«Wir sind Rezo»
Was tun wir unseren Kindern an, wenn sie - mit der Frische ihrer Jugend, ihrem Charme und Lächeln, nur noch so sprechen können über die Welt, die wir angerichtet haben, wie dieser Rezo in seinem Video. Ich kenne nicht mal seinen Namen und muss so sprechen, als sei ich ein alter Bekannter von ihm. Aber ich bin ein ganz neuer Bekannter, wie bald 12 Millionen andere auch. Mich hat dieser Film sehr nachdenklich gemacht. Was für ein Dokument dieses Video ist. Und was ist eigentlich passiert, dass es gedreht werden musste? Man erfährt nichts Privates über Rezo, obwohl seine Äußerungen glaubhaft und persönlich wirken. Was brachte ihn dazu? Warum wollte er auf seinem Youtube-Kanal nicht länger «nur» über Musik sprechen?
«Ch-ch-ch-ch-changes», singt Bowie, «Turn and face the strange.» Wer ist dieser Mann mit der blauen Locke? Es ist jemand, der das Spiel ändert. Wir, das sage ich im Blick auf Zeitungen wie die, in der ich jetzt schreibe, haben noch gar keine Sprache für das, was er da sagt und wie er es sagt. Wer hier von «Meinungsmache» spricht, sollte sich jedenfalls bei Rezo, Bruno Latour und den Lehrern, die Freitags mit ihren Schülern und Schülerinnen auf die Straßen ziehen, entschuldigen.
Auf Youtube hat Rezo mehr Sendezeit als der Bundespräsident in der ARD. Auf Youtube kann sich jeder Dödel Zeit nehmen, so viel er will, aber auch jeder, der weiß, dass bestimmte Botschaften Zeit und Komplexität in der Darlegung brauchen. Alle schreien und reden wahnsinnig schnell auf Youtube und wollen durch pure Energie die Betrachter binden.
Das Rezo-Video sind 55 Minuten Schlagzeilen, weil das Medium so einseitig ist und anmaßend. So wirkt der Film auch eher als Manifest denn als Dossier. Er schafft einen Flow an sorgfältig konstruierten Evidenzen, und erst mit den Fingern auf der Pausentaste wird der Film zum Dossier, der komplex und dicht mit Fußnoten, Lauftext und Filmeinspielungen argumentiert, vor allem aber durch die Form der direkten Ansprache, des «du» im Blick.
Wer diesen Film mit dem Finger auf der Pausentaste anschaut und all die Hyperlinks und Zitate liest, braucht die doppelte Zeit zum «entpacken» der Botschaft. Unsere öffentlich rechtlichen Sendeformate der Kritik machen im Grunde das Gleiche wie Rezo: Schauen Politikern auf die Finger, veröffentlichen Fakten und Panamapapiere. In Rezos Film habe ich aber den Eindruck, es geht nicht nur um die Bloßlegung des zu Verachtenden, sondern dahinter ist eine Sorge spürbar, ein anderes Denken des Ganzen. Es gibt etwas, wofür dieser Rezo ist.
Man sagt den sozialen Netzwerken Oberflächlichkeit nach, ein Denken in Blasen, in Filtern. Auf mich wirkt dieser Rezo allerdings sehr gut informiert, professionell und vernetzt in seiner Argumentation. Wenn ich Christian Lindner höre, habe ich das Gefühl, ich erlebe, wie ein Gefallsüchtigkeitsalgorithmus spricht. Rezo hingegen führt eine politisch direkte Rede ohne das Buzzword-Sprech der Politiker. Er hat die Rohheit des Mediums Youtube auf seiner Seite und wollte dieses Dokument schaffen.
Sein Film ist politischer Aktivismus. Aber er spricht nicht als Bewegung, er macht keine Wahlwerbung, sondern wirbt für die Wahl. Er streift die Schummeldecke ab, weil er einen Countdown hört, an dessen Ende, es klingt wie bei Star Wars, die Rettung der Erde steht. Und wir hören ihn nicht.
Etwas an diesem Film ist für mich die Essenz reiner Jugend: Die Wut, der Charme dieses Jungen, sein Ernst, sein Witz, das spürbare Bemühen, sich zu vermitteln, das zu Tränen rührende Finale mit einem Statement voller Pathos und Dringlichkeit. Er ist klug, jetzt nicht in all diese Talksshows zu gehen und die moderierte Sprache der anderen zu sprechen. Wenn nicht mal die «Heute Show» Witze über ihn macht, das will was heißen.
Die Jugend, schreibt Jon Savage in seinem Teenagerbuch, ist die einzig revolutionäre Kraft. Rezos Film hat die Radikalität, die auch die ganz Rechten haben. Jetzt gibt es dieselbe Einfachheit von links – mit einer völlig anderen, terrestrischen Agenda, die uns als Erdlinge begreift, als Planetenbewohner auf Zeit, die ihre Pflichten haben.
Deshalb weiß ich nicht, ob man überhaupt noch «Links» sagen kann. «Wir haben noch neun Jahre», heißt Rezos schlichte Botschaft. Neun Jahre, bis die Zerstörung der Erde irreversibel wird. Wir sollten zuhören. Nicht gleich richtigstellen. Nicht denunzieren. Turn and face the strange: Da ändert sich gerade was. Wer hier von «Meinungsmache» spricht, hat die Zeichen der Zeit nicht gehört. Der verschickt noch Tagesordnungen per Fax.
