«In Pakistan ist er ein Held»
Interview über Bertolt Brecht mit Bernhard Flieher
Bernhard Flieher: In Deutschland gab es dieser Tage eine Umfrage nach der 42 Prozent der Befragten angaben, noch nie ein Buch von Brecht gelesen zu haben. Überhaupt ist das Wissen über Brecht recht gering. Überrascht Sie das?
Thomas Oberender: Ja, das überrascht mich. Brecht ist Schulstoff, vielleicht wird er deshalb gern vergessen. Tatsache ist, dass Brecht-Stücke selten gespielt werden. Ich würde sagen, dass heute der Lyriker Brecht den Dramatiker in der Wahrnehmung überflügelt.
BF: Wie wirkt Brechts dramatisches Vermächtnis denn auf heutigen Bühnen nach?
TO: Da existiert sicher noch eine Langzeitwirkung, die wir in Spieltechniken sehen können oder in gewissen Arbeitshaltungen von jüngeren Regisseuren aus Ostdeutschland wie Thomas Bischoff, Hasko Weber oder Christian Weise. Auch ein junger Dramatiker wie der Schweizer Lukas Bärfuss bezieht sich explizit auf Brecht und Horvath. Das westdeutsche Theater veränderte sich hingegen tiefgreifend durch das Bremer Theater Kurt Hübners mit Zadek, Minks, Fassbinder und Grüber, und dann noch einmal im Reflex auf die Studentenbewegung der späten Sechziger – was damals erfunden wurde, entfaltet sich im Grunde bis heute. Brecht, und in seiner Nachfolger Heiner Kippart, Peter Weiss oder Dürrenmatt waren, zumindest formal, schon damals Theater von gestern, obgleich der junge Peter Stein mit Brechts «Mutter» Furore machte. Am identifizierbarsten wirkt Brecht sicher im Werk von Heiner Müller nach. Sein erstes Stück «Lohndrücker» war ein liegen gebliebener Brecht-Stoff und vielleicht sind seine Stücke das generell. Später haben sich Müllers Stücke eher an der Ästhetik von Brechts «Fatzer»-Fragment orientiert, aber er blieb der Dichter unter den Dramatikern, der Historiker, der Kapitalismus- und Einfühlungsskeptiker. So historisch Brecht hierzulande wirkt, erstaunlich ist, dass in Mexiko oder Indien Brechts Theatertheorie noch immer als Inbegriff der Modernität und in gewissem Sinn als avantgardistisch betrachtet wird. Das hat sich im deutschsprachigen Raum so nicht gehalten. In Pakistan ist er ein Held.
BF: Brecht war also wichtiger Impulsgeber und Ausgangspunkt. Wohin hat der Weg geführt?
TO: Die Episierung des Theaters ist in einem Maß vorangeschritten, die weit über Brecht hinausgeht. Brecht hat beim Regietheater seiner Zeit gelernt. Er hat z.B. adaptiert und theoretisiert, was Erwin Piscator auf der Bühne als episches Theater praktisch entwickelt hat. Und das Regietheater entwickelte sich seither natürlich weiter – die Neuerungen der Erzählformen stiften kaum noch die Dramatiker, sondern die Regisseure, von Robert Wilson bis Robert Lepage, von Frank Castorf bis Christoph Marthaler, Alain Platel oder Johan Simons. Mischformen aus Film, Musik und Tanz, das den Dialog verlassende Erzählen und Demonstrieren, für all das ist Brecht eine Art Vaterfigur, wobei er eigentlich viel stärker durch seine Schriften nachwirkt als durch seine so genannten Modellinszenierungen. Modern wirkt an seiner Arbeit zudem, dass er damals für die Hochkultur verdächtige und randständige Theaterformen in sein Konzept aufgenommen hat – vom Volkstheater Karl Valentins über asiatische Theatertraditionen oder die Alltagstheatralität der Jahrmärkte und Werbung. Hier war er ein Kind seiner Zeit, aber eines, das besonders viel aufgeschrieben hat und natürlich mit exquisitem Geschmack.
BF: Muss man denn einen Unterschied zwischen dem ästhetischen Brecht, dem revolutionären Erfinder neuer Theaterformen, und dem politischen Brecht, dem Moralisten, machen?
TO: Ich würde nie den politischen Brecht gegen den ästhetischen ausspielen. Die Erfindung der Lehrstücke, des epischen Theaters sind Meilensteine der Theatergeschichte und sie sind eng verbunden mit dem Moralisten Brecht. All das ist bei ihm geprägt von seinem Theaterinstinkt, einem Willen zur Wirkung und mit einem Protest gegen eine damals etablierte Theaterkultur – auch, wir sind ja in Salzburg, die von Max Reinhardt.
BF: Ist Brecht denn noch aufführbar?
TO: Es wird ein große Brecht Renaissance geben wenn seine Erben enterbt sind, d.h. wenn die Zeit sie ihrer testamentarischen Rechte enthebt. So lange bleiben sie auch die ästhetischen Erbverwalter. Das bremst die Rezeption enorm, weil es, die schreckgeweiteten Augen mancher Kollegen haben mich das gelehrt, einen Zwang zur Musealisierung gibt.
BF: Das bedeutet, dass die Renaissance von Brecht eher an ästhetischen Fragen scheitert. Inhaltlich gibt es mit Brecht keine Probleme?
TO: Doch, das ist schon auch ein Problem. Walter Benjamin spricht, bei aller Bewunderung, mit hörbarem Unbehagen von Brechts «chronischen Verlangen, die Kunst dem Verstande gegenüber zu legitimieren». In ihren Svendborger Gesprächen betonte Brecht, es käme darauf an, in Kafkas Werk die «praktikablen Vorschläge» aufzuspüren, Brecht wollte Kafka «lichten» und Benjamin war natürlich irritiert. Diese volkspädagogischen Ansätze in Brechts Werk sind mir in ihrer Formelhaftigkeit bis heute suspekt. Aber da ist auch der junge Brecht, der über die moderne Welt, vor allem die Großstadt, staunt, ohne gleich «praktikable Vorschläge» zu machen, der diagnostiziert, dem es um den Mensch und noch nicht um die Menschheit geht. Dann kommt die Zeit, in der er ein Vertriebener war, ein von den Nazis um sein Publikum und den Erfolg Betrogener. Im Kampf gegen Hitler kam es freilich auf praktikable Vorschläge an. Und dann gibt es den späten Brecht, der geläuterte Parabeln schreibt, die auch dem Gegner Recht geben. Er war ein Künstler, vom ideologischen Virus befallen, sogar sehr heftig, aber ein Künstler.
BF: Claus Peymann, Direktor des von Brecht gegründeten Berliner Ensembles, forderte Brecht-Stücke zurück auf die Bühne, weil die Welt sich immer mehr in arm und reich teile und Brecht ein Schlüssel sei, «Ökonomisierung, Globalisierung und Undurchschaubarkeit der Machtstrukturen» aufzudecken?
TO: Ich denke, wir können in seinem Werk eine Lebensweisheit, ja ein Ringen um Humanes finden, das von geradezu frühchristlichen Impulsen geprägt ist. Aber ich würde Brechts Aktualität nicht plump mit einem klassenkämpferischen Ansatz begründen, derart, dass Brecht wichtig sei, weil viele immer ärmer und ein paar wenige immer reicher werden. Wann war das anders?
BF: Brechts politischer Ansatz scheint aber doch zeitlos.
TO: Da kann man zwei Drittel der Theaterliteratur auf den Tisch legen und sagen: Das ist unglaublich aktuell. Es nützt nur nichts, wenn wir den besonderen Blick und die Sprache nicht finden, die uns vermittelt, was daran aktuell und ergreifend ist. Erklärungen veralten. Erfahrungen nicht. Brechts Erfahrungen fesseln mich mehr als seine Erklärungen. Und die sich heute so gerne auf Brecht berufen, sind nicht eben die Künstler, die mich sonderlich neugierig machen – oft ist das zu plump und formal, didaktisch und besserwisserisch, was damit verbunden ist. Aber Heiner Müllers Inszenierung von Arturo Ui ist natürlich große Kunst geworden. Ausnahmen gibt es immer wieder.
BF: Bei den Salzburger Festspielen kam es einst gar nicht zu irgendeiner Konstellation. Da wurde der Kommunist Brecht, 1951 beauftragt durch Gottfried von Einem einen Anti-Jedermann zu schreiben, gleich mal vorsorglich vergrault.
TO: Man kann sagen, dass Brecht bis heute ein Indikator der Festspielgeschichte ist. Gottfried von Einem hat, mit Brecht als Galionsfigur, eine konzeptionelle Neuakzentuierung geplant. Von Einem war der Gerard Mortier der fünfziger Jahre. Er ist über Brecht zu Fall gebracht worden. Danach begann die Karajan-Zeit. In den Salzburger Nachrichten fragte damals Gustav Canaval, «warum Bert Brecht, der zum verspäteten Landsturm des kommunistischen Avantgardistentums gehört, heute ausgerechnet auf Salzburg blickt, wohin er passt wie der Dieselmaschinist ins Oratorium.» Brecht, hier zum Inbild des Proletarischen, Technischen, Hässlichen verzerrt, schien der krasseste Gegensatz zum barocken, geistlichen und traditionalistischen Festivalmythos Salzburg. Aber das muss ja nicht so bleiben.
(Salzburger Nachrichten, Flieher)