«Soll sich Theater auf die Gegenwart konzentrieren?»
Strategien für eine Zukunft des Theaters. Gespräch mit Christoph Schmitz über Botho Strauß, Helge Schneider, Harald Schmidt und Video auf der Bühne, Deutschlandfunk, Kultur heute
Das Schauspielhaus Bochum hat große Tage gehabt, mit Peter Zadek als Intendant, Claus Peymann und Leander Haußmann, wobei das Wirken Haußmanns eher zwiespältig aufgenommen wurde, die Zuschauer jedenfalls brachten nur noch eine Ein-Drittel-Auslastung. Dann kam vor vier Jahren Mathias Hartmann nach Bochum und baute auf, mit großem Erfolg. Wenn man sich das aktuelle Repertoire des Schauspielhauses Bochum anschaut, dann besteht der weitaus größte Teil aus Gegenwartsstücken von Christian Krachts «1979», über Neil La Butes «Das Maß der Dinge» bis hin zu Stücken von Altmeistern wie Tankred Dorst und Sam Shepard. Also weniger das klassische Repertoire als Gegenwartsdramatik. Ist das eine Strategie für die Zukunft? Das habe ich in unserer Sommerreihe «Theater Morgen» den Chefdramaturgen des Schauspielhauses Bochum gefragt, Thomas Oberender.
Thomas Oberender: Ich glaube, man kann keine pauschalen Rezepte formulieren, denn jedes Theater reagiert zunächst auf die Stadt und auf die Geschichte des eigenen Hauses und in gewissem Sinne auf eine bestimmte Form von Gesellschaft, die es vorfindet und auf die es mit seinem Spielplan antwortet. Wir haben das Theater für diverse Theatersprachen geöffnet Künstler, die lange in Bochum nicht aufgeführt wurden, wieder auf die Bühne gebracht.
Christoph Schmitz: Zum Beispiel?
TO: Zum Beispiel Botho Strauß, der dort fast 15 Jahre nicht gespielt wurde. Wir haben versucht, auch der jungen Dramatik gute Produktionsmöglichkeiten zu bieten bis ins große Haus. Wir haben signalisiert, dass es uns um eine Modernisierung des Spielplanes, aber auch unseres Theaterbewusstseins geht, wofür wir ein Theater machen, das jedes Jahr vielgestaltiger wird und sich nicht auf eine Formel reduzieren lässt, sondern möglichst widersprüchliche und einander geradezu ausschließende Theaterästhetiken an einem Haus vereint.
CS: Damit jeder etwas bekommt oder damit alle ein großes Spektrum erkennen?
TO: In einer Stadt wie Bochum muss man in einem Haus Theater für alle anbieten. Dennoch würde ich sagen, dass wir erst in zweiter Linie ans Publikum gedacht haben, in erster Linie an unsere eigenen Schauspieler und an unsere Vorliebe für eine bestimmte Art von Literatur oder Künstlernatur. Daraus entstehen dann Konstellationen, die zu einigen überraschenden Engagements führen.
CS: Beispielsweise?
TO: Dass wir Helge Schneider gewonnen haben, bei uns zum ersten Mal in seiner künstlerischen Karriere ein dramatisches Werk aufzuführen, das er für uns geschrieben hat. Wir haben im Laufe unserer Arbeit im Ruhrgebiet gemerkt, dass uns dieser Künstler immer mehr interessiert, dass er eine Geschichte hat, die sich mit dem Ruhrgebiet verbindet und dass er in dieser provisorisch, musikalischen Ästhetik innerhalb des Repertoires eine wundervolle Intervention darstellt, die wir für produktiv und als anregend, auch aus der Perspektive unseres Ensembles bewerten. Helge Schneider ist ein weiser Mann, der letzte Dadaist, ein Konzeptkünstler mit einem großen Herz, an ihm kann man wachsen.
CS: Zur gleichen Zeit gibt es dann auch das Programm, «Pizza, Pazza» ein italienischer Liederabend oder ein Beatlesabend. Das gehört dann auch mit zu dem umarmenden Programm, würde ich mal sagen, also die Nichttheatergänger dann auch für die Goethes zu erwärmen?
TO: Für den erwähnten Abend gibt es gar kein Stück im herkömmlichen Sinne, sondern musikalische Schauspieler gibt, die Lust hatten, soetwas zu entwickeln. Der Abend hat bei uns im Theater unter Tage begonnen und endete in den Kammerspielen und inzwischen gibt es ein Publikum, dass bei bestimmten Liedern die Feuerzeuge zückt und mitsingt. Das hat sich zu einer Art von Happening entwickelt.
CS: Kommen denn jetzt mehr Leute ins Theater, mehr als 37 Prozent?
TO: Wir haben die Spielzeit gerade beendet und das Bochumer Schauspielhaus hat unter der Intendanz Hartmann in diesem Jahr seinen den bestehenden Publikumsrekord gebrochen. Es gehen im Augenblick so viele Zuschauer pro Saison ins Haus wie nie zu vor, auch zu Peymanns Zeiten nicht. Wir hatten in dieser Spielzeit über 256.000 Zuschauer.
CS: Sie als Chefdramaturg und auch Schauspielchef Mathias Hartmann setzen auf den Prominenteneffekt. Das kann man nicht so verallgemeinern, aber das ist eben so geschehen, dass Harald Schmidt in Samuel Becketts «Warten auf Godot» seinen Auftritt hatte und auch nach wie vor hat. Ist das auch in unserer Mediengesellschaft, die über Prominente funktioniert derzeit, ein probates Mittel oder ist das nur etwas Kurzfristiges, was im Moment so eine Art Verschnaufpause oder ein Aufatmen liefern kann?
TO: Wir würden das nicht mit Stefan Raab machen. Wir waren uns über die Wirkung, die die Besetzung von Harald Schmidt als Lucky in «Warten auf Godot» hat, im so ungefähr Klaren und Harald Schmidt ist ein klassisch ausgebildeter Schauspieler, an dessen Seite in dieser Aufführung Michael Maertens Wladimir, Fritz Schediwy und Ernst Stötzner spielen. Es ist diese Kunstfigur Harald Schmidt, die uns als ideale Besetzung für die Rolle des Lucky erschien. Ich glaube daraus kann man kein Rezept machen - es wäre falsch zu sagen, Theater müssen jetzt mit Prominenten zusammenarbeiten, um die Wahrnehmung ihrer Produktion in der Öffentlichkeit zu vergrößern. Aber manchmal macht es künstlerisch Sinn und hilft auf vielen Ebenen.
CS: Mit Harald Schmidt ist jedenfalls das Gegenwartsmedium Fernsehen ins Theater hineingekommen als Person. Die visuellen, elektronischen Medien sind schon länger präsent, der Film, das Video vor allem. Mathias Hartmann hat beispielsweise in «1979» von Christian Kracht das Video stark integriert. Ist das Video, sagen wir, inhaltlich und ästhetisch notwenig heute, um gegenwärtiges, gutes Theater zu machen?
TO: Das Video ist ein erzählerisches Mittel, das im Theater immer größere Bedeutung erhalten wird, weil es als Medium selbst bestimmte theatralische Aspekte besitzt - es produziert seine Bilder in Echtzeit, es kann daher anders verwendet werden als Filmeinspielungen. Nur dadurch wird das Video wirklich interessant - es eröffnet sozuasagen eine zweite Szene und eine zweite Liveperspektive innerhalb des Bühnengeschehens, die mit dem konventionellen Aspekt der Darstellung durch die Schauspieler in Echtzeit rivalisiert. Das prädestiniert das Video für die Vermittlung von Erfahrungen, die mit einer bestimmten Art von neuerer Dramatik eng verbunden ist, in der letztlich der Wahrnehmungsvorgangs selbst in den Vordergrund rückt und dramatisiert wird. Man kann dieses Spiel mit unserem Sehen auch in der bildenden Kunst beobachten und insofern ist das Video ein Livemedium, das eine zweite Perspektive auf und in das Geschehen einführt. Aber auch das muss passen und ist kein Rezept. Wenn solche Technologien zum Einsatz kommen, dann doch immer auch, weil in ihnen noch eine andere Wahrheit steckt. Weil sie ein Mittel für etwas sind. Und als solche Mittel sind sie sehr interessant.
CS: Am Schluss eine große Frage, eine Gretchenfrage vielleicht über die Zukunft des Theaters. Welche Funktion kann das Theater mittelfristig in der Gesellschaft, für die Gesellschaft haben?
TO: Die Situation von Deutschland ist eine historisch ganz besondere, es ist im Grunde ein Land, das, man kann das bei Helmut Plessner nachlesen, eher über die Kultur, die wir teilen, zur Nation wurde als durch das Recht, das wir teilen. Nationale Identität hat in Deutschland historisch viel mit einer Form von Kultur zu tun, die nicht allein durch den Markt geprägt wird, sondern mäzenatisch oder bürgerschaftlich getragen wurde. Unsere Identität ist an eine bestimmte Form von bürgerlicher Selbstvergewisserungsöffentlichkeit geknüpft, die u.a. auch verbunden ist mit der Existenz großer überregionaler Zeitungen, mit einem letztlich staatlich subventionierten Fernsehen und Rundfunk, mit dem Museumswesen und natürlich auch mit einem Stadttheatersystem. Meiner Meinung nach sollten wir uns genau überlegen, ob wir dasaufs Spiel zu setzen. Der Gedanke von Christina Weiss, das deutsche Stadttheatersystem zum Weltkulturerbe zu erklären klingt im ersten Moment ironisch oder humoresk, wenn man es genauer betrachtet, ist das ein Vorschlag, der sehr in die Tiefe des Problems führt. Ich glaube, dass wir mit diesem öffentlich subventionierten Kulturbereich ein Kapital besitzen, das langfristig sehr wertvoll ist und das wir eigentlich im Augenblick so leichtfertig betrachten. Man muss dabei ja auch immer bedenken, dass wir letztlich über 0,8 Prozent des Gesamtetats, der in Deutschland öffentlich ausgegeben wird, sprechen, wenn wir im Hinblick auf diese kulturellen Institutionen sprechen. Es ist also in der Absolutzahl eher wenig, was dafür ausgegeben wird. Wenn wir das einmal kurz ignorieren, dann ist es zudem so, dass die deutsche Tragödie in gewissem Sinne in ihrer Fixierung auf Hitler, auf das, was ab 45 in Deutschland passiert ist, besteht. Aber es gibt ein kulturell viel älteres, nationales Selbstbewusstsein, wie es sich eben auch im deutschen Theatersystem ausdrückt, dessen Wurzeln in ein Deutschland vor Hitler zurückführen und die Aufrechterhaltung dieser heilsamen Rückbindungen an die eigene Geschichte ist weniger luxuriös, als sie scheint und viel essentieller in der Wirkung, als wir das oftmals denken.
CS: Thomas Oberender, Chefdramaturg am Schauspielhaus Bochum über Strategien für die Zukunft des Theaters.
Schauspielhaus Bochum, Zuschauerraum © Birgit Hupfeld