sprache im künftigen Staat der Juden würde Deutsch sein. Hebräisch war zu seiner Zeit lediglich noch die Sprache der Rabbiner. In der Diaspora sprachen die Juden die jeweilige Landessprache oder Jiddisch. Wenn die Juden einen Nationalstaat errichten wollten, meinte Herzl, mußte das verstreute Volk durch eine gemeinsame Sprache und Kultur geeint werden. Doch anstatt Deutsch zu sprechen, Deutsch, nach all dem, was in Deutschland passierte, erfand Israel das Neuhebräische: Von 20000 Wörtern zur Zeit der Staatsgründung wuchs das Vokabular auf inzwischen 120000 Worte. Dichter, lieber Friedrich, und das hätte Dir sicher gefallen, erschaffen hier wie zu Shakespeares Zeiten Wörter und diese Wörter sind staatstragend. Denn die Sprache konstituiert in Israel einen state of mind auch in jenem anderen Sinne, im Sinne eines wirklichen Staates. Die Sprache ist hier daher ganz unmittelbar der Gradmesser für den Zustand des Staates: in wieweit ist Hebräisch tatsächlich noch die verbindliche und verbindende Alltagssprache. Hält die nationale Manschette des Hebräischen als Volkssprache? Wenn ja, so wird Amos Oz in Israel vielleicht einst als Klassiker gelten. Du, lieber Friedrich, hast es geschafft. Du hast der Kunst in Deinen Aufsätzen eine eigene Architektur gegeben, Regeln der Stoffwahl, der Gattungen und Formen. Auch das war der Versuch, ein Land zu einen, ihm einen Boden zu bereiten, war eine Suche nach Verbindlichem und Verbindendem.
Auf der Kuppe des Berges verlaufen rund um die Bunker noch immer Gräben. Die Reiseroute führt auch zu Kriegsschauplätzen. Am höchsten Punkt und an vorderster Stelle sind je ein MG aufgebaut. Sie wirken wie Spielzeug. Über Kimme und Korn sieht man die Landschaft: Die Oasen und Dörfer in der syrischen Ebene, einen weißen Jeep auf der Straße, weit unten eine Stadt, sie wirkt noch verlassen. Ich lade durch, drücke ab, es klickt. Von den fünfzehn Männern aus Deutschland hat nicht einer das MG berührt.
Lieber Friedrich,
auch Du hast in Deinen Aufsätzen oftmals über Kunst gesprochen und den Staat gemeint. In Israel las ich Deine Kallias Briefe mit anderen Augen und mir schien, Du hast sie für dieses junge Land geschrieben: «Jeder individuelle Mensch,» heißt es im vierten Brief, «trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist. Dieser reine Mensch, der sich mehr oder weniger deutlich in jedem Subjekt zu erkennen gibt, wird repräsentiert durch den Staat, die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannigfaltigkeit der Subjekte zu vereinen trachtet. Nun lassen sich aber zwei verschiedene Arten denken, wie der Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen, mithin ebenso viele, wie der Staat in den Individuen sich behaupten kann: entweder dadurch, daß der reine Mensch den empirischen unterdrückt, daß der Staat die Individuen aufhebt; oder dadurch, daß das Individuum Staat wird, daß der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt.»
Als der Staat Israel gegründet wurde, berief er sich auf das Bild des «idealischen Menschen» - auf den «neuen Hebräer», den «neuen Juden», das Gegenteil zum alten, zum Diasporajuden, zum «Luftmenschen» und seiner orthodoxen Ortlosigkeit. Gleichzeitig hat der junge Staat Eigenschaften des «empirischen Menschen» unterdrückt, vor allem die Herkunftskultur der Einwanderer und ihre Sprache. Die Armee wurde zur Schule der Nation, Neuhebräisch, Kibbuzim und Pionierlieder haben Generationen von neuen Menschen geprägt. Es gelang dem Staat, die divergierenden Kräfte durch den Entwurf einer neuen Identität zusammenzuführen. Seine Vorgaben bestimmten Alltag und individuelle Existenz bis ins Detail: Der «neue Jude» war wehrhaft und bodenständig, der Soldat und Handarbeiter im Kollektiv des Kibbuz waren seine Leitbilder. Dieser «neue Hebräer» sah sich als «Mensch in der Zeit» mit dem «Menschen in der Idee» versöhnt, in einem Staate, der seinen Bürgern eine Sprache, einen neuen Namen und Sicherheit gab.
Inzwischen verblassen die Gründungsmythen Zionismus und Holocaust zusehends. In den Kibbuzim gibt es nun wie überall Gehälter, Urlaub, Privateigentum. Der kollektive Lebenstraum hat sich individualisiert. Und auch der Umgang mit dem Holocaust wandelt sich. Die erste Generation baute auf, führte Kriege und überlebte ihre Opfergeschichte im Schweigen und der Arbeit. Diesem Schweigen entlockte die zweite Generation zaghaft Erinnerungen und so begann die Normalisierung der eigenen Gegenwart. Plötzlich wurde sichtbar, daß auch der Staat Israel als Kehrseite der eigenen Leistungen Opfer erzeugte – mit DDT entlauste Einwanderer, verachtete Kulturen, verdrängte Leiden. Erst die Enkel brachten die Opfer der Shoa zum Reden. Diese Nachgeborenen fühlen sich als Kinder einer postideologischen Zeit und sie fahren mit der Videokamera nach Europa, um nach jenen Wurzeln zu suchen, die der junge Staat einst kappte. In jenem Moment, da der Staat nun pragmatisch wird und schrittweise seine Mythen preisgibt, setzt die individuelle Suche nach der Herkunft ein, nach einer Heimat, die mehr ist als ein Staat.
Damals war er Offizier und mit seinen jungen Soldaten unterwegs in ihr erstes Gefecht. Die Stimmung, sagt er, war ausgelassen und erregt wie bei einer Klassenfahrt. Als ihr LKW stoppte, sahen sie die Spuren des Kampfes. Auf der Straße zur Front lag das Bein eines Menschen, der Fuß noch im Schuh. Zuerst mußten wir den Berg hoch, sagt unser Führer. Dabei starben die meisten. Dann hier oben. Er steht wie immer ganz vorne im Bus, spricht ins Mikro und sieht auf die Landschaft. Viele der syrischen Panzer, sagt er, sind steckengeblieben. Ihre Soldaten konnten keine Karten lesen. Wir mussten sie nur einsammeln, sie waren Bauern. Theater, Literatur, Musik, sagt unser Führer, machen aus Menschen bessere Soldaten. Nach einiger Zeit fahren wir an den Ruinen eines Dorfes vorüber. Die Wände sind durchschossen, anders als in den Filmen boten die Mauern keinen Schutz, die meisten Löcher sind rund um die Fenster. Ein Minarett steht verwaist zwischen verwilderten Obstbäumen, grasüberwachsenen Wegen und Tanks ohne Wasser. Später, im Kibbuz auf dem Golan, entdeckten wir im Garten die Bunker. Eine alte Frau sagt: Ich möchte mir keine Gedanken über die Zukunft machen. Sonst müßte ich morgen anfangen, anders zu leben. Wir essen bei ihr Kirschen aus eigener Ernte.
Lieber Friedrich,
Jude zu sein, sagt Amos Oz, ist eine Frage der freien Interpretation. Kennedy sagte: «Ich bin ein Berliner». Solche Formeln bestreiten unser Eingeborensein, sie beharren auf Selbsterschaffung und sind das Bekenntnis zu einer Heimat in Sinne eines state of mind. Das ist sympathisch, aber in Israel habe ich das nicht erwartet. Ich glaubte, es würde eine Reise zurück in der Zeit, in ein kulissenhaftes Land, das noch immer einen kalten Krieg führt, ein Land der greisen Gründerväter und ihrer Phrasen, erzwungener Kollektivität und maroder Bauten. Doch Israel ist noch immer ein demokratischer Staat und auch seine Arbeitsdörfer der Kibbuzim beruhten auf einer freiwilligen Gemeinschaft von Menschen ohne Privateigentum. Dass der demokratischste Sozialismus dieser Lebensform hier nicht überlebt hat, bedauert mein Mitreisender, ein Rundfunkredakteur aus Stuttgart, der als junger Mann im Kibbuz einst Datteln geerntet hat. Heute ist er wohlhabend und diktiert via Handy seiner Sekretärin in Deutschland. Wie ehrlich dürfen wir träumen?
Die Reise nach Israel war eine Reise voraus in der Zeit. Das Land durchlebt exemplarisch die Krisen des alten Europa, lernt dabei aber von den USA. Fünfzig Jahre mußte Israel um seine Existenz als Staat kämpfen und kämpft seit nunmehr fünfzig Jahren um eine demokratische Gesellschaft. Der neue Staat unterdrückt heute kaum noch den «empirischen Menschen» und das eigentlich Neue ist nicht mehr der «neue Hebräer», sondern der neue Fundamentalismus. Denn der «Mensch in der Idee», jener Entwurf eines besseren und durch seine Überzeugung veredelten Menschen, hat das Lager gewechselt und ist zum Leitbild jüdischer und islamischer Fundamentalisten geworden. Die staatliche Politik dient daher inzwischen vor allem der Ermöglichung jener grundsätzlichen Vielfalt einander ausschließender und sich zugleich dennoch ertragender Kulturen, und dies ist nur möglich, wenn auch die herrschende Elite ihren Dünkel idealischer Überlegenheit ablegt. An die Stelle des Idealischen tritt ein neuer Pragmatismus, die Suche nach Gelegenheiten.
Seit seiner Staatsgründung erstickt man hier im Sinn. Statt nach Sinn suchen die «Menschen in der Zeit» heute nach ihrer verlorenen Vergangenheit, d.h. nach dem, was der Neuanfang einst «bereinigt» hat: die familiäre Herkunft, kulturelle Wurzeln, Biografien. Vom Sinnangebot kollektiver Mythen wandert das Interesse zum Halt in individuellen Geschichten. Schulkinder befragen mit Mikrofon und Tonband ihre Großeltern, sie suchen Halt in den Geschichten der Geschichte, obgleich sich ihr Leben weit von dem entfernt hat, was sie da hören. Wenn es nicht gelingt, in Israel auch als «Mensch in der Zeit» zu leben, wird das Land künftig nicht mehr demokratisch regiert werden können, denn dann dominiert der «Mensch der Idee» aus dem anderen Lager: dem jüdisch-orthodoxen Fundamentalismus, der kriegstreibenden Ideologen und ihre militanten, arabischen Gegner. Friedrich - verstehst Du, was ich meine? Hier verwirklicht sich Deine Hoffnung, indem sie sich in ihr Gegenteil verkehrt.
Hinter den gelbbraunen Hügeln sehen wir in der Ferne die Hochhäuser der Hotels. Schon in Sichtweite der Hauptstadt fahren wir durch die besetzten Gebiete, draußen vertrocknete Täler, die schwarzen Zelte der Beduinen und hinter uns das Leuchten der Berge im Abendrot. Im Autoradio verkünden die Nachrichten: Nach Unruhen am Tempelberg wurde die Grenze geschlossen. Zwanzig Kilometer vor Jerusalem verlassen wir die Hauptstraße und biegen auf einen holprigen Sandweg ab. Plötzlich säumen unübersehbar die Spuren der Armut den Weg. Autowracks, rostige Kühlschränke und Plastikmüll lagern am Fuß der Hänge. Vor einer Palästinenserstadt spielen Kinder. Die Häuser sind grau, Rohbau oder Ruine, wer kann das wissen. Vor einer Werkstattgarage sitzen Männer beim Tee. Ihre Blicke folgen dem weißblauen Bus und seiner Fahne aus Staub. Von einem Hügel herab lassen Kinder einen Reifen in Tal rollen und versuchen ihn lachend einzuholen. Ein kleiner Drachen flattert im Wind. Das rote Quadrat wippt hin und her. Plötzlich knallt ein Stein an die Scheibe. Kein Sprung, nichts passiert. Der den Stein geworfen hat, ist nicht zu erkennen. Zwei Jungen reparieren ihr Mofa. Wir schauen sie an und fahren vorüber. Da rennt der eine uns nach, ruft etwas, wozu läuft er hinter uns her, was schreit er, dann bleibt er zurück. Erst kurz vor Jerusalem ist die Straße geteert. Der Stein war aus Lehm.
Lieber Friedrich,
am besten wäre natürlich, man könnte Menschen veredeln wie Metall - einschmelzen, reinigen, legieren. Züchtungsversuche gab es ja. Du kennst die «Pflanzschulen» besser als ich, auch in Deutschland, wie hier übrigens noch immer, war die Armee einst die «Schule der Nation». Aber veredeln, mein Gott, was heißt das?
Tel Aviv ist ein Ort geglückter Normalität: Technomusik, Palmen, Bars, koschere McDonalds und Basare. Welche Stadt mündet schon in solch einen Strand: kleine Buchten, in denen meterhohe Wellen anlanden, jadegrün. Nachmittags dröhnt aus den Bars die Musik von Madonna. Vom Meer aus sieht man den Burgberg von Jaffa und Hotelhochburgen des Tourismus. Schade, Friedrich, daß Du nie hier warst.
Paulus und Napoleon waren in Jaffa, und Skinheads aus Mecklenburg-Vorpommern, die man aus erzieherischen Gründen hierher eingeladen hatte. Die Erziehung des Menschen – das müßte Dir gefallen. Erziehung ist hier unvermeidlich eine Erziehung durch Sinnlichkeit, durch Sonne und Palmen, biblische Orte und touristische Vergnügungen. Ich stelle sie mir vor, die Skinheads aus Mecklenburg-Vorpommern. Tagsüber lief das Programm der Versöhnung - Begegnungen mit Überlebenden, Besuche von Gedenkstätten, Gespräche mit Gleichaltrigen. Und abends, beim Bier in der jüdischen Altstadt, wundern sie sich, so unnatürlich ist die Natürlichkeit, die sie bei allem empfinden. Das Essen ist gut, die Landschaft schön und die Leute nett. Was hat ihr Faschismus mit all dem zu tun?
Wie wird es den Skinheads in Yad Vashem ergangen sein? In der Gedenkstätte für die ermordeten Kinder. Sie liegt unter der Erde, in der Kuppe eines sanft ansteigenden Hügels. Man gelangt ihr durch eine Gasse im Fels. Ein querliegender Stein bildet das Eingangstor, darauf steht in hebräisch: «Die menschliche Seele ist die Kerze Gottes».
Der erste Raum ist dunkel. Halogenstrahler beleuchten fünf frei im Raum hängende Porträts von Mädchen und Jungen. Die Gesichter der fünf Kinder sind unauffällig, kaum jemand bleibt stehen. An den Bildern vorbei führt der Weg nach innen. Der zweite Raum ist ein hohes, lichtloses, verspiegeltes Oktaeder von vielleicht zwanzig Metern Durchmesser, in dessen Zentrum ein gläserner Kubus steht. Auf unterschiedlichen Höhen brennen darin fünf Kerzen. Um den Kubus herum verläuft einige Meter über dem Boden ein schmaler Rundgang, eingefaßt von Geländern wie ein Steg. Hier stehen die Besucher frei und fast schwebend im Raum, zwischen dem gläsernen Kubus mit den Kerzen und dem unendlichen Außen der sich spiegelnden Spiegel. Die fünf Flammen reflektieren ihr Bild nach allen Seiten - die Lichter der Lichter spiegeln sich endlos, und so steht man unversehens mitten im All, umgeben von Milchstraßen aus kleinen und kleinsten Sternen, die doch nur von diesen fünf Kerzen gezeugt wurden. Eine Stimme verliest Name und Alter der ermordeten Kinder. Ich habe die Stimme nicht gleich wahrgenommen. Zuallererst wirkt der Raum, das Aufgehen in ihm und seiner Konstruktion einer Unendlichkeit, die Verlorenheit und Aufgehobensein vereint.
Ich sah Schulkinder durch diesen Raum laufen, sie waren fröhlich. Ich fühlte mich leer. Dieser Raum bezeugt etwas, das sich selbst zeugt wie dieser Sternenkosmos der fünf Flammen. Das Nichts, das dieser Raum in eine Erfahrung der Unendlichkeit, der Dauer und Gleichgültigkeit uns einzelnen gegenüber übersetzt, erscheint plötzlich als erhabener, liebesbezeugender Trost. Ich habe nicht an die anderthalb Millionen Kinder gedacht, für die diese Gedenkstätte errichtet wurde, sondern an mein eigenes. All das, lieber Friedrich, erinnert mich an Deine Briefe und Deine Hoffnung auf das Theater als moralische Anstalt: Die Vorstellungen eines solchen Theaters, genauso wie dieses Mahnmal, wirken mächtiger als ”toter Buchstab und kalte Erzählung», weil wir ohne die Erfahrungen von etwas Stärkerem, als dem Vernünftigen, auch nicht vernünftig werden können. Obwohl ich die Hoffnung zunächst nur abstrus fand, daß ein Besuch dieses Landes Skinheads verwandelt, danke ich jenen, die sie auf die Reise geschickt haben. Ist dies nun eine Vergeudung von Steuermitteln oder letztlich nicht ihr überzeugendster Einsatz – ein selten gewordener Ausdruck des Glaubens an eine unsichtbar und pragmatisch gewordene Idee, die auch unsere Gesellschaft noch bestimmt? Du sagst, die ”Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volkes das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet.» Jeder Fernseher, Friedrich, hat heute unzählig viele Kanäle, das Volk wählt sich seinen «denkenden, besseren Teil» inzwischen selbst. Er erreicht uns durch die «milderen Strahlen» der öffentlichen Medien. Doch nicht von oben herab, wie Du hofftest. Sondern ätherisch, als flüchtige Verabredung, die unberechenbar ihren Weg durch die Netze nimmt. Kann und – nach allen Erfahrungen – darf die Schaubühne einer Weisheit Ausdruck verleihen, die Staat werden will?
Sie lag mittags im Park auf der Bank und las Zeitung. Ein junger Mann in schwarzem Anzug und dunklem Hut trat neben ihr aus den Sträuchern hervor. Er ist jünger als sie, sein Hemd ist weiß, die Schläfenlocken lang. Sie liest in ihrer Zeitung, da beugt sich der Mann beugt über sie, umfaßt ihre Brüste und spricht auf sie ein. Was macht er, sie schreit, er lächelt, sie schlägt auf ihn ein. Er läuft fort; sie springt auf. Fern ab bleibt er stehen und schaut zurück. Sie kommt mit dem Fuß nicht in ihre Schuhe. Sie rafft die Zeitung zusammen und knickt dauernd um. Gestern, sagt sie beim Essen ihrem Nachbarn, hat im jüdischen Viertel ein Mann ihrer Freundin zwischen die Beine gegriffen. Im Vorübergehen, ein Passant, der sie nicht einmal ansah, er ging weiter, den Blick auf den Boden, so wie er kam.
Lieber Friedrich,
in der Wüste am Toten Meer auf dem Berg Masada liegt die Festung von König Herodes. In vierhundert Metern Höhe und geschickt in den Felsen eingebaut, wirkt sie noch heute unbezwingbar. Nach Herodes’ Tod wurde sie, mit ihren Bädern, Saunen, Terrassen und Gärten, mit ihren Zisternen und Speichern, zur letzten Zuflucht der Zeloten. Die Römer hatten deren Aufstand niedergeschlagen und belagerten die Festung. Sie schütteten an Westseite des Berges eine gewaltige Rampe auf und nach zwei Jahren reichte dieser künstliche Berg bis an die untersten Wälle. Nachdem die Römer die erste Mauer erstürmt hatten, setzten sie die Verschanzung in Brand. In dieser aussichtslosen Lage entschlossen sich die Zeloten zum Selbstmord. Durch Los wurden zehn Männer bestimmt, die in der Nacht vor der Eroberung alle Bewohner, und zuletzt auch sich selbst, töten sollten. Die siegreichen Römer fanden am nächsten Tag in der Festung 960 Leichen. Lediglich zwei Frauen und fünf Kinder überlebten den Selbstmord, in einem Wasserrohr versteckt.
Masada wurde für das neu gegründete Israel zum Symbol für den Widerstandswillen des jüdischen Volkes. Generationen junger Israelis lasen am Ende ihrer Klassenfahrt auf dem Berg die Flammeninschrift: «Nie wieder wird Masada fallen.” Und doch hat sich die Bedeutung dieses Berges für viele Israelis gewandelt. Inzwischen wurde er zum Inbild eines fragwürdigen Fanatismus, zum Wallfahrtsort für Nationalisten und orthodoxe Extremisten. Und obwohl der Inhalt der Geschichte noch immer ergreift, verfällt ihre Beweiskraft durch die Aufweichung des Ideals. Ich erzähle es Dir, Friedrich, weil ich mich frage, wie Du diesen Stoff wohl behandelt hättest. Die Tragödie von Masada enthält alle Momente Deiner Dramaturgie: Schicksal und Zufall, Bestimmung und Zweifel, eine absolute Idee und deren Preis für die Menschen. Sie enthält, was Deinen Stücken ihre Jugend verleiht - das Unbedingte und das Rührende als eine Dynamik ohne Entkommen. Friedrich, wie hättest du die Geschichte von Masada erzählt?
«Wir sind aufgewachsen», sagt Etgar Keret, ein junger Schriftsteller aus Tel Aviv, «als ein erwähltes Volk, essen Hamburger und sehen amerikanische Filme. Warum also sollen wir das erwählte Volk sein?» Er vergleicht Israel mit einem Donut: «Wir sitzen auf den Rängen eines Amphitheaters und wenn wir in die Mitte schauen, ist da kein Zentrum, sondern ein Loch.» Massada steht nicht mehr für das Ganze oder Bessere und für Menschen wie Etgar Keret traten an die Stelle der Zeloten die Frauen mit ihren Kindern. Sie haben den Schickssalstunnel deiner Dramen verlassen, Friedrich, waren trickreich und wenn sie in einem Loch überlebt haben, so war es jenes «Loch», von dem der junge Schriftsteller sprach. Könntest du ein Drama schreiben über solch ein «Loch»?
Die Reisegruppe steht in der Abfertigungshalle aufgereiht in einem Korridor zwischen zwei Absperrungen. Am vorderen Ende der Schlange rufen Beamte je zwei Reisende mit ihrem Gepäck an einen Tisch. Niemand weiß, was sie fragen. Die einzelnen Antworten werden mit denen der anderen Reisenden verglichen. Einige müssen ihren Koffer öffnen. Die vor der Kontrolle Wartenden lesen, alle viertel Stunden schiebe ich meine Tasche einen Meter voran. Aus einer Tür an der Stirnseite der Halle kommt plötzlich lautlos ein Schwarm Sicherheitsbeamter. Sie tragen hellblaue Hemden und bewegen sich schnell auf uns zu. «Lassen Sie Taschen und Koffer stehen, nichts mitnehmen, verlassen Sie die Halle, keine Panik, gehen Sie.» Niemand sagt Bombenalarm. Auf einmal, wie aus dem Nirgendwo, ist überall Polizei. Wir haben den Ausgang noch nicht erreicht, da stockt der Zug, die Ersten kehren zurück, der Pulk zerstreut sich, die Beamten lächeln. Entwarnung.
Lieber Friedrich,
ich sitze ich im fensterlosen Vorzimmer des Human Resources Departments des Dan Panorama Hotels in Jerusalem und habe gerade Deinen Aufsatz Über das Erhabene gelesen. «‘Kein Mensch muß müssen’, sagt der Jude Nathan zum Derwisch, der Mensch ist das Wesen, welches will. Eben deshalb ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf.» Deine Gedanken über Chaos und Ordnung, über die Grenzen des Schönen, über Macht und Kultur euphorisieren noch immer. Doch beim Lesen hörte ich Musik von Duke Ellington und merkte, daß Schiller und Jazz zwei Gefühlslagen sind, die nicht zueinander passen.
Das anscheinend regellose Variieren von Melodie, Thema und Tempo im Jazz, dieser merkwürdige Wechsel zwischen chaotisch anmutender Improvisation und mathematischer Präzision, die gute Laune der Musik und ihr subtiler Spaß – all das wirkt wie ein stiller Vorwurf gegen die konzentrierte Lektüre deiner Texte. Jazz entfaltet eine dynamische Oberfläche, während du deinen Leser in die Höhe ziehst oder an Abgründe führst. Schiller lesen und Beethoven hören, das hingegen geht. Aber Beethoven war ja auch Dein Leser.
Ich glaube, daß zu deinen Lebzeiten vor allem die Inhalte deiner Dramen provozierten. Heute provozierst du durch die Form. Du bezwingst wie kein zweiter. Du hast den Deutschen (und den Drehbuchschulen Amerikas) das well made play geschenkt - emotional kalkulierte Wirkungsmaschinen. Du hast das Disparate und Widerstreitende in den packenden Lebenskapseln deiner Dramen zum Ganzen und zur Einheit geschlossen, anders als etwa Lenz oder Klinger; und deine Texte sind Schicksalspyramiden, die viele Leben kosten, damit die Idee triumphiert.
Ganz anders der Jazz, jene Musik, die zu deinen Texten nicht paßt. Sie fasziniert noch immer als Prinzip: Die Form ist offen, läßt Raum für Improvisationen und die Erfindung der Musiker, die ihrerseits wieder zu Bestandteilen der Komposition werden. Eine Musik zwischen Gosse und Konzertsaal, geschrieben für Virtuosen, einige Verabredungen geben ihnen Halt, der Rest steht dem Augenblick offen. Diese Musik hat wenig Schicksal, kaum ein Gestell, doch ist sie hellwach und auf flüchtige Weise beseelt. Jazz ist die Klassik der Schwarzen und als Struktur ein weitaus moderneres Konzept von Klassizität. Der Form soviel Auslauf zu lassen, ist nichts, was sehr zu dir paßt. Viel eher erinnert diese Musik die Stücke von Botho Strauß. Die Tunnel deiner Schicksalsdramen hat er zu Tableaus verbreitert, dem Zufall Raum gegeben und was immer in deinen Stücken kraftvoll geschlossen war, wird hier geöffnet: die Handlung zerfällt in Episoden, die Figuren in Zustände, die Sprache in Milieus und Zitate, das Ziel ergießt sich in Augenblicke. Hier reicht auf dem dünnem Boden des scheinbaren Alltags eine zufällige Erschütterung, und wir stecken bis zum Hals in den Konstellationen der Vorzeit, dann trifft die Ehefrau der Pfeil des Odysseus. Gebaut sind diese Stücke nicht weniger streng, nur gehorchen sie einem anderen Prinzip: Das Ganze wird sich in ihnen nie mehr als Einheit fühlen.
Vielleicht heißen sie deshalb nicht «Dramen». Doch auch Stücke von Botho Strauß oder Miles Davis werden nur verständlich durch ihre Idee. Diese Idee folgt allerdings weder einem Kanon, noch bildet sie eine Schule oder ein System. Sie beruht auf etwas, das nicht festlegbar ist, Spiel braucht, Kairos, Bewegung. Und auch du hast darauf beharrt, daß das Chaos und Unvernünftige den Kern des Werkes bilden, «Stirne gegen Stirn» lautete deine Formel für diese Einberaumung des Erhabenen in die schöne Gestalt deiner Dramen. Aber du hast Werke geschaffen, deren Architektur man ihnen abnehmen kann wie ein Gewand, das in sich selber steht - das ist wohl der Unterschied zum Jazz und den Stücken von Strauß. Und das ist wohl auch der Unterschied zur Situation in diesem Land, von dem ich immer weniger verstehe, je länger ich hier bin.
Ich werde am Tisch der Ausreisebehörde von einer jungen Frau verhört. Sie ist zwanzig Jahre alt, blond, trägt eine blaue Uniform und fragt, ob ich in Israel Geschenke bekommen hätte. Ob ich für jemanden ein Paket mit nach Deutschland nehmen sollte. Ob ich im Flughafen angesprochen wurde. Sie sagt, sie fragt mich zu meiner eigenen Sicherheit. Sie wünscht mir eine gute Reise und ich kann meine Tasche wieder einpacken. Nach dem Einchecken gehe ich nach draußen und rauche. Über der Eingangstür zur Flughalle ist das Piktogramm einer Pistole und eines Messers. Beide rot durchgestrichen. Unter dem Vordach stehen neben den Säulen große Abfallbehälter. Ein junger Mann spricht in ein Walkietalkie, geht von Tonne zu Tonne, schaut hinein und geht weiter. Auf dem Vorplatz tröpfelt aus schwarzen Schläuchen Wasser an die Wurzeln der Palmen. Noch zwei Stunden bis zum Abflug. Bevor ich in die Halle gehe, lasse ich mich unter dem Schild über der Eingangstür fotografieren. Die Plastikschläuche auf den Pflanzungen habe ich ganz zu Anfang gesehen. Aus dem Busfenster, auf dem Grünstreifen der Autobahn nach Tel Aviv. Vor zwei Wochen, nach der Ankunft. Ich wusste nicht, was sie bedeuten.
Lieber Friedrich,
in Deinen Stücken und Briefen gibt es Sätze und Gedanken, die machen jederzeit munter und wirken wie ein Schuß Wodka in die Vene, explodieren im Hirn und sofort steht das Denken in Flammen: «Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister. Sie liegen wartend unter dünner Decke / und leise hörend stürmen sie herauf». Und auch wenn ich nicht mag, was deine Dramen als Schicksalslehren lancieren, so hast du vor zweihundert Jahren dennoch gutes Kino geschrieben. Deinem absichtsvollen Griff an Herz entkomme ich nicht - du, der moralische Anstaltsleiter, siegst als Virtuose des Handwerks über meine moralischen Bedenken. Schönes, ewiges Geheimnis der Jugend: einseitig werden, wir pressen die Welt in die Sandform der Gedanken - paßt! Nein, paßt nicht. Ben Gourion, der erste Souverän des israelischen Staates, hat versucht, ein Land zu gestalten wie du einst Dramen. Ben Gourion ist tot. Ein Flugplatz trägt seinen Namen und in der Empfangshalle, hoch oben an der Wand, zeigt ein pathetischer Fries die glorreichen Bilder jener Aufbaujahre – arbeitende Menschen, neue Technik, Fortschritt, von Soldaten beschirmt. «Das Pathetische», schreibst du, «ist ein künstliches Unglück.» In Ben Gourions Flugplatz wird das Fries überdeckt von den Versprechen des Glücks – Werbetafeln für Zigarettenmarken und Autovermietungen. «Stirne gegen Stirn zeigt sich uns das böse Verhängnis.» Zeigt es sich? Das böse Verhängnis lugt hervor wie der Fries der Geschichte unter den Werbeflächen von Coca Cola und Mobiltelefonen. Unter dieser Oberfläche des Alltags könnte man es leicht vergessen, wären da nicht die gewalttätigen Einbrüche der Attentate in den kalten Frieden des Landes. Das Gleichgewicht ist labil, ein open ended game - im Augenblick Jazz. Jeder, so Amos Oz, der sagt, er sei ein Jude, ist ein Jude. Amos Oz ist Israeli.
Ich habe niemanden getroffen, der sagt, er sei Jude. Die säkularen, westlichen Israelis sagen, sie sind Israelis und jene, die sich an erster Stelle als Juden bezeichnen würden, nennen sich nicht Juden, denn die Ultraorthodoxen sind, was sie sind, weil sie in der Tradition stehen, die sie gemacht hat und als Wegstein braucht bis zum Erscheinen des Messias. Nur die Israelis sagen, sie seien Juden und meinen ein State of mind, meinen, all that jazz. Ich möchte sagen: Komm nach Israel. Es ist ein gesegnetes Land mit paradiesischen Stränden, Bergen und Wüsten, man wandelt zwischen gelebtem Mittelalter und Loveparade, Orient und Amerika. Komm nach Israel. Love, Thomas