Der Erfolg von Rezos Video ist auch der von Greta Thunberg. Ihr Tunnelblick auf das Klimaproblem hat die Welt verändert. Rezo und formerfindende Youtube-Journalisten wie Tilo Jung gehen vom «gesunden Menschenverstand», schwieriges Wort, aus und setzen ihre «Naivität» als entlarvendes Instrument ein. Sie sind im Neoliberalismus aufgewachsen und ihnen wurde lange gesagt, dass sie selbst an allem Schuld sind, was passiert oder nicht passiert; und so handeln sie jetzt.
Rezo ist eine Systemfolge der Schröderjahre. Weil «die Gesellschaft» nach Lage der Fakten eben nicht gewährleistet, dass diese Spätgeborenen auf die Rettung ihrer Zukunft hoffen dürfen, bleibt nur die kleine YouTube-Ich-AG. Und die solidarisiert sich jetzt selbst. Arme SPD, das war mal euer Versprechen. Arme CDU, die jetzt versucht, grün zu werden, statt christlich. Niemand von den etablierten Parteien war bislang in der Lage, auf dieses Video adäquat Antwort zu geben. Und so werden sie, die sich auf der Überholspur drängeln, auf der Kriechspur überholt.
Rezo und die Youtuber des zweiten Klimawandelwahlwerbevideos verlangen Respekt. Warum nicht mit Demut zuhören? Da sprechen unsere Kinder zu uns. Warum das gleich wieder relativieren, zurückweisen und sagen: Das dürfen die nicht, wie Annegret Kramp-Karrenbauer meint. Die dürfen das! Rezo stellt als Gegenfrage: Könnt ihr das überhaupt? Ich kenne einzelne CDU-Abgeordnete, die im Parlament seit Jahren sehr qualifiziert für den Klimaschutz kämpfen und zur Rettung des Waldes Vereine gründen. Die Sichtweise des Rezo-Filmes ist fundamentaler - wenn diese Politik und Koalition in dieser Sache gescheitert sind, werden die daraus entstehende Problem für uns so gravierend sein, dass es wirklich disruptive Veränderungen braucht.
Nach der Schockwirkung dieser Rezo-Analyse hilft es nichts, dass die CDU und SPD ihren Standpunkt verteidigen und die verbliebenen Prozente zusammenkratzen. Es geht jetzt um die Sache: dieses Dritte, uns Gemeinsame, die Erde, das Klima - das vor allem, und die soziale Frage. Es geht nicht um im Wahlkampf fehlende Vokabeln. Es hätte nicht geholfen, mehr «zum Thema Klima und digitaler Wandel» zu sagen. Es geht nicht darum, wer abgelöst und ausgetauscht wird, sondern um die Dringlichkeit der Sachfrage. Wer sich jetzt selbst zu retten versucht, wird verlieren.
Jetzt ist Langsamkeit wichtig. Seltsam, ja, aber so viele Schritte sind zu tun. Tilo Jung schlägt vor, Journalismus staatlich zu fördern, indem die Arbeit von Journalisten gefördert wird, nicht die von Medienanstalten. Ungeheuerlich; wirklich? Ja, vielleicht. Grundeinkommen, doch, nochmal nachdenken! Turn and face the strange. Mein Eindruck ist, wenn ich mit Jugendlichen in Rezos Alter spreche, dass sie sich eine Gesellschaft ohne Angst wünschen. Dass die Angst allgegenwärtig ist, die ein alles durchdringender Wettbewerb verursacht.
Niemand hat mehr Zeit. Die Universitäten sind voll von Achtzehnjährigen, die in der Regelstudienzeit durch die Kurse eilen, um schnell den Bachelor zu machen und schnell in den Markt zu kommen. Vielleicht war diese sich immer weiter verschärfende Konkurrenz lange gut, aber die sozialen Seelenpuffer sind aufgezehrt. Es geht um gescriptete Realitäten, die uns vermessen und programmieren. Es geht um die Dominanten, Privilegierten und Geschonten, deren «Universalismus» die Welt unterjocht und aufgefressen hat. Und das hat ein neues Verständnis und eine neue Sensibilität von Hierarchien und Macht erzeugt.
Diese Verletzung, die Rezo getroffen hat, hat uns alle getroffen. Wir sind Rezo. In seinem Film hat sich die Jugend als Minderheit entdeckt. Er argumentiert, dass die Teilwählergruppe der über Siebzigjährigen größer und wahlentscheidender ist als alle unter dreißig. Ich verstehe seine Panik. Das Absurde ist, dass es diese von der Politik nicht gehörte Minderheit so riesig ist. Das spricht sehr für ein Wahlrecht ab 16.
Und ich muss mich richtig bemühen, nicht gleich von einer «Generation Rezo» zu sprechen. Aber: Lieber nichts in diese Akteure hineininterpretieren. Nicht vorwegnehmen, was sie, die sich auf diesen Wegen hörbar machen, angeblich tun oder nicht. Lieber zuhören, ihnen Raum und Respekt geben, nichts besser wissen.
Über weite Teile, nein, als Ganzes wirkt dieses Video wie ein Manifest der Klarheit. Es geht um Ehrlichkeit und Respekt. Es ist wie bei einem Familienstreit, wo nach einigem Gezeter plötzlich dem ältesten Sohn die Geduld verliert und er Klartext redet, Fakten auf den Tisch bringt und Schlüsse daraus zieht, die Papa komplett den Atem rauben. Da steht alles auf einmal in einem anderen Licht. Wir verbrauchen die Zukunft unserer Kinder. Und sie sagen es uns.
